L 21 R 597/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 49 R 108/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 R 597/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.07.2020 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Berufungsverfahren.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über eine Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Klägerin ist im Jahr 1964 geboren. Sie ist wegen ihrer psychischen Erkrankungen bereits seit über zwei Jahrzehnten in fachärztlicher Behandlung. Sie war zuletzt als Fleisch- und Wurstverkäuferin beschäftigt. Ab Dezember 2016 war sie arbeitsunfähig erkrankt und erhielt bis April 2018 Krankengeld. Danach bezog sie bis zum Juli 2019 Leistungen nach dem SGB III. Vom 04.04. bis 02.05.2017 nahm sie an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der C-Klinik in A teil; als Diagnosen wurden dort eine rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig mittelgradige Episode), eine Angststörung und eine Migräne mit Aura genannt. Von dort wurde sie nach dem Bericht als arbeitsunfähig, aber nicht als erwerbsgemindert entlassen. Mit Bescheid vom 06.02.2018 wurde bei ihr ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt; als Beeinträchtigungen waren seelische Erkrankung und Migräne festgestellt worden.

Die Klägerin beantragte im Juni 2018 bei der Beklagten eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zur Begründung verwies sie auf „Psych. Erkrankungen, Depressionen usw.“. Die Beklagte ließ die Klägerin im August 2018 gutachterlich von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie K untersuchen. Die Gutachterin diagnostizierte eine „Angststörung, fast vollständig remittiert, bei ängstlicher Persönlichkeitsstruktur“ und sah die Erwerbsfähigkeit für die letzte ausgeübte Tätigkeit als Verkäuferin in der Wurst- und Fleischabteilung eines Supermarktes als nicht eingeschränkt an. Es bestünden lediglich qualitative Einschränkungen hinsichtlich der geistig-psychischen Belastbarkeit. „Dies sollte keine Verantwortung und keine Anforderungen an das Anpassungsvermögen beinhalten.“ Die Klägerin befinde sich seit ca. 20 Jahren aufgrund wiederkehrender Ängste, insbesondere in Belastungssituationen, in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Die depressive Symptomatik sei jetzt nach der Rehabilitation im Jahr 2017 abgeklungen, die ängstlichen Symptome träten hauptsächlich in Stresssituationen auf. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 10.09.2018 ab. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch; sie leide an einer generalisierten Angststörung sowie an Migräne mit Aura. Die Beklagte holte einen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters L aus Oktober 2018 ein. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin zuletzt „Angst und Depression, gemischt“. Nach erneuter Überprüfung wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2019 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhoben. Sie sei aufgrund der generalisierten Angststörung sowie der Migräne mit Aura nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Das Sozialgericht holte Befundberichte von dem Neurologen und Psychiater L, der Psychologin Frau B und dem Allgemeinmediziner Herrn R aus April, Mai bzw. Juli 2019 ein. Diese sahen die Erwerbsfähigkeit der Klägerin aufgrund der psychischen Erkrankungen entweder als eingeschränkt an oder sich ohne eine konkrete Begutachtung nicht in der Lage, dies hinreichend zu beantworten. Die Beklagte regte die Einholung eines aktuellen neurologisch-psychiatrischen Fachgutachtens an.

Das Sozialgericht hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens. Der Sachverständigen V (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie) hat in seinem Sachverständigengutachten vom 02.09.2019 bei der Klägerin eine komplizierte Migraine accompagnée sowie Angst und Depression gemischt diagnostiziert. Die Ängste hätten ein solches Ausmaß, dass aktuell und bis auf weiteres keine Berufstätigkeit zugemutet werden könne. Die Klägerin sei nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug über einen Radius zu steuern, der mehr als zwei bis drei Kilometer von der gewohnten Umgebung abweiche. Sie sei nicht in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Alle darüber hinausgehenden Anforderungen würden mit Zuständen innerer Panik belegt, die dann neben Beklemmung und Herzrasen mit heftigen Durchfällen verbunden seien. Darüber hinaus seien Intensität und Ausmaß der Migräneattacken zu beachten. Diese träten in Rhythmen von etwa acht bis zehn Tagen und mit einer Dauer von jeweils drei Tagen auf, in denen irgendeine Teilnahme am Sozialleben oder Arbeitsprozess gar nicht möglich sei. Die bisher durchgeführten Behandlungen seien völlig insuffizient und zum Teil falsch gewesen. Der Angst hätte man mit konkreten Expositionen bzw. einer Angsttherapie begegnen müssen, die Migräne werde mit Paracetamol falsch behandelt. Vorstellbar sei bei stringenten und konsequenten Behandlungsmethoden ein Leistungsvermögen von mehr als drei bis maximal sechs Stunden; dies sei aber vom Ergebnis der Behandlung abhängig und deshalb nicht frei von spekulativem Charakter.

Die Beklagte hielt die Feststellungen des Sachverständigen zu den qualitativen und insbesondere quantitativen Leistungseinschränkungen nicht für objektivierbar. Das Ergebnis der Begutachtung – so Frau D in ihrer ärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 22.11.2019 - trage nicht den erhobenen Befunden Rechnung. Die Ergebnisse seien aufgrund des Untersuchungsverlaufs nicht nachvollziehbar, sie beruhten letztlich allein auf den subjektiven Angaben der Klägerin. Der Untersuchungsbefund habe eine ausgeglichene Stimmungslage beschrieben mit regelrechtem Antrieb und regelrechten kognitiven Funktionen. Im Gutachten von Frau K im Verwaltungsverfahren sei ebenfalls noch eine ungestörte Alltagsbewältigung beschrieben worden mit selbständiger Erledigung des Haushaltes, Einkäufen, Spaziergängen mit dem Hund und Autofahrten in die Stadt. Der Migränekopfschmerz begründe lediglich kurzfristige Zeiten der Arbeitsunfähigkeit; die Klägerin habe bei der Untersuchung im Verwaltungsverfahren Migräneanfälle alle zwei Wochen angegeben. Angepasste Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien für sechs Stunden und mehr als möglich anzusehen.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.12.2019 hat der Sachverständige V hierzu ausgeführt: Die Tatsache, dass die Klägerin im Rahmen der geschützten Umgebung der Praxis bei entsprechend behutsamer Exploration keine Angst gezeigt und emotional stabil gewesen sei, schließe nicht aus, dass die Ängste unter externer Belastung auftreten. Er habe die Schilderung der Symptome der Klägerin hinsichtlich Qualität und Quantität auf Inkonsistenzen überprüft. Die Beklagte habe die völlig insuffiziente Behandlung nicht gewürdigt.

Die Klägerin hat beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 10.09.2018 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2019 die Beklagte zu verurteilen, Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Gerichtsbescheid vom 09.07.2020 hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 10.09.2018 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall im Juni 2018 ab dem 01.01.2019 befristet bis zum 30.06.2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin habe die Beklagte zu 75% tragen.

Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Die Klägerin habe einen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.12.2018 (gemeint, so der Urteilstenor: 01.01.2019) befristet bis zum 31.05.2021. Die Fähigkeit der Klägerin, durch erlaubte Erwerbstätigkeit ein Arbeitsentgelt in nicht ganz unerheblichem Umfang zu erzielen (Erwerbsfähigkeit), sei jedenfalls seit Antragstellung durch Gesundheitseinschränkungen auf psychiatrischen Fachgebiet beeinträchtigt.

Zur Überzeugung der Kammer stehe fest, dass die Klägerin ab dem Zeitpunkt der Antragstellung wegen Krankheit bzw. Behinderung nur noch in der Lage gewesen sei, unter drei Stunden täglich Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Akkordarbeit und Arbeiten unter Zeitdruck sowie an gefährlichen Maschinen, Leitern zu verrichten. Diese Beurteilung des Leistungsvermögens ergebe sich unter Berücksichtigung aller Einzelumstände aus einer Gesamtschau des über den Gesundheitszustand der Klägerin vorliegenden medizinischen Gutachtens sowie der ergänzende Stellungnahme. Das Leistungsvermögen der 1964 geborenen Klägerin sei im gerichtlichen Verfahren durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens überprüft worden. Der neurologisch-psychiatrische Sachverständige V habe festgestellt, dass gerade in quantitativer Hinsicht eine bedeutsame Leistungseinschränkung bestehe. Die Klägerin leide an einer komplizierten Migräne accompagnée und Angst und depressiver Störung gemischt. Die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen entsprächen allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben und das Ergebnis trage dem Untersuchungsverlauf Rechnung. Nach Auswertung des bei der Begutachtung erhobenen Befundes und der in den Akten befindlichen medizinischen Unterlagen sei der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer schlüssig und widerspruchsfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin nur noch in der Lage gewesen ist, unter drei Stunden täglich körperliche Arbeiten zu verrichten unter Berücksichtigung der bereits vorerwähnten qualitativen Einschränkungen. Der Sachverständige habe auch ausführlich und nachvollziehbar erläutert, wie sich das Angst-Phänomen bei der Klägerin darstelle, welche Faktoren die Situation verstärkten, wie die hochfrequentierte Migräne zusätzlich wirke und warum er in der Zusammenschau zu dem Schluss der quantitativen Leistungsminderung komme. Dies sei nachvollziehbar, insbesondere, da das multifaktorielle Geschehen durch die einzelnen Faktoren gegenseitig beeinflusst werde und sich potenziere. Die Kammer sei daher überzeugt, dass der Leistungsfall einer vollen Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI jedenfalls zum Zeitpunkt der Antragstellung eingetreten sei.

Soweit die Beklagte einwende, die Schilderung des Tagesablaufs spreche gegen die Angststörung, werde auf die Beschreibung des Angstphänomens verwiesen. Die Klägerin könne sich lediglich in einem (geschützten) kleinen Radius bewegen. Gehe sie darüber hinaus, flottierten die Grundängste so stark, dass es zu intensiven körperlichen Reaktionen komme. Weder Pkw noch öffentliche Verkehrsmittel könnten darüber hinaus benutzt werden. Auch der Hinweis der Beklagten auf Arbeitsunfähigkeit bei Migräneattacken gehe nach Auffassung der Kammer fehl. Die Migräneattacken hätten eine solche Häufigkeit laut Angaben des Gutachters, dass diese nicht mehr durch Arbeitsunfähigkeitszeiten gedeckt bzw. aufgefangen werden könnten. Zu berücksichtigen sei insgesamt das multifaktorielle Geschehen, dass dann in der Gesamtschau zu dem nachvollziehbaren Ergebnis der vollen Erwerbsminderung führt.

Die der Klägerin zuerkannte Rente sei nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI zu befristen. Demnach würden u.a. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet. Die Rentengewährung erfolge nur unbefristet, wenn es unwahrscheinlich sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden können. Dies sei nicht der Fall. Der Sachverständige habe festgestellt, dass letztlich auch die Migränebehandlung bisher unzureichend sei und auch die stattgehabte Psychotherapie letztlich am konkreten Behandlungsbedarf vorbeigegangen sei. Der Sachverständige habe prognostisch eine Erwerbsfähigkeit für bis sechs Stunden als möglich angesehen. Dies werde nachzuprüfen sein, in einem Weiterbewilligungsverfahren. Aktuell könne jedenfalls auch nach den Äußerungen des Sachverständigen nicht von einer dauerhaften Erwerbsminderung ausgegangen werden.

Die Befristung erfolge nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen und den seit Eröffnung des Gutachtens bekannten vom Sachverständigen vorgeschlagenen Behandlungsstrategien sei die Erwerbsminderungsrente auf 30 Monate zu befristen. Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit würden nach § 101 Abs. 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Ausgehend von einem Leistungsfall im Juni 2018 sei frühester Leistungszeitpunkt daher der 01.01.2019.

Die Kostenentscheidung beruhe auf § 193 SGG und berücksichtige, dass eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht bewilligt worden sei, der Sachverständige allerdings einen Leistungsfall ab Antragstellung angenommen habe.

Gegen den ihr am 13.7.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 21.7.2020 Berufung eingelegt.

Zur Begründung wiederholt sie (fast wortgleich) die Ausführungen ihrer Ärztin Frau D aus ihrer ärztlichen Stellungnahme für die Beklagte vom 22.11.2019. Auf den Hinweis des Senates, dass zu diesen Ausführungen der Sachverständige V in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.12.2019 bereits erwidert hatte, hat der Beklagte auf eine weitere Stellungnahme von Frau D vom 11.12.2020 verwiesen, die dort ihre vorangegangene Stellungnahme vom 22.11.2019 im Wesentlichen wiederholt und ergänzend ausführt, bezüglich der Migräne erfolge keine medikamentöse prophylaktische Behandlung.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.07.2020 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe die Beklagte zu Recht zur Gewährung einer befristeten vollen Erwerbsminderungsrente verurteilt. Da sie weiterhin außerstande sei, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, werde sie rechtzeitig die Weiterbewilligung der Rente über den 30.06.2021 hinaus beantragen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senates durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung des Senates waren.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem die Beteiligten sich hiermit übereinstimmend einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, in der Sache indes nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Beklagte auf die zulässig erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 56, § 54 Abs. 1 Satz 1 Fall 1, Abs. 4 SGG) zu Recht verurteilt, der Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall im Juni 2018 ab dem 01.01.2019 befristet bis zum 30.06.2021 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

1. Ob die Klageabweisung im Übrigen zu Recht erfolgte und insbesondere die Erwerbsminderungsrente zu Recht als Zeitrente ausgeurteilt wurde, hatte der Senat nicht zu entscheiden, weil die Klägerin keine Berufung erhoben hat.

2. Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden und dargelegt, dass die Klägerin im ausgeurteilten Umfang einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung hat.

Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Ferner müssen sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI) haben sowie vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI).

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind erfüllt. Die Klägerin ist ferner voll erwerbsgemindert. Denn sie ist wegen Krankheiten auf nicht absehbare Zeit außerstande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Die Klägerin leidet unter Migräne und Depression. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Die genauere Differentialdiagnose der Depression ist nicht entscheidend. Entscheidend ist im Recht der Erwerbsminderung vielmehr, wie sich diese Krankheiten auf das Erwerbsvermögen der Klägerin auswirken. „Maßgebend für die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens ist bei psychischen Störungen – ebenso wie bei primär somatisch begründeten Erkrankungen – nicht die konkrete Diagnose, sondern Art, Umfang und Dauer der Symptomatik und deren Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit im Erwerbs- leben“ (so zutreffend Deutsche Rentenversicherung, Leitlinie: Beurteilung, Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen, August 2021 incl. Update 2018, S. 24; abrufbar unter www.deutsche-rentenversicherung.de).

Das Sozialgericht hat zu Recht ausgeführt, dass diese Erkrankungen der Klägerin ihre Erwerbsfähigkeit aufheben. Der Senat nimmt auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug und macht sich diese zu Eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Das Vorbringen der Beklagten im Berufungsverfahren ändert daran nichts, weil sie im Wesentlichen nur ihr bisheriges Vorbringens wiederholt, zu dem der Sachverständige V in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.12.2019 jedoch bereits Stellung genommen und mit der sich wiederum das Sozialgericht in seinen Entscheidungsgründen auseinandergesetzt hat. Die Beklagte wiederum hat sich weder mit den Ausführungen des Sachverständigen V noch des Sozialgerichts auseinandergesetzt, sondern ist fast unverändert bei ihrem bisherigen Vortrag verblieben. Sie hat überdies die im erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte nicht gewürdigt.

Bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen ist jedoch eine längsschnittliche Betrachtung  angezeigt, um die Entwicklung der Erkrankung und ihre Auswirkungen auf das Leben und das Erwerbsvermögen der bzw. des Erkrankten erkennen und nachzeichnen zu können. „Die sozialmedizinische Beurteilung kann sich jedoch nicht nur auf den aktuellen psychischen Befund stützen, sondern muss in der Zusammenschau aller erhobenen Befunde und Informationen erfolgen, auch unter Berücksichtigung des Längsschnittes“ (so zutreffend Deutsche Rentenversicherung, Leitlinie: Beurteilung, Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen, August 2021 incl. Update 2018, S. 33; abrufbar unter www.deutsche-rentenversicherung.de). Eine solche längsschnittliche Betrachtung hat die Beklagte nie vorgenommen. Bereits deshalb greift ihr Hinweis auf ein abweichendes Untersuchungsergebnis im Verwaltungsverfahren zu kurz.

Die Klägerin ist wegen ihrer psychischen Erkrankung der Depression bereits seit mindestens zwei Jahrzehnten in fachärztlicher Behandlung. Ihr behandelnder Neurologe und Psychiater Herr L hat in seinem ausführlichen sechsseitigen Befundbericht vom 18.04.2019 dargelegt, dass er die Klägerin bereits seit dem Jahr 1997 fachärztlich behandelt. Seine Wiedergabe von rund 40 Vorstellungen der Klägerin bei ihm belegt, dass die Klägerin durchgehend (jedenfalls) seit dem Jahr 1997 unter Ängsten und Depressionen litt, später – ab dem Jahr 2000 – sodann auch unter Migräne. Ergänzend dazu hat die Diplom-Psychologin Frau B in ihrem Bericht vom 05.05.2019 über die Ergebnisse der ambulanten Verhaltenstherapie in der Zeit von März 2017 bis November 2018 berichtet. Auch daraus ergibt sich anschaulich der Leidensdruck der Klägerin aufgrund ihrer neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen. Dasselbe gilt für den Befundbericht des Allgemeinmediziners Herrn R vom 24.06.2019, bei dem die Klägerin fortlaufend ab Januar 2018 „ca. alle 2 Wochen“ vorsprach und über Kopfschmerzen, Angstzustände und Schafstörungen klagte.

Der Leidensdruck der Klägerin wird ferner durch den Rehabilitationsentlassungsbericht der C-Klinik A vom 10.05.2017 belegt. Dort wurde die Klägerin „aufgrund der psychischen Instabilität“ arbeitsunfähig entlassen. Die Erwerbsfähigkeit sei zwar gegeben; begründet wurde diese Einschätzung indes nicht. Das Erwerbsvermögen sei aber „erheblich gefährdet“. Die Klinik diagnostizierte neben der Angststörung und der Migräne „eine rezidivierende Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode“.

Von diesen übereinstimmenden Befunden zu den Auswirkungen der Erkrankungen der Klägerin weicht allein Frau K in ihrem Gutachten für die Beklagte im Verwaltungsverfahren ab. Eine Depression hat sie als einzige gar nicht diagnostiziert. Hinsichtlich der Angsterkrankung sei eine vollständige Remission gegeben. Diesen letztlich punktuellen „Ausnahmebefund“ konnte der Sachverständige V in seinem Sachverständigengutachten aber nicht bestätigen: die Beklagte selbst hatte angeregt, ein aktuelles Sachverständigengutachten einzuholen. Er hat vielmehr an die vorgenannten Befunde der behandelnden Ärzte sowie der Psychologin angeknüpft und diese bestätigt. Er hat insbesondere nachvollziehbar ausgeführt, warum sich die Angststörung in der geschützten Untersuchungssituation nicht zeigte.

Zu berücksichtigen ist dabei zur Überzeugung des Senates, dass V ein sehr erfahrener Sachverständiger ist, der insbesondere für die nordrhein-westfälische Sozialgerichtsbarkeit seit mehreren Jahrzehnten sozialmedizinische Gutachten erstellt. Richtig ist, dass seine Ausführungen inhaltlich knapp sind. Gleichwohl lässt sich aus ihnen schlüssig herleiten, dass er – im Gegensatz zu der Beklagten – alle aktenkundigen medizinischen Vorbefunde und Berichte berücksichtigt und gewürdigt hat. Wie sich die Erkrankungen auf das Erwerbsvermögen der Klägerin auswirken, hat er zwar straff, aber nachvollziehbar dargelegt. Dass er den Beschwerdevortrag der Klägerin „ungeprüft“ übernommen habe, wie dies die Beklagte mutmaßt, ergibt sich aus dem Gutachten nicht. Angesichts der Erfahrung des Sachverständigen ist diese Unterstellung der Beklagten auch lebensfremd. Dass er eine Validierung des Vorbringens der Klägerin vorgenommen hat, hat der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme zudem ausdrücklich bestätigt.

Grundsätzlich muss die Beurteilung eines Sachverständigen nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand erfolgen, dessen Ausgangsbasis die Fachbücher und Standardwerke insbesondere zur Begutachtung im jeweiligen Bereich, die jeweiligen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und anderer aktueller Veröffentlichungen sind (BSG vom 09.06.2006 – B 2 U 1/05 R). Auf seiner in seinem Gutachten angegebenen, frei abrufbaren Praxis-Homepage verweist der Sachverständige V auf mehrere eigene Fach-Veröffentlichungen („diverse Fach-Artikel in den Bereichen Psychiatrie und Psychopharmakologie, (…), Herausgeber und Co-Autor "Angst-Zwang-Depressionen““), so dass der Senat keinen Zweifel daran hat, dass der Sachverständige den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand beachtet und diesem entsprochen hat. Testpsychologische Zusatzuntersuchungen zur Beschwerdevalidierung wären ggf. wünschenswert (dazu Keller jurisPR-SozR 20/2020 Anm. 6), sind aber nur eines von mehreren Mitteln zur Beschwerdevalidierung (vgl. Keller a.a.O.) und für die Verwertbarkeit eines Sachverständigengutachtens nicht zwingend und ausnahmslos erforderlich (vgl. auch Deutsche Rentenversicherung, Leitlinie: Beurteilung, Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen, August 2021 incl. Update 2018, S. 41 f.; abrufbar unter www.deutsche-rentenversicherung.de: „Als Ergänzung zur Anamnese und Befunderhebung stehen psychodiagnostische Verfahren zur Verfügung, die im Rahmen der klinischen Psychologie sowie der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie entwickelt wurden. (…) Ein unreflektierter, routinemäßiger Einsatz solcher Verfahren ist abzulehnen.“).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung der Beklagten keinen Erfolg hatte.

4. Gründe, im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, lagen nicht vor.

 

Rechtskraft
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