L 9 AS 2098/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AS 714/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 2098/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Mai 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Streitig ist die Gewährung höherer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Die Kläger beziehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II vom Beklagten. Die Klägerin zu 2. ist die Mutter des 1985 geborenen Klägers zu 1. Die Kläger bewohnen gemeinsam eine Wohnung in S, für die nach der Mietbescheinigung der Vermieterin vom 02.02.2016 (offenbar auch weiterhin) Mietkosten in Höhe von insgesamt 381,- €, davon 297,- € Kaltmiete sowie Heizkosten von 42,- € und sonstige Nebenkosten von 42 € anfallen.

Mit Bescheiden vom 24.09.2018 (Klägerin zu 2.) und vom 19.10.2018 (Kläger zu 1.) wurden den Klägern jeweils für die Zeit von Oktober 2018 bis September 2019 monatliche Leistungen in Höhe von 606,50 € bewilligt (Regelbedarf 416,- €, hälftige Kosten der Unterkunft von 190,50 €, davon Grundmiete 148,50 €, Heizkosten 21,- €, Nebenkosten 21,- €).

Mit Änderungsbescheiden vom 24.11.2018 bewilligte der Beklagte den Klägern jeweils 614,50 € für die Monate Januar 2019 bis September 2019 und führte dazu aus, zum 01.01.2019 würden die Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhaltes neu festgesetzt. Dementsprechend sei ein monatlicher Regelbedarf von 424,- € berücksichtigt worden. Dagegen erhoben die Kläger mit Einschreiben vom 24.12.2018 Widerspruch mit der Begründung, insbesondere die Miet- und Nebenkosten inklusive Heizung, Wasser, Strom etc. seien viel zu gering, eine ordentliche Wohnung könne aufgrund der total überteuerten Mieten in Deutschland nicht angemietet werden, obwohl sie dringend eine andere Wohnung bräuchten. Die UN prangere die Lebensbedingungen an, unter denen sie leiden müssten. Das Widerspruchsschreiben ging ausweislich des Eingangsstempels des Beklagten dort am 02.01.2019 ein. Die Widersprüche wurden mit Widerspruchsbescheiden vom 13.02.2019 als unzulässig zurückgewiesen mit der Begründung, der Bescheid sei am 24.11.2018 zur Post gegeben worden und gelte folglich am 27.11.2018 als bekanntgegeben. Die Widerspruchsfrist habe daher am 27.12.2018 geendet, das Widerspruchsschreiben sei erst am 28.12.2019 per Einschreiben, also nach Ablauf der Widerspruchsfrist zur Post gegeben worden.

Am 18.03.2019 haben die Kläger dagegen Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben mit der Begründung, sie hätten die Bescheide vom 24.11.2018 erst am 30.11.2018 erhalten. Eine Einsendung am 28.12.2018 per Einschreiben sei damit ausreichend für die Fristwahrung gewesen. Auch seien mit Blick auf das Recht auf Existenzsicherung Widerspruchsfristen irrelevant. Gleichzeitig würden sie rückwirkend Nachzahlungen beantragen für den gesamten Bezugszeitraum von Harz IV seit der ersten Antragstellung, auch für die Zeit ab 2013 vom Jobcenter H.

Ein dezidierter Klagantrag ist nicht gestellt worden.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Wenn die Bescheide erst am 30.11.2018 zugegangen wären, hätte die Widerspruchsfrist am 31.12.2018 geendet. Die erst am 03.01.2019 bei ihr eingegangenen Widerspruchsschreiben seien damit verfristet gewesen. Im Übrigen seien die Bescheide auch rechtlich nicht zu beanstanden gewesen, nachdem lediglich die neuen Regelbedarfe für die Zeit ab 01.01.2019 in die Berechnung eingestellt worden seien. Soweit eine rückwirkende Nachzahlung höherer Leistungen außerhalb des Bewilligungszeitraums Januar bis September 2019 begehrt werde, sei die Klage unzulässig.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.05.2021 abgewiesen. Die Klage sei unzulässig, da es an einem ordnungsgemäßen Vorverfahren fehle. Zu den besonderen Sachurteilsvoraussetzungen der Anfechtungsklage zählten das Vorverfahrenserfordernis des § 78 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und die Einhaltung der Klagefrist § 87 SGG. Vor Erhebung der Anfechtungsklage müsse der Kläger grundsätzlich ein Vorverfahren geführt haben. Gemäß § 84 Abs. 1 SGG sei insoweit der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Die Frist sei durch die Widersprüche, welche dem Beklagten am 03.01.2019 zugegangen seien, nicht gewahrt. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Sinne von § 67 SGG seien nicht ersichtlich. Insoweit müssten die Kläger ohne Verschulden verhindert gewesen sein, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Derartige Gründe seien weder dargetan noch ersichtlich.
Soweit darüber hinaus pauschale Nachzahlungen begehrt würden, sei die Klage ebenfalls unzulässig. Für eine Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG sei erforderlich, dass ein Rechtsanspruch auf die Leistung geltend gemacht werde und ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen brauche. Nachdem es vorliegend einer Entscheidung durch den Beklagten durch Verwaltungsakt bedurfte, scheide insoweit eine echte Leistungsklage als statthafte Klageart aus.

Gegen den am 21.05.2021 gestellten Gerichtsbescheid haben die Kläger am 21.06.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung ausgeführt, sie hätten ihre Widersprüche bereits kurz nach Weihnachten, am 27. oder spätestens am 28.12.2018 per Einschreiben (wie immer bei wichtigen Briefinhalten nebst Fristen) der hiesigen Zustellerin mitgegeben, und diese habe die Übergabe auch per Quittung vorgenommen, um sie abzusichern. Diese Unterlagen müssten sie aus mehreren Ordnern heraussuchen. Sie bestritten, dass ihr Einschreiben erst am 03.01.2019 dem Jobcenter Landkreis R zugestellt worden sein solle und gingen davon aus, dass auch im Jobcenter Landkreis R am Wochenende/Jahreswechsel nicht gearbeitet worden sei. Die Deutsche Post AG werbe mit kurzen Laufzeiten für die Briefsendungen. Nach ihren Berechnungen hätte die Zeit bis zum Jahreswechsel für die Zustellung gut ausreichen müssen. Es hänge also alles davon ab, ob sie noch das Trägermaterial des Einschreibens fänden.

Die den Klägern eingeräumte Frist zur Berufungsbegründung ist mehrfach verlängert worden, zuletzt bis 10.10.2021. Mit am 18.10.2021 eingegangenen E-Mail-Schreiben haben die Kläger in allen vier beim Landessozialgericht anhängigen Verfahren (L 9 AS 2098/21, L 9 AS 2099/21, L 9 AS 2100/21 und L 9 AS 2101/21) aus „gesundheitlichen, familiären und zeitlichen Gründen“ eine nochmalige Fristverlängerung bis 30.10.2021 beantragt, hierzu auf die aus ihrer Sicht bestehende Verfassungswidrigkeit der Regelsätze sowie das aus ihrer Sicht rechtswidrige Verhalten der unterschiedlichen Sachbearbeiterinnen beim Jobcenter H im Zusammenhang mit der Leistungsgewährung in den Jahren 2014-2016 hingewiesen. Auf Mitteilung des Gerichts, dass Gründe für eine nochmalige Fristverlängerung nicht dargetan sind bzw. nicht vorliegen, haben die Kläger mit weiterem am 19.01.2021 eingegangenen E-Mail-Schreiben nochmals die aus ihrer Sicht rechtswidrige Bearbeitung ihrer Leistungsanträge beim Jobcenter H beanstandet.

Die Kläger haben keinen Sachantrag gestellt. Sie beantragen sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 18. Mai 2021 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Änderungsbescheide vom 24.11.2018 und der Widerspruchsbescheide vom 13.02.2019 zu verurteilen, ihnen höhere Leistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 SGG dem Vorsitzenden Richter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entschieden hat, nachdem der Senat keine Gründe feststellen konnte, die eine Entscheidung durch den ganzen Senat erforderlich machen und solche auch nicht in der Anhörung von den Beteiligten mitgeteilt wurden.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die fristgemäß eingelegte und auch sonst zulässige Berufung der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 18.05.2021, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet.

Der Senat hat keine Veranlassung zur nochmaligen Verlängerung der Berufungsfrist in allen Verfahren gesehen. Den Klägern ist bei Einlegung der Berufungen (21.06.2021) eine angemessene Frist zur Berufungsbegründung gesetzt worden, die mehrmals verlängert worden ist, zuletzt bis 10.10.2021. Die von den Klägern zur Begründung der Fristverlängerungsgesuche in sämtlichen Klage- und Berufungsverfahren (wie schon im früheren Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg L 3 AS 102/18) durchgehend bemühte stereotype Formulierung „aus gesundheitlichen, familiären und zeitlichen Gründen“ gibt keinen Anlass zur nochmaligen Fristverlängerung. Dies umso mehr, als die Berufungen teilweise bereits begründet worden sind und das Vorbringen der Kläger, soweit es über die pauschale Rüge der Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen hinausgeht, sich insbesondere auf die Vorgänge im Jobcenter H in den Jahren 2014 bis 2016 bezieht, wie zuletzt im Schriftsatz vom 19.10.2021 ausgeführt. Das Jobcenter H ist aber nur in einem der vier jetzigen Berufungsverfahren (L 9 AS 2101/18) Beteiligter. Zudem waren diese Vorgänge bereits Gegenstand der früheren Verfahren vor dem LSG Baden-Württemberg (Urteile vom 11.07.2018 – L 3 AS 100/18 und L 3 AS 101/18 – und Beschluss vom 05.06.2018 – L 3 AS 102/18 -), in denen die Kläger bereits ausführlich Gelegenheit zur Äußerung hatten. Es ist nicht dargelegt oder sonst erkennbar, dass hierzu substantiell neuer Vortrag zu erwarten ist.

Das SG hat die Klage gegen die Änderungsbescheide vom 24.11.2018 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 13.02.2019 im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Hierbei bedarf keiner Entscheidung, ob die Kläger die Widerspruchsfrist versäumt haben bzw. ob ihnen wegen der möglichen Versäumung der Frist - mit Blick auf die Postlaufzeit ihres am 28.12.2018 per Einschreiben zur Post gegebenen Widerspruchsschreibens - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist und ob – falls dies nicht der Fall ist - die schuldhafte Versäumung der Widerspruchsfrist zur Unzulässigkeit (auch) der Klage führt (vgl. hierzu Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 30.09.1996 - 10 RKg 20/95 – Juris).

Denn die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in der Form der Bescheidungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2, § 56 SGG statthafte Klage ist jedenfalls unbegründet. Die genannten Bescheide des Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Sie haben für den streitgegenständlichen Leistungszeitraum Januar bis September 2019 keinen Anspruch auf höhere Leistungen.

Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II), erwerbsfähig sind (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II), hilfebedürftig sind (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Diese Tatbestandsvoraussetzungen liegen bei den Klägern vor.

Höhere Leistungen für den Zeitraum Januar bis September 2019 können die Kläger allerdings nicht beanspruchen. Ihnen wurden im streitigen Zeitraum Leistungen jeweils nach der Regelbedarfsstufe 1 (Alleinstehende / Alleinerziehende) in Höhe von 424,- € (Steigerung gegenüber dem Vorjahr 2018 um 8 €) bewilligt. Die methodische Kalkulation und Bemessung der Regelbedarfe ist entgegen der Auffassung der Kläger (verfassungs-) rechtlich nicht zu beanstanden. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die - gegenüber dem früheren Rechtszustand 2005 neuen - gesetzgeberischen Entscheidungen, sowohl die Referenzgruppe anders zu schneiden, als auch im Sinne eines „Methodenmix“ in Orientierung am Warenkorbmodell nachträglich einzelne Positionen aus dem durch die Auswertung der EVS gewonnen Ergebnis herauszunehmen, als verfassungsgemäß akzeptiert. Die Regelbedarfe sind nicht evident unzureichend (BVerfG, Beschluss vom 23.07.2014 - 1 BvL 10/12 und 12/12, 1 BvR 1691/13 - BVerfGE 137, 34; Urteil vom 23.07. 2014 - 1 BvL 10/12 u. a. = NJW 2014, 3425). Dem hat sich die fachgerichtliche Rechtsprechung einschließlich des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen (Urteil vom 01.12.2016 - B 14 AS 21/15 R- SozR 4-4200 § 21 Nr. 26 m.w.N.). Der erkennende Senat teilt diese Auffassung.

Soweit die Kläger auch beanstanden, die bewilligten Miet-und Nebenkosten inklusive Heizung, Wasser, Strom etc. seien viel zu gering, ist darauf hinzuweisen, dass der Beklagte die ihnen entstehenden Unterkunftskosten, wie sie sich aus der Mietbescheinigung der Vermieterin vom 02.02.2016 ergeben – und die nach Aktenlage seitdem nicht erhöht wurden -, in vollem Umfang ohne Abzüge berücksichtigt hat. Insoweit fehlt es bereits an einer Beschwer der Kläger durch die angegriffenen Bescheide.

Soweit die Kläger über den streitbefangenen, mit den genannten Bescheiden geregelten Zeitraum hinaus Leistungen bzw. Nachzahlungen geltend machen, auch soweit diese das ehemals bis zu ihrem Umzug im Jahr 2016 für sie zuständige Jobcenter H betreffen sollen, ist die Klage unzulässig, weil es insoweit an gerichtlich überprüfbaren (neuen) Ausgangs- und Widerspruchsentscheidungen, zumal des vorliegenden Beklagten, fehlt.

Die Berufung war daher mit der Kostenfolge des § 193 SGG zurückzuweisen.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
Saved