Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. November 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die höhere Erstfeststellung des Grades der Behinderung (GdB) mit mehr als 30.
Er ist 1962 geboren und beantragte am 2. Mai 2018 bei dem Landratsamt K (LRA) erstmals die Feststellung des GdB. Vorgelegt wurde der Bericht des SRH Klinikum K1 über die ambulante Vorstellung am 17. Januar 2017, in dem eine chronisch venöse Insuffizienz beschrieben und Anhalte für eine organische Herzerkrankung verneint wurden. Das Belastungs-Echokardiogramm (EKG) sei nach zwei Minuten bei 200 Watt wegen peripherer Erschöpfung abgebrochen worden. Der Bericht über die Kernspintomographie (MRT) des rechten Kniegelenks vom 21. Mai 2013 (St. Vincentius-Klinik K) beschrieb einen am ehesten reaktiven Gelenkerguss im lateralen Gelenkspalt aufgrund einer viertgradigen Chondropathie bis an den Knochen heranreichend. Die MRT des linken Knie vom 17. Mai 2013 zeigte eine erstgradige Chondromalazie sowie Oberflächenunregelmäßigkeiten und Signalveränderungen im Rahmen einer komplexen Rissbildung des Innenmeniskushinterhorns. Die Kreuzbänder seien intakt, es bestehe ein deutlicher Gelenkerguss.
Das LRA holte Befundscheine der behandelnden Ärzte ein. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt (HNO) B beschrieb eine Vorstellung mit dem Wunsch der Hörgeräteneuverordnung. Im Sprachaudiogramm habe sich eine 90-prozentige Verständlichkeit für Einsilber beidseits bei 80 dB gezeigt.
Der W gab einen beidseitigen Visus mit Brille von 1,0 an.
B1 sah versorgungsärztlich einen Teil-GdB von 30 für Knorpelschäden beider Kniegelenke, der dem Gesamt-GdB entspreche, da weder die Hörminderung noch die Sehstörung einen GdB von wenigstens 10 begründeten.
Mit Bescheid vom 27. Juni 2018 stellte das LRA gestützt hierauf einen GdB von 30 seit dem 2. Mai 2018 fest.
Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, dass ausgeprägte Knorpelschäden einseitig mit Bewegungseinschränkung mit einem GdB von 20 bis 40 zu bewerten seien. Da diese in diesem Ausmaß beidseits vorlägen, sei der GdB mit 30 zu niedrig bemessen.
G hielt versorgungsärztlich an der Einschätzung fest, da nur rechts ein viertgradiger Knorpelschaden beschrieben sei, links hingegen nur ein erstgradiger. Angaben zur Klinik wie Bewegungseinschränkungen und Schmerzen lägen nicht vor.
Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 2019 zurück. Zu den Knorpelschäden an den Kniegelenken lägen radiologische Befunde vor. Eine Bewegungseinschränkung oder anhaltende Reizerscheinungen seien nicht dokumentiert und aus den vorliegenden Befunden nicht objektivierbar. Weitere Befunde seien nicht vorgelegt worden, zu einer aktuellen fachärztlichen Behandlung lägen ebenfalls keine Angaben vor. Ein höherer GdB als 30 könne daher nicht festgestellt werden, die Gesundheitsstörungen Hörminderung und Sehstörung führten zu keinem GdB von wenigstens 10.
Am 15. Juli 2019 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben, welches zur weiteren Sachaufklärung sachverständige Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte eingeholt hat.
Der B hat sich der Bewertung angeschlossen und auf eine geringgradige Innenohr-Hochtonminderung beidseits verwiesen, die einen Teil-GdB von unter 10 begründe.
Der W hat bekundet, dass die Diagnosen auf seinem Fachgebiet von geringem Schweregrad seien, mit einer Sehhilfe adäquat ausgeglichen werden könnten und keinen Teil-GdB rechtfertigten.
Die Z hat Behandlungen nur wegen vorübergehender Gesundheitsstörungen beschrieben und keine dauerhaften Einschränkungen mitteilen können.
Der B2 hat angegeben, den Kläger nur wegen Krampfadern behandelt zu haben, woraus kein GdB folge. Ergänzend hat er auf seinen Befundbericht über die ambulante Untersuchung vom 28. Mai 2020 verwiesen, wonach die körperliche Belastbarkeit etwas eingeschränkt sei durch Knorpelschäden an beiden Kniegelenken. Das Belastungs-EKG sei nach einer Minute bei 200 Watt wegen peripherer Erschöpfung abgebrochen worden. Es bestehe eine sehr gute körperliche Belastbarkeit bei hypertensivem Blutdruckverhalten unter maximaler Belastung.
Der W1 hat eine lediglich leichtgradige gutartige Vergrößerung der Prostata ohne Restharnbildung beschrieben, die keine Behandlung erfordere und keinen Teil-GdB auf seinem Fachgebiet rechtfertige.
Der L hat eine Behandlung ab dem 30. Januar 2020 angegeben. Von seinem Vorgänger M seien nur bis April 2017 Behandlungsdaten vorliegend, dazwischen fänden sich keine Dokumentationen. Bei der Untersuchung habe sich ein kleinschrittiges, flüssiges Gangbild gezeigt. Die Beweglichkeit habe beidseits 0-10-120° betragen, ein Erguss nicht bestanden, ebenso kein Druckschmerz medial oder lateral bei stabilem Kapselbandapparat. Die Meniskuszeichen seien negativ. Es bestehe eine Gonarthrose beider Kniegelenke mit Streckdefizit sowie eine leichte Hüftdysplasie beidseits. Bei der Untersuchung am 4. Mai 2020 sei die Hüftrotation beidseits frei gewesen, am 26. Mai 2020 habe er eine Beweglichkeit der Kniegelenke beidseits von 0-15-120° befundet. Ergänzend hat er die Befundberichte der MVZ Radiologie K über die MRT des rechten und linken Kniegelenks am 15. Februar 2020 vorgelegt. Daraus ergebe sich rechts eine großflächige, vermutlich bis zum Knochen reichende Chondropathie der Trochlea medial, zentral und lateral mit mäßigem Gelenkerguss. Links habe eine fortgeschrittene Arthrose sowie eine femorpatellare Chondropathie mit mäßigem Gelenkerguss bestanden.
Nach rechtlichen Hinweis und Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 12. November 2020 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Teil-GdB im Funktionssystem „untere Gliedmaßen“ nicht mehr als 30 betrage. Im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ betrage der Teil-GdB allenfalls 10 aufgrund der von dem Kläger angegebenen abendlichen Müdigkeit der Beine. Im Funktionssystem „Harnorgane“ habe der sachverständige Zeuge W1 keine relevanten Funktionsstörungen mitgeteilt, ebenso lägen im Funktionssystem „Ohren“ keine bemessungsrelevanten Gesundheitsstörungen vor. Insbesondere habe der B keine Befundverschlechterung mitgeteilt, sodass an der bisherigen Bewertung festzuhalten sei. Die von dem W mitgeteilten Funktionsstörungen im Funktionssystem „Augen“ seien ebenfalls nicht bemessungsrelevant.
Am 14. Dezember 2020 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Er macht geltend, dass die kernspintomographischen Befunde vom 15. Februar 2020 nicht berücksichtigt worden seien, der Entscheidung des LRA lägen vielmehr solche aus dem Jahr 2013 zu Grunde. Es bestünden nicht nur einseitige, sondern beidseitige Schäden an den Kniegelenken, die entsprechend höher zu bewerten seien. Weiterhin hat er die bereits aktenkundige MRT-Befunde vorgelegt.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. November 2020 aufzuheben und den Beklagte zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheides vom 27. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2019 einen höheren Grad der Behinderung als 30 ab dem 2. Mai 2018 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er verweist auf die angefochtene Entscheidung und führt ergänzend aus, dass im Hinblick auf das Ausmaß der dokumentierten Bewegungseinschränkung und der Tatsache, dass Reizerscheinungen in Form einer Ergussbildung lediglich einmalig im Februar 2020 befundet seien, sich der bisher festgestellte GdB von 30 für den Knieschaden weiterhin als angemessen erweise. Die übersandten MRT-Befunde seien bereits aktenkundig und berücksichtigt worden.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger nicht zum Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen ist, nachdem mit der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 12. November 2020 mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) auf Feststellung eines höheren GdB als 30 unter Abänderung des Bescheides vom 27. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 12. Juni 2019 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34).
Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 27. Juni 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Er kann die Feststellung eines höheren GdB als 30 nicht beanspruchen, nachdem sich der Senat ebenso wie das SG nicht davon überzeugen konnte, dass die Gesundheitsstörungen insbesondere an den Kniegelenken nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Auf den ausdrücklichen Hinweis des Senats hat der Kläger keine neuen Befunde mitgeteilt, sondern erneut nur auf die aktenkundigen Befunde verwiesen. Diese rechtfertigen indessen nach Überzeugung des Senats eine höhere Bewertung des GdB nicht.
Der Anspruch richtet sich nach § 152 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) in der aktuellen, seit 1. Januar 2018 geltenden Fassung durch Art. 1 und 26 Abs. 1 des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234). Danach stellen auf Antrag des Menschen mit Behinderung die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (§ 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auf Antrag kann festgestellt werden, dass ein GdB bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen hat (§ 152 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Menschen mit Behinderungen sind nach § 2 Abs. 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können (Satz 1). Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (Satz 2). Menschen sind im Sinne des Teils 3 des SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 SGB IX rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die Bewertung des GdB maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind (§ 153 Abs. 2 SGB IX). Nachdem noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen, somit die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), entsprechend (§ 241 Abs. 5 SGB IX). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG, Urteil vom 1. September 1999 – B 9 V 25/98 R –, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.
Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen, unabhängig ihrer Ursache, final bezogen ist. Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als „Alterskrankheiten“ (etwa „Altersdiabetes“ oder „Altersstar“) bezeichnet werden (VG, Teil A, Nr. 2 c). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Da der GdB seiner Natur nach nur annähernd bestimmt werden kann, sind beim GdB nur Zehnerwerte anzugeben. Dabei sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (VG, Teil A, Nr. 2 e). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zueinander können unterschiedlich sein. Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeeinträchtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung muss die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber nicht zwingend verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.
Der Gesamt-GdB ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung, gegebenenfalls unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten, in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2004 – B 9 SB 1/03 R –, juris, Rz. 17 m. w. N.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf der ersten Prüfungsstufe zu ermittelnden nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen und die sich daraus abzuleitenden Teilhabebeeinträchtigungen ausschließlich auf der Grundlage ärztlichen Fachwissens festzustellen sind. Bei den auf zweiter und dritter Stufe festzustellenden Teil- und Gesamt-GdB sind über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (vgl. BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 – B 9 SB 35/10 B –, juris, Rz. 5).
Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer unbenannten Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSGE 82, 176 [177 f.]). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder der Vorinstanz Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.
In Anwendung dieser durch den Gesetz- und Verordnungsgeber vorgegebenen Grundsätze sowie unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der GdB mit 30 zutreffend festgestellt worden ist.
Die einzig bemessungsrelevanten Gesundheitsstörungen des Klägers liegen im Funktionssystem „Beine“, das mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten ist.
Nach den VG, Teil B, Nr. 18.14 werden Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk geringen Grades (z. B. Streckung/Beugung bis 0-0-90°) einseitig mit einem GdB von 0 bis 10 und beidseitig mit einem GdB von 10 bis 20 bewertet. Ein höherer GdB (einseitig 20 und beidseitig 40) wird erst bei Bewegungseinschränkungen mittleren Grades (z. B. Streckung/Beugung 0-10-90°) erreicht.
Ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke (z. B. Chondromalacia patellae Stadium II bis IV) mit anhaltenden Reizerscheinungen werden einseitig ohne Bewegungseinschränkungen mit einem GdB von 10 bis 30 und mit Bewegungseinschränkungen mit einem GdB von 20 bis 40 bewertet. Unter anhaltenden Reizerscheinungen sind sichtbare Veränderungen an den Kniegelenken in Form von Überwärmungen, Schwellungen oder Ergüssen zu verstehen, die zumindest längerfristig vorhanden sind (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2011 – L 13 SB 161/10 –, juris, Rz. 28).
Nach diesen Maßstäben liegt bei dem Kläger eine beidseitige Streckhemmung der Kniegelenke bei einer nur geringfügigen Einschränkung der Beugefähigkeit vor, wie der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft des L entnimmt, der die Beweglichkeit mit 0-15-120° befundet hat. Die beschriebenen Beweglichkeiten sind somit in der Streckung leicht schlechter, als sie für mittelgradige Einschränkungen anzunehmen sind und hinsichtlich der Beugung deutlich besser, nachdem mit 120° ein annähernder Normalbefund vorliegt. Eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens für beidseitige mittelgradige Einschränkungen rechtfertigt sich somit nicht. Soweit Knorpelschäden beschrieben und durch MRT gesichert sind, hat G versorgungsärztlich für den Senat überzeugend dargelegt, dass sich ein ausgeprägter Knorpelschaden nur am rechten Knie gezeigt hat, während dieser links deutlich geringer ausgeprägt ist. Daneben ist zu berücksichtigen, dass L klinisch Gelenkergüsse verneint hat und sich in der MRT dementsprechend auch nur mäßige Gelenkergüsse zeigten, woraus sich weder eine Ausschöpfung des Bewertungsrahmens noch unter Berücksichtigung der beidseitigen Knorpelschäden ein höherer GdB als 30 rechtfertigt, wie G versorgungsärztlich zutreffend dargelegt hat.
Letztlich sind die beschriebenen Krampfadern im Funktionssystem „Beine“ nicht erhöhend zu berücksichtigen, nachdem B2 keine Funktionseinschränkungen dadurch mitteilen konnte und einen GdB deshalb schlüssig verneint hat.
Im Funktionssystem „Ohren“ besteht nach der sachverständigen Zeugenauskunft des B nur eine geringgradige Innenohr-Hochtonschwerhörigkeit, die ebenso zu keinem Teil-GdB (vgl. VG; Teil B, Nr. 5.2) führt wie die im Funktionssystem „Augen“ durch die Sehhilfe adäquat ausgleichbare Sehminderung (vgl. VG, Teil B, Nr. 4.3), wie der Senat der sachverständigen Zeugenauskunft des W entnimmt. Weiterhin konnte der W1 keine Befunde im Funktionssystem „Harnorgane“ mitteilen, die überhaupt mit einem Teil-GdB (vgl. VG, Teil B, Nr. 12) zu berücksichtigen wären.
Im Funktionssystem „Herz und Kreislauf“ ist ebenfalls kein Teil-GdB gegeben, da sich in dem von B2 durchgeführten Belastungs-EKG eine sehr gute körperliche Belastbarkeit mit einer Leistungsfähigkeit von 200 Watt über eine Minute gezeigt hat, wobei der Abbruch nur wegen peripherer Erschöpfung erfolgt ist. Eine Einschränkung der Sollleistung bei der Ergometerbelastung (vgl. VG, Teil B, Nr. 9.1.1) besteht daher nicht.
Letztlich hat die Z in ihrer sachverständigen Zeugenauskunft nur über vorübergehende, akut behandelnde Gesundheitsstörungen berichten können, sodass sich keine Anhaltspunkte für weitere bemessungsrelevante Einschränkungen ergeben und solche vom Kläger auch nicht geltend gemacht worden sind.
Der Teil-GdB von 30 im Funktionssystem „Beine“ entspricht daher dem Gesamt-GdB und dieser ist vom Beklagten zutreffend festgestellt worden.
Weiterer Ermittlungsbedarf hat nicht bestanden. Durch die sachverständige Zeugenauskunft des Orthopäden L sind dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung und die darauf gestützte – rechtliche – Einschätzung des GdB notwendigen Anknüpfungstatsachen geliefert worden. Dieser hat weiterhin die aktuellen MRT-Befunde bei seinen Ausführungen berücksichtigt, sodass es, entgegen der Auffassung des Klägers, nicht zutrifft, dass die Entscheidung des SG nicht die aktuellen Befunde berücksichtige. Weitere Behandlungen oder neue Befunde hat der Kläger nicht mitgeteilt, sodass sich weitere Ermittlungen als eine reine Ausforschung des Sachverhaltes darstellten, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).
Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2353/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3937/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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