L 19 AS 1634/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19.
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 54 AS 120/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1634/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 68/22 B
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28.09.2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten des Klägers werden nicht erstattet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung, den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 aufzuheben.

Mit Bescheid vom 20.12.2018 bewilligte der Beklagte dem Kläger vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.12.2018 bis 31.05.2019 unter Berufung auf § 41a SGB II und zwar u.a. für Dezember 2018 i.H.v. 207,30 € sowie für Januar 2019 bis Mai 2019 i.H.v. 209,90 € monatlich.

Mit Bescheid vom 18.04.2019 bewilligte der Beklagte dem Kläger vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für März 2019 i.H.v. 614,00 €, für April 2019 i.H.v. 282,25 € und für Mai 2019 i.H.v. 614,00 €.

Dem Kläger flossen im Zeitraum vom 01.01.2018 bis 31.05.2019 Sozialleistungen in Form von Arbeitslosengeld I und Krankengeld zu, und zwar nach den Kontenauszügen Arbeitslosengeld I i.H.v. insgesamt 2.651,25 €; im Einzelnen: am 17.12.2018 i.H.v. 11,28 €, am 27.12.2018 i.H.v. 428,70 €, am 22.03.2019 i.H.v. 868,20 €, am 26.03.2019 i.H.v. 245,99 €, am 23.04.2019 i.H.v. 702,45 € und am 29.05.2019 i.H.v. 394,63 €. Weiter erhielt der Kläger Krankengeld i.H.v. insgesamt 766,91 €; im Einzelnen: am 05.04.2019 i.H.v. 173,64 €, am 16.04.2019 i.H.v. 188,11 €, am 30.04.2019 i.H.v. 202,58 € und im Mai  2019 i.H.v.    202,58 €.

Mit Bescheid vom 24.09.2019 setzte der Beklagte die Grundsicherungsleistungen für die Zeit vom 01.12.2018 bis 31.05.2019 für Dezember 2018 i.H.v. 207,30 €, für Januar und Februar 2019 i.H.v. jeweils 209,90 €, für März 2019i.H.v. 614,00 €, für April 2019 i.H.v. 282,25 € und für Mia 2019 i.H.v. 95,22 € fest. Der Beklagte rechnete insgesamt ein Einkommen i.H.v. 1.701,76 € auf den Bedarf des Klägers an; im Einzelnen: im Dezember 2018 i.H.v. 398,70 €, im Januar und Februar 2019 i.H.v. jeweils 404,10 €, im März 2019 i.H.v. 0,00 €, im April 2019 i.H.v. 331,75 € und im Mai 2019 i.H.v. 567,21 €.

Mit Schreiben vom 10.10.2019 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass der Bewilligungsbescheid mit dem Hinweis „Empfänger unbekannt“ zurückgesandt worden sei. Deshalb werde der Bewilligungsbescheid vom 24.09.2019 an ihn erneut zugesandt. Der Bescheid wurde durch Postzustellungsurkunde am 15.10.2019 zugestellt.

Mit Bescheid vom 24.09.2019 forderte der Beklagte vom Kläger die Erstattung von zu viel geleisteten Grundsicherungsleistungen für Mai 2019 i.H.v. 518,78 € unter Berufung auf § 41a Abs. 6 SGB II.

Mit Schreiben vom 02.10.2019 legten die Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 Widerspruch ein.

Mit Schreiben vom 30.10.2019 (mit der Überschrift „Widerspruchsverfahren U, N – AZ. 01 – wegen Erstattungsbescheid nach endgültiger Festsetzung – ihr Schreiben vom 02.10.2019 – …“), adressiert an die Prozessbevollmächtigten des Klägers, teilte der Beklagte mit, dass er den Bescheid vom 24.09.2019 aus formellen Gründen aufhebe und dem Widerspruch im vollem Umfang entsprochen werden konnte. Die im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten werde er auf Antrag erstatten soweit sie notwendig und nachgewiesen seien. Dem Schreiben war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Mit Schreiben vom 07.11.2019 übersandten die Prozessbevollmächtigten eine Kostenrechnung.

Im Bescheid vom 30.10.2019, adressiert an den Kläger, heißt es:

Mit Bescheid vom 20.12.2018 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 18.04.2019 wurden Ihnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vorläufig bewilligt (§ 41a SGB II).

Der Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 wird aufgehoben.

Da nun über ihren Leistungsanspruch endgültig entschieden werden konnte, wurde festgestellt, dass sie einen geringeren Anspruch auf Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes haben. Bitte entnehmen Sie dem bereits per Postzustellungsurkunde übersandten Bescheid die Ihnen tatsächlich zustehenden Leistungen.“

Der Beklagte forderte die Erstattung von zu viel gezahlter Grundsicherungsleistungen für Mai 2019 i.H.v. insgesamt 518,78 € (Regelbedarf 424,00 € + Bedarfe für Unterkunft und Heizung 94,78 €). Dem Bescheid war eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt.

Mit Schreiben vom 19.11.2019 legten die Prozessbevollmächtigten des Klägers Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 unter Vorlage einer Vollmacht, datiert vom 14.11.2019, ein. Sie rügten die Unbestimmtheit des Bescheides i.S.v. § 33 SGB X. Es sei davon auszugehen, dass der Bewilligungsbescheid vom 24.09.2019 in das Widerspruchsverfahren gegen den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 einbezogen gewesen sei. Da sowohl der Bewilligungsbescheid als auch der Erstattungsbescheid vom gleichen Tag aufgrund derselben Sachlage ergangen seien, sei von einer einheitlichen Verwaltungsentscheidung auszugehen. Mithin sei grundsätzlich davon auszugehen, dass der Bewilligungsbescheid vom 24.09.2019 aufgrund der Widerspruchsentscheidung vom 30.10.2019 keinen Bestand mehr habe.

Vorsorglich beantragten die Prozessbevollmächtigten des Klägers die Überprüfung des Bewilligungsbescheides vom 24.09.2019 nach § 44 SGB X.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2020 wies der Kreis Recklinghausen den Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 als unbegründet zurück. Er führte u.a. aus, dass der Bewilligungsbescheid vom 24.09.2019 bestandskräftig sei, da gegen diesen nicht separat Widerspruch eingelegt worden sei. Der Bewilligungsbescheid vom 24.09.2019 sei auch nicht Bestandteil des vorangegangenen Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 24.09.2019 geworden, da der Bewilligungsbescheid zum damaligen Zeitpunkt nach dem Vortrag des Klägers noch nicht bekannt gegeben gewesen sei. Der Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 sei nicht zu beanstanden. Der Erstattungsbetrag i.H.v. 518,78 € sei die Differenz zwischen den mit Bescheid vom 24.09.2019 endgültig für den streitigen Zeitraum bewilligten Leistungen und den vorläufig für den streitigen Zeitraum bewilligten Leistungen.

Am 14.01.2020 hat der Kläger gegen den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 Klage erhoben.

Er hat vorgetragen, dass der Beklagte das Widerspruchsverfahren wiederholt habe, was grundsätzlich nicht zur Disposition der Beteiligten stehe. Die Rechtsfolge des Bescheides vom 30.10.2019 sei identisch mit der aus dem Bescheid vom 24.09.2019. Es sei die Aufhebung eines Bescheides bei gleichzeitigem erneutem Erlass des inhaltlich völlig gleichen Bescheides ausgeschlossen.

Mit Schriftsatz vom 26.03.2020 haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers hilfsweise beantragt,

unter Aufhebung des Erstattungsbescheides vom 24.09.2019 in Gestalt des Abhilfebescheides vom 30.10.2019 in Gestalt des Erstattungsbescheides vom 30.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 den Beklagten zur Aufhebung der genannten Bescheide zu verpflichten.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass das Widerspruchsverfahren – W4350/2019 – gegen den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 mit dem Abhilfebescheid vom 30.10.2019 vollständig beendet worden sei. Der erneute Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 sei nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden, sondern führe zu einem weiteren Widerspruchsverfahren – W5009/2019. Es handele sich um zwei getrennte Verwaltungsentscheidungen.

Mit Urteil vom 28.09.2021 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen den Beklagten verurteilt, den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 aufzuheben. Dem streitgegenständlichen Bescheid stehe eine materielle Bindungswirkung des ersten Erstattungsbescheides vom 24.09.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2019 entgegen. Nach der Konzeption des Sozialgerichtsgesetzes sehe es nicht zur Disposition des Beklagten das Vorverfahren, das seinen Zweck mit Erlass eines Widerspruchsbescheides bereits erfüllt habe, zu wiederholen und damit über eine Zulässigkeitsvoraussetzung eines sich anschließenden Klageverfahrens zu disponieren. Allerdings habe der streitgegenständliche Widerspruchsbescheid vom 08.01.2020 unmittelbar den Widerspruchsbescheid vom 30.10.2019 abgeändert, sondern er sei im Hinblick auf den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 ergangen, der auch nicht nach § 86 SGG in das Widerspruchsverfahren einbezogen worden sei. Die Möglichkeit der Einbeziehung eines Verwaltungsaktes in ein Widerspruchsverfahren ende mit dem Erlass des Widerspruchsbescheides. Eine Einflussnahme auf das Vorverfahren als Prozessvoraussetzung habe damit nicht vorgelegen.

Ein Widerspruchsbescheid binde allerdings sowohl die Ausgangs- als auch die Widerspruchsbehörde. Die Ausgangsbehörde könne nur dann einen Zweitbescheid erlassen, wenn über den Widerspruch oder über die Klage schon entschieden sei, und wenn dies angesichts der materiellen Bestandskraft des Verwaltungsaktes (§ 77 SGG) für die Behörde nach den Grundsätzen über die Aufhebung von Verwaltungsakten zulässig sei. Eine Aufhebung durch die Ausgangsbehörde komme nur dann in Betracht, wenn neue rechtliche oder tatsächliche Erkenntnisse vorlägen, damit die Kompetenzen der Widerspruchsbehörde nicht untergraben werden könnten. Eine Widerspruchbehörde prüfe nicht nur die Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheids, sondern entscheide neu in der Sache und müsse hierbei neuen Vortrag berücksichtigen. Die Widerspruchsbehörde müsse sich dementsprechend behandeln lassen. Damit entfalte der Widerspruchsbescheid vom 30.10.2019 materielle Bindungskraft gegenüber der Ausgangsbehörde, da die Ausgangsbehörde in ihrem Bescheid vom 30.10.2019 keine neuen tatsächlichen Erkenntnisse berücksichtige.

Gegen das ihm am 01.10.2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 29.10.2021 Berufung eingelegt.

Er trägt vor, dass der Widerspruch gegen den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 begründet gewesen sei, da die endgültige Festsetzung vom 24.09.2019 zum Zeitpunkt des Erlasses des Erstattungsbescheides nicht bekannt gegeben gewesen und folglich nach § 39 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht wirksam geworden sei. Damit habe die rechtliche Grundlage für den Erstattungsbescheid gefehlt. Deshalb sei der Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 mit dem Abhilfebescheid vom 30.10.2019 aufgehoben worden. Eine Abhilfeentscheidung sei jedoch kein Widerspruchsbescheid, sondern ein Verwaltungsakt, der den zunächst erlassenen Verwaltungsakt aufhebt oder ändert. Durch die Aufhebung des Erstattungsbescheides vom 24.09.2019 sei dieser gemäß § 39 Abs. 2 SGB X nicht mehr wirksam. Der Widerspruch vom 02.10.2019 sei insoweit vollumfänglich erfolgreich gewesen. Der Abhilfebescheid vom 30.10.2019 entfalte keine materielle Bestandskraft nach § 77 SGG. Der Rechtsbehelf gegen den Bescheid vom 24.09.2019 sei erfolgreich gewesen und der konkrete Verwaltungsakt aufgehoben worden. Aufgehobene Verwaltungsakte könnten keine Bindungswirkung entfalten. Der Abhilfebescheid vom 30.10.2019 sei für den Kläger begünstigend gewesen. Die durch das Sozialgericht zitierten Entscheidungen seien für die hier vorliegende Konstellation nicht einschlägig. Dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 14.12.1994 habe der Sachverhalt zugrunde gelegen, dass die Behörde während des Klageverfahrens einen zweiten Widerspruchsbescheid erlassen habe, weil sie angenommen habe, der erste Widerspruchsbescheid sei nichtig. Im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.08.2014 sei gegen eine Kostenentscheidung in einem Widerspruchsbescheid erneut Widerspruch eingelegt worden. In beiden Urteilen seien somit Widerspruchsbescheide erlassen worden. Die materielle Bestandskraft von Widerspruchsbescheiden nach § 77 SGG sei auch unbestritten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28.09.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Die materielle Bestandskraft eines Abhilfebescheides messe sich nicht mit anderen Maßstäben als die Bestandskraft eines Widerspruchsbescheides. Für die unterschiedliche Behandlung eines Abhilfebescheides im Vergleich zu einem Widerspruchsbescheid gebe es keinen Anlass. Der Abhilfebescheid vom 30.10.2019 sei in materielle Bestandskraft erwachsen. Der Beklagte habe sich insoweit gebunden, als dass die mit dem Bescheid vom 24.09.2019 getroffene Regelung die damit getroffene Materie nicht erneut in gleicher Weise regeln könne. Der Abhilfebescheid habe das vorherige Rechtsbehelfsverfahren voll umfänglich abgeschlossen. Der erneute Erlass des inhaltsgleichen Verwaltungsaktes sei mithin die rechtsgrundlose Wiederholung des vorherigen Rechtsbehelfsverfahrens. Die Veranlassung eines erneuten Rechtsbehelfsverfahrens nach abgeschlossenem Widerspruchsverfahren sei willkürlich. Der Tenor der Abhilfeentscheidung stehe im offenkundigen Widerspruch zur erneuten Festsetzung der Erstattungsforderung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gerichtskate und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere durch Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht nach § 144 Abs. 1 S. 1 SGG statthaft.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 28.09.2021 sowie der Bescheid vom 30.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020, mit dem der Beklagte vom Kläger die Erstattung eines Betrages i.H.v. 518,78 € nach § 41a Abs. 6 SGB II fordert.

Die gegen den Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 erhobene reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 SGG ist zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2018 – B 14 AS 34/17 R).

Die beklagte Stadt ist passiv legitimiert, weil sie gegenüber dem Kläger als Leistungsberechtigten im Außenverhältnis materiell zur Erbringung der Leistungen nach dem SGB II verpflichtet ist. Die Beklagte gehört dem Kreis Recklinghausen an, der nach § 1 Kommunalträger-Zulassungsverordnung (i.d.F. vom 29.05.2017, BGBl. I S. 1349) i.V.m. § 6a Abs. 1 SGB II als kommunaler Träger zugelassen und damit in seiner örtlichen Zuständigkeit alleiniger Träger der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist (§ 6b Abs. 1 S. 1 SGB II). Der Kreis Recklinghausen hat der Beklagten nach § 6 Abs. 2 S. 1 SGB II, § 5 Abs. 2 des Gesetzes zur Ausführung des SGB II für das Land Nordrhein-Westfalen (i.d.F. des Gesetzes vom 21.11.2017, GV. NRW. S. 858) sowie § 2 Abs. 1 der Satzung des Kreises  Recklinghausen über die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II im Kreis Recklinghausen vom 21.12.2016 (Amtsblatt für Kreis Recklinghausen 2016 Nr. 397/2016; im Folgenden Delegationssatzung) die Durchführung der ihm als Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende obliegenden Aufgaben im eigenen Namen übertragen (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 08.02.2017 - B 14 AS 10/16 R, vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R und vom 16.02.2012 - B 4 AS 14/11 R - m.w.N.).

Die Berufung ist begründet.

Das Sozialgericht hat unzutreffend der Klage stattgegeben.

Der Kläger ist nicht beschwert i.S.v. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG.

Der angefochtene Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 ist rechtmäßig.

Rechtsgrundlage für den Erstattungsbescheid ist § 41a Abs. 6 S. 3 SGB II i.d.F. ab dem 01.08.2016 (Gesetz vom  26.07.2016, BGBl I 1824 – a.F.). Danach sind Überzahlungen, die nach der Anrechnung entsprechend § 41a Abs. 6 S. 1 und 2 SGB II fortbestehen, zu erstatten. Dies gilt auch im Fall des Abs. 3 S. 3 und 4 (Satz 5).

Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig. Dahinstehen kann, ob vor Erlass eines Erstattungsbescheides nach § 41a Abs. 6 S. 3 SGB II ein Leistungsberechtigter nach § 24 SGB X angehört werden muss, jedenfalls ist die Anhörung im Widerspruchsverfahren nachgeholt und damit ein etwaiger Anhörungsfehler geheilt (§ 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X).

Der Bescheid vom 30.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 SGB X).  Für eine hinreichenden  Bestimmtheit genügt es, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsaktes nach seinem Regelungsgehalt vollständig, klar und in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen muss, sein Verhalten daran auszurichten. Dabei genügt es zunächst, wenn aus dem gesamten Inhalt des Bescheides einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung hinreichende Klarheit über die Regelung gewonnen werden kann. Ausreichende Klarheit besteht selbst dann, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des Verwaltungsakts, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder auf allgemein zugängliche Unterlangen zurückgegriffen werden muss (BSG, Urteile vom  03.12.2015 – B 4 AS 43/15 R, 25.06.2015 – B 4 AS 28/14 R und 04.04.2014 – B 14 AS 2/13 R m.w.N.). Der Bescheid vom 30.10.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2020 genügt diesen Anforderungen. Aus ihm ergibt sich klar die Höhe der Erstattungsforderung  - 518,78 € -, die Zusammensetzung der Erstattungsforderung - Regelbedarf 424,00 €  + Bedarfe für Unterkunft und Heizung 94,78 € -, der Zeitraum, auf den sich die Erstattungsforderung erstreckt - Mai 2019 - sowie die Rechtsgrundlage - § 41a Abs. 6 SGB II. Aus den Ausführungen im Widerspruchsbescheid ergibt sich, dass die Erstattungsforderung aus der Differenz zwischen den vorläufig bewilligten Grundsicherungsleistungen und endgültig festgesetzten Grundsicherungsleistungen für Mai 2019 resultiert.

Bei dem Erstattungsanspruch nach § 41 Abs. 6 S. 3 SGB II a.F. handelt es sich um einen eigenständigen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch, der kraft Gesetzes in dem Moment entsteht, in dem sich aus einem Vergleich zwischen gewährter Vorleistung und abschließend zu gewährender Leistung eine Überzahlung ergibt. Vorliegend hat der Beklagte mit Bescheid vom 24.09.2019 u.a. den Leistungsanspruch des Klägers für Mai 2019 abschließend nach § 41a Abs. 3 S. 3 und 4 SGB II a.F. auf  95,22  € festgesetzt. Dieser Bescheid ist wirksam i.S.v. § 39 Abs. S. 1 SGB X. Danach wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, indem er ihm bekannt gegeben wird. Der Bescheid vom 24.09.2019 ist dem Kläger am 15.10.2019 i.S.v. § 37 SGB X bekanntgegeben worden.

Die abschließende Leistungsfestsetzung durch einen gesonderten Bescheid entfaltet für die Berechnung des Erstattungsanspruchs nach § 41a Abs. 6 S. 3 SGB II Tatbestandswirkung, ohne dass es auf die Bestandskraft der abschließenden Festsetzung ankommt (vgl. zur Vorgängervorschrift des § 328 SGB III: BSG, Urteil vom 28.11.2018 – 
B 14 AS 34/17 R, wonach allein auf die Wirksamkeit, nicht aber die Rechtmäßigkeit des den Leistungsanspruch abschließend regelnden Bescheid abzustellen ist; Urteile des Senats vom 23.09.2020 – L 19 AS 512/20, vom 05.07.2019 - L 19 AS 701/19, vom 22.06.2017 - L 19 AS 2181/16 und vom 16.03.2015 - L 19 AS 2386/13 m.w.N.; siehe auch: Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 08/ 2020, § 41a SGB II Rn. 498 ff; Kemper in: Eicher/Luik/Harich, SGB II 5. Aufl. 2021, § 41a Rn. 75). Den bei den beiden Verfügungen – endgültige Festsetzung der Leistung nach § 41a Abs. 3  SGB II a.F. und der daraus folgenden Erstattungsforderung nach § 41a abs. 6 S. 3 SGB II – handelt es sich um zwei selbstständige, voneinander unabhängige Verfügungen, die separat erlassen (vgl. zur Vorgängervorschrift BSG, Urteil vom 28.11.2018 – B 14 AS 34/17 R) oder in einem gemeinsamen Verwaltungsakt zusammengefasst werden können. Deshalb wird die Rechtmäßigkeit einer abschließenden Leistungsbewilligung nach § 41a Abs. 3 SGB II im Rahmen der Überprüfung eines Erstattungsbescheides nach § 41a Abs. 6 S. 3 und 4 SGB II nicht - auch nicht inzidenter - überprüft. Deshalb ist unerheblich, dass der Kläger einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X betreffend die endgültige Festsetzung seiner Leistungsansprüche für die Zeit vom  01.12.2018 bis 31.05.2019 durch Bescheid vom 24.09.2019 gestellt hat, der noch nicht beschieden ist. Der Senat sieht auch keinen Anlass, dass Verfahren im Hinblick auf den noch nicht beschiedenen Überprüfungsantrag nach § 114 Abs. 2 SGG auszusetzen.

Die abschließende Festsetzung der Leistungsansprüche im Bescheid vom 24.09.20219 ist auch nicht vom Beklagten durch die Entscheidung vom 30.10.2019 aufgehoben wurden. Die Entscheidung bezieht sich ausdrücklich nur auf die Aufhebung des Erstattungsbescheides vom 24.09.2019, nicht auf die später bekanntgegebene abschließende Festsetzung der Leistungsansprüche. 

Die in dem angefochtenen Bescheid verfügte Rückforderung von zu viel gezahlten Leistungen ist im Rahmen der alleine stattfindenden arithmetischen Prüfung nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat den sich aus der abschließenden Festsetzung ergebenden Erstattungsanspruch in Höhe der Differenz zwischen den vorläufig bewilligten Leistungen und der abschließenden Festsetzung korrekt berechnet. Dies wird auch nicht substantiell angegriffen.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts steht die Bindungswirkung der Abhilfeentscheidung vom 30.10.2019 nach § 77 SGG dem erneuten Erlass eines Erstattungsbescheides nach § 41a Abs. 6 S. 3 SGB II durch den Beklagten nicht entgegen. Bei dem Bescheid vom 30.10.2019 handelt es sich nicht um einen Widerspruchsbescheid i.S.v. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGG. Denn dieser Bescheid ist nicht vom Kreis Recklinghausen als Widerspruchsbehörde i.S.v. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGG (siehe § 6 Abs. 4 Delegationssatzung), sondern vom Beklagten als Ausgangsbehörde erlassen worden. Es handelt sich um eine  Abhilfeentscheidung i.S.v. § 85 Abs. 1 SGG, die in Form eines  Verwaltungsakts erfolgt (Claus in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 85 SGG (Stand: 15.07.2017), Rn. 14.).

Dahinstehen kann, ob der Beklagte mit dem Abhilfebescheid vom 30.10.2019 dem Widerspruch des Klägers gegen den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 voll abgeholfen, damit das Widerspruchsverfahren abgeschlossen und zeitgleich einen neuen Erstattungsbescheid in Form eines Zweitbescheides erlassen hat (so BVerwG, Urteil vom 15.02.1991 – 8 C 83/88, wonach eine volle Abhilfe vorliegt, wenn die Ausgangsbehörde – durch den Widerspruch veranlasst – einen angefochtenen Verwaltungsakt ganz aufhebt, auch wenn sie gleichzeitig oder später eine inhaltlich ähnlichen oder sogar gleichen Bescheid (wieder) erlässt) oder ob der Abhilfebescheid vom 30.10.2019 i.V.m. mit dem Erstattungsbescheid vom 30.10.2019 den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 ersetzt hat und damit Gegenstand des Widerspruchsverfahren nach § 86 SGG geworden ist.

Selbst wenn der Beklagte durch die Abhilfeentscheidung vom 30.10.2019 dem Widerspruch des Klägers gegen den Erstattungsbescheid vom 24.09.2019 voll abgeholfen hat, steht dies dem Erlass eines erneuten, von der Abhilfeentscheidung unabhängigen neuen Erstattungsbescheides in Form eines Zweitbescheides nicht entgegen. Eine Behörde ist zum Erlass eines Zweitbescheides auch im Fall von belastenden Verwaltungsakten befugt (BSG, Urteile vom 24.11.2011 – B 14 AS 81/09 R und vom 07.04.2016 – B 5 R 26/15 R zum Rücknahmeentscheidungen). Die Bindungswirkung der Abhilfeentscheidung vom 30.10.2019 nach § 77 SGG steht dem Erlass eines neuen Erstattungsbescheides nicht entgegen. Nach § 77 SGG ist ein Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist, wenn der gegen ihn gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird. Die Bindungswirkung des § 77 SGG tritt aber nur bezüglich des Verfügungssatzes – vorliegend Aufhebung des Bescheides vom  24.09.2019 – ein, nicht aber hinsichtlich der Gründe (siehe  Schmidt in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl. 2020, § 77  Rn. 5b m.w.N.; Giesbert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 77 SGG (Stand: 15.07.2017) Rn. 14 ). Die tragenden Gründe sind in der Regel nicht von der Bindung erfasst. Die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes kann nicht weiter gehen als die Rechtskraft eines Urteils (Schmidt, a.a.O., § 77  Rn 5b). Die Bindung eines stattgebenden Urteils auf eine Anfechtungsklage geht nur soweit, wie die Aufhebungsgründe die Entscheidung tragen (vgl. BSG, Beschlüsse vom 10.05.2017 – B 6 KA 58/16 B und vom 22.09.1999 – B 13 RJ 71/99 B). Die Abhilfeentscheidung im Bescheid vom 30.10.2019 ist darauf gestützt, dass der Aufhebungsbescheid vom 24.09.2019 aus formellen Gründen aufgehoben wird. Bei formeller Rechtswidrigkeit ist es der Behörde nicht verwehrt, erneut einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt zu erlassen, da nur die Feststellung der formellen Rechtswidrigkeit rechtskräftig geworden ist (vgl. Schütz in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 141 SGG (Stand: 05.04.2018), Rn. 27).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, bestehen nicht.

 

Rechtskraft
Aus
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