Der Beklagte wird unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2021 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2019 verpflichtet, dem Kläger unter Änderung des Bescheides vom 26. August 2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 26. November 2016 und 6. Dezember 2016 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2016 weitere Kosten der Unterkunft und Heizung unter Berücksichtigung eines kopfteiligen Bedarfes in Höhe der hälftigen tatsächlichen Kosten für die Zeiten vom 1. Januar 2017 bis 31. Januar 2017 und vom 1. März 2017 bis 30. September 2017 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt ¾ der außergerichtlichen Kosten des Klägers im gesamten Verfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Zugunstenverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) über höhere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) – für den Zeitraum vom 1. Oktober 2016 bis 31. Januar 2017 und vom 1. März 2017 bis 30. September 2017.
Der 2009 geborene Kläger lebte im Streitzeitraum im hälftigen Wechselmodell bei seiner Mutter und seinem Vater, der als Student vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen war und für die von ihm bewohnte Wohnung einen tatsächlichen Bruttowarmmietzins i.H.v. mtl. 459,- Euro bzw. – ab Februar 2017 – i.H.v. mtl. 542,- Euro zu entrichten hatte. Für die Zeit des Aufenthalts bei seinem Vater bewilligte der Beklagte dem Kläger für den in Rede stehenden Zeitraum KdUH-Leistungen i.H.v. mtl. 114,75 Euro bzw. – ab Februar 2017 – i.H.v. mtl. 135,50 Euro (Bescheide vom 26. August 2016, 26. November 2016, 6. Dezember 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2016).
Mit seinem Überprüfungsantrag vom Dezember 2018 begehrte der Kläger die Übernahme der hälftigen tatsächlichen KdUH für die Zeit von Oktober 2016 bis Januar 2017 und von März 2017 bis September 2017. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 4. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2019). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die auf Rücknahme der angefochtenen Bescheide und Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme der hälftigen tatsächlichen KdUH unter entsprechender Änderung der Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 1. Oktober 2016 bis 31. Januar 2017 und vom 1. März 2017 bis 30. September 2017 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 19. November 2021). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Hinsichtlich der Zeit bis 31. Dezember 2016 stehe einem Anspruch des Klägers bereits die einjährige Verfallsfrist des § 40 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Absatz 4 Satz 1 SGB X entgegen, die bezogen auf den im Dezember 2018 gestellten Überprüfungsantrag abgelaufen sei. Im Übrigen habe der Kläger, da ein echtes hälftiges Wechselmodell vorgelegen habe, einen Anspruch auf KdUH-Leistungen nur für die Zeit des Aufenthalts bei seinem Vater, d.h. im Umfang eines Viertels der tatsächlich angefallenen KdUH.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Auf die Berufungsschrift vom 29. Dezember 2021 wird Bezug genommen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 4. Februar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2019 zu verpflichten, dem Kläger unter Änderung des Bescheides vom 26. August 2016 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 26. November 2016 und 6. Dezember 2016 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2016 weitere Kosten der Unterkunft und Heizung unter Berücksichtigung eines kopfteiligen Bedarfes in Höhe der hälftigen tatsächlichen Kosten für die Zeiten vom 1. Oktober 2016 bis 31. Januar 2017 und vom 1. März 2017 bis 30. September 2017 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Die Leistungsakten des Beklagten (5 Bände) und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage ist teilweise begründet; das angefochtene Urteil des SG ist insoweit rechtswidrig, als die Klage hinsichtlich der begehrten weiteren KdUH auch für die Zeiträume vom 1. Januar 2017 bis 31. Januar 2017 und vom 1. März 2017 bis 30. September 2017 abgewiesen worden ist. Die Beschränkung auf Bedarfe für KdUH ist zulässig (vgl. nur letztens z.B. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 35/19 –, juris Rn. 8 m.w.N.).
Für den Streitzeitraum bis 31. Dezember 2016 steht einem Klageerfolg – wie das SG zutreffend ausgeführt hat – die Regelung des § 44 Absatz 1 SGB X i.V.m. § 40 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegen. Eine rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung könnte keine Wirkung mehr entfalten, da ausschließlich Leistungen für Zeiten betroffen sind, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag vom Dezember 2018 bestimmten Verfallsfrist liegen, so dass die nicht mehr vorhandene Möglichkeit einer rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen dann auch einer isolierten Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides nach § 44 Absatz 1 SGB X entgegensteht (vgl. BSG, Urteil vom 23. Februar 2017 – B 4 AS 57/15 R = SozR 4-1300 § 44 Nr. 34 Rn. 23 m.w.N). Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die durch § 40 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bewirkte Beschränkung bestehen nicht (vgl. BSG, Urteil vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 37/15 R = SozR 4-4200 § 40 Nr. 10 Rn. 17). Es lässt sich dem Grundgesetz keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt entnehmen, rechtswidrig belastende und rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer formellen Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben oder abzuändern. Im Ergebnis können daher weitere KdUH-Leistungen rückwirkend bis zum 31. Dezember 2016 nicht mehr erbracht werden.
Anders verhält es sich mit der KdUH-Bewilligung des Beklagten für Januar 2017 und für den Zeitraum von März 2017 bis September 2017; sie betrifft Leistungen für Zeiten, die innerhalb der durch den Rücknahmeantrag vom Dezember 2018 bestimmten Verfallsfrist liegen. Sie war in dem zur Prüfung gestellten Umfang rechtswidrig und daher abzuändern (§ 44 Absatz 1 SGB X). Als Unterkunftsbedarf war nicht nur ein Viertel der tatsächlichen monatlichen KdUH i.H.v. 114,75 Euro (Januar 2017) bzw. mtl. 135,50 Euro (März bis Oktober 2017) anzusetzen, sondern der kopfteilig umzulegende Bedarf in Höhe der Hälfte der tatsächlichen angemessenen Kosten.
Die Grundvoraussetzungen, um Sozialgeld zu erhalten § 7 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 Satz 1 SGB II), erfüllte der mit seinem Vater in (temporärer) Bedarfsgemeinschaft lebende Kläger (§ 7 Absatz 3 Nr. 1 und Nr. 4 SGB II).
Der Kläger verbrachte – was im Übrigen zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist – im Rahmen eines echten hälftigen Wechselmodells jeweils die Hälfte des jeweiligen Monats abwechselnd bei den erziehungsberechtigten Elternteilen. Betreuen getrennt lebende Eltern ihre Kinder gleichmäßig im Sinne eines familienrechtlichen Wechselmodells, haben die Kinder einen grundsicherungsrechtlich anzuerkennenden Wohnbedarf in den Wohnungen beider Eltern (vgl. BSG, Urteil vom 11. Juli 2019 – B 14 AS 23/18 R –, juris). Zu Recht hat der Beklagte daher die von ihm für die Unterkunft des Vaters als für zwei Haushaltsmitglieder angemessen anerkannten tatsächlichen KdUH-Bedarfe (vgl. BSG a.a.O., Rn 19, 21) kopfteilig auf den Kläger und dessen Vater verteilt. Indes waren dem Kläger die KduH nicht nur für die Zeiten seines tatsächlichen Aufenthalts in der Wohnung seines Vaters zu gewähren; vielmehr war er grundsicherungsrechtlich als weiteres Haushaltsmitglied mit der Folge zu berücksichtigen, dass bei ihm ein kopfteiliger Bedarf in Höhe der hälftigen tatsächlichen Kosten anzuerkennen war.
Sinn und Zweck der im Rahmen des SGB II zu gewährenden Leistungen für Unterkunft und Heizung ist die Befriedigung des Grundbedürfnisses, eine Wohnung als räumlichen Lebensmittelpunkt zu besitzen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2016 – B 4 AS /15 R = SozR 4-4200 § 22 Nr. 89, Rn. 17 m.w.N.). Werden mehrere Wohnungen genutzt, ist daher grundsicherungsrechtlich ein Wohnbedarf nur für die Wohnung anzuerkennen, die den Lebensmittelpunkt bildet, also (nur) für die Wohnung, die überwiegend genutzt wird. Durch Leistungen für diese Wohnung wird der Grundbedarf gedeckt. Unterkunftskosten sind daher grundsätzlich nur für eine einzige Wohnung anzuerkennen, selbst wenn tatsächlich zwei Wohnungen als Unterkunft zur Verfügung stehen (BSG a.a.O.). Bei einem Kind, dessen Eltern getrennt leben, liegt der Lebensmittelpunkt des Kindes in der Wohnung des Elternteils, bei dem es sich überwiegend aufhält (BSG a.a.O., Rn. 18). Durch die Sicherstellung des Wohnbedarfs bei diesem Elternteil wird sein Grundbedürfnis auf Wohnen bereits vollständig befriedigt. Eine Aufteilung des Wohnbedarfs des Kindes je nach dem Umfang des Aufenthalts bei dem einen oder anderen Elternteil kommt nicht in Betracht (BSG a.a.O.). Eine Ausnahme ist indes in den Fällen des echten Wechselmodells mit etwa hälftigem Aufenthalt bei beiden Elternteilen zu machen (vgl. BSG a.a.O. Rn. 19 und Urteil vom 11. Juli 2019 – B 14 AS 23/18 R –, Rn. 19, 21). In diesen Fällen lässt sich ein überwiegender Lebensschwerpunkt des Kindes und eine überwiegende Realisierung des Grundbedürfnisses Wohnen nicht feststellen. Um eine solche Ausnahmesituation handelt es sich im vorliegenden Fall des echten Wechselmodells mit abwechselndem hälftigen Aufenthalt bei den Elternteilen. In diesen Fällen haben die Kinder einen gleichwertigen Unterkunftsbedarf beim jeweiligen Elternteil und sind grundsicherungsrechtlich jeweils als weiteres Haushaltsmitglied zu berücksichtigen. So liegt es hier mit der Konsequenz, dass der Kläger einen grundsicherungsrechtlich anzuerkennenden Wohnbedarf in den Wohnungen beider Eltern hat (wobei der bei seiner Mutter bestehende Bedarf hier nicht geltend gemacht worden ist). Im Ergebnis ist bei dem Kläger ein Wohnbedarf in der Wohnung seines Vaters unter Berücksichtigung eines kopfteiligen Bedarfes in Höhe der hälftigen tatsächlichen Kosten und nicht nur eines Viertels – wie vorliegend vom Beklagten und vom SG angenommen – anzuerkennen. Hiergegen spricht nicht, wie das BSG in dem o.a. Urteil vom 11. Juli 2019 (a.a.O., dort Rn. 22) ausdrücklich festgestellt hat, dass die Anerkennung eines doppelten Unterkunftsbedarfs beim Kind dessen sozialrechtliches Existenzminimum entsprechend erhöht (unter Bezugnahme hierauf führt in NZS 2020, 180, 183 aus: „Dass der Senat für den Fall des Wechselmodells einen <eigenen> Wohnbedarf des Kindes in zwei Bedarfsgemeinschaften anerkennt und dabei keine tageweise Berechnung wie beim Lebensunterhalt vornimmt, ist zu begrüßen. Denn der Umstand, dass das Kind bei der Mutter ein Kinderzimmer hat, macht das Kinderzimmer beim Vater eben nicht billiger <und umgekehrt>“). Zu Recht weist das BSG darauf hin, dass die von ihm vorgenommene Auslegung mit den Zielen des Wohngeldgesetzes (WoGG) korrespondiert (a.a.O., Rn. 22): So sieht § 5 Absatz 4 Satz 1 WoGG vor, dass in Fällen, in denen nicht nur vorübergehend getrennt lebende Eltern ein Kind oder mehrere Kinder zu annähernd gleichen Teilen betreuen, jedes dieser Kinder bei beiden Elternteilen Haushaltsmitglied (und entsprechend bei der Berechnung des Wohngeldes zu berücksichtigen) ist. In dem vom BSG entschiedenen Fall war es auch tatsächlich so, dass die gesamten KdUH den dortigen Klägern (einem Vater und seinen 2003 und 2005 geborenen Kindern) kopfanteilig bewilligt worden waren. Vor diesem Hintergrund folgt der Senat nicht dem vom SG zitierten Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 14. Oktober 2020 (L 32 AS 1255/18, juris), soweit darin die Auffassung vertreten wird, dass ein Kind im Fall des hälftigen Wechselmodells einen Unterkunftsbedarf beim jeweiligen Elternteil nur für die Zeit der Betreuung durch diesen Elternteil habe (a.a.O., Rn. 29). Denn diese Auslegung führt grundsicherungsrechtlich dazu, dass das Kind nicht als weiteres vollwertiges Haushaltsmitglied mit einem gleichwertigen Wohnbedarf (und nach Möglichkeit einem eigenen Wohnbereich, vgl. hierzu , Wechselmodell: Psychologie – Recht – Praxis 2013, 79) bei beiden Eltern berücksichtigt wird und z.B. nicht gewährleistet ist, dass ihm ausreichend Platz für seine persönlichen Gegenstände zur Verfügung steht (auf diesen Aspekt hinweisend: Weber in SGb 2021, 89, 95); dies aber widerspricht der genannten Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung anschließt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.