- Eine Versagungsentscheidung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I erledigt sich, wenn eine Behörde dem Adressaten die entzogene verfahrensrechtliche Position vollständig wieder einräumt und ihm ungekürzt Leistungen erbringt.
- Hat sich eine mit Widerspruch angegriffene Verfügung erledigt, muss der Widerspruch grundsätzlich nicht mehr beschieden werden.
- Abhilfe i. S. von § 85 Abs. 2 SGG meint jede Klaglosstellung, sei es durch Abhilfebescheid, durch Rücknahme oder Widerruf des angegriffenen Verwaltungsaktes oder indem die Behörde auf sonstige Weise dem Begehren des Widerspruchführers vollständig entspricht.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Untätigkeit des Beklagten und Berufungsklägers (im Folgenden: Beklagter).
Die Klägerin beantragte bei dem Beklagten Ende März 2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit Bescheid vom 15. Juni 2020 versagte der Beklagte nach § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) der Klägerin und Berufungsbeklagten (im Folgenden: Klägerin) vollständig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab dem 1. März 2020. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin habe trotz Aufforderung vom 15. April 2020 und Erinnerung vom 27. Mai 2020 fehlende Unterlagen nicht eingereicht. Sie sei daher ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen.
Gegen die Entscheidung legte die – nicht durch einen Bevollmächtigten vertretene – Klägerin am 3. Juli 2020 Widerspruch mit der Begründung ein, die Unterlagen seien in den Briefkasten des Beklagten eingeworfen worden.
Mit Bewilligungsbescheid vom 29. Juni 2020 gewährte der Beklagte daraufhin der Klägerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum Juli 2020 bis Dezember 2020, der von ihr weiter beanspruchte Zeitraum 1. März 2020 bis 30. Juni 2020 sei noch nicht abschließend geprüft. Mit weiterem Bescheid vom 10. Juli 2020 bewilligte der Beklagte der Klägerin auch für den Zeitraum März bis Juni 2020 vorläufig die beantragten Leistungen. Ihrem Widerspruch sei damit in vollem Umfang abgeholfen worden.
Am 30. September 2020 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben und geltend gemacht, der Beklagte habe über ihren Widerspruch gegen den Versagungsbescheid nach § 66 SGB I keine Entscheidung getroffen. Der Versagungsbescheid sei auch nach Erlass des Bewilligungsbescheides aufzuheben, da dieser den Versagungsbescheid weder verändert noch ersetzt habe. Der Beklagte hat geltend gemacht, der Versagungsbescheid habe sich durch die Bewilligung von Leistungen erledigt, darüber hinaus fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis für die Klage, die lediglich formale Ausnutzung einer Rechtsposition sei rechtsmissbräuchlich.
Mit Urteil vom 23. September 2021 hat das Sozialgericht Berlin den Beklagten verpflichtet, den Widerspruch vom 29. Juni 2020 zu bescheiden. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte sei weiterhin verpflichtet, eine Entscheidung über den Widerspruch zu treffen. Der Versagungsbescheid vom 15. Juni 2020 habe sich durch die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 10. Juli 2020 nicht erledigt. Mit Nachholung der Mitwirkungshandlung werde der Versagungsbescheid nachträglich rechtswidrig und sei aufzuheben. Die Wirksamkeit entfalle nicht von selbst durch Erledigung auf andere Weise. Der Versagungsbescheid könne mit einer isolierten Anfechtungsklage angegriffen werden, daher könne die Untätigkeitsklage nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden, denn dafür bedürfe es einer Entscheidung des Beklagten im Widerspruchsverfahren.
Gegen das am 14. Oktober 2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 26. Oktober 2021 Berufung beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt und ausgeführt, dass eine Untätigkeit nicht gegeben sei. Nach der Entscheidung über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch fehle es für eine formale Aufhebung der Versagungsentscheidung nicht nur an einem Rechtsschutzbedürfnis, sondern wegen des Fehlens eines fortbestehenden Regelungsgehaltes und der daraus resultierenden Erledigung des Versagungsbescheides auf andere Weise sei eine Aufhebung rechtlich unmöglich. Streitgegenstand eines Rechtsbehelfs gegen einen Versagungsbescheid sei allein das Begehren, das Verwaltungsverfahren nach dessen Aufhebung fortzusetzen. Dies sei mit Erlass des Bewilligungsbescheides vom 10. Juli 2020 jedoch bereits erfolgt. Die Klägerin könne mit der Untätigkeitsklage in der Sache nichts mehr erreichen, sie verhalte sich rechtsmissbräuchlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 23. September 2021 zum Aktenzeichen S 94 AS 6885/20 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bestreitet die Vollmacht des handelnden Sachbearbeiters sowie dessen Auftrag zur Einlegung der Berufung durch den vertretungsberechtigten Geschäftsführer.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge. Diese haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte über die Berufung in der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2022, zu der der Bevollmächtigte der Klägerin ordnungsgemäß geladen worden ist, trotz dessen Abwesenheit entscheiden, da auf diese Möglichkeit in der Ladung hingewiesen worden ist (§ 153 Abs. 1, § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht erhoben worden (§ 151 Abs. 2 SGG). Sie ist statthaft, weil die Beteiligten nicht unmittelbar über eine Geld-, Sach- oder Dienstleistung oder einen darauf gerichteten Verwaltungsakt streiten (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Es bestehen keine Zweifel daran, dass die Berufung ordnungsgemäß im Auftrag des vertretungsberechtigten Geschäftsführers des Beklagten erhoben wurde. Die hieran unsubstantiiert „ins Blaue hinein“ vorgebrachten Zweifel entbehren jeder Grundlage.
Die Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten mit Urteil vom 23. September 2021 zu Unrecht zur Bescheidung des Widerspruchs der Klägerin vom 3. Juli 2020 gegen den Versagungsbescheid vom 15. Juni 2020 verpflichtet. Der Beklagte hat die Bescheidung des Widerspruchs nicht rechtswidrig unterlassen. Ein Widerspruchsbescheid hatte nicht mehr zu ergehen.
Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts zulässig (§ 88 Abs. 1 Satz 1 SGG). Das gleiche gilt, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt (§ 88 Abs. 2 SGG).
Diese Voraussetzungen für die Untätigkeitsklage liegen nicht vor. Die Klägerin hat am 3. Juli 2020 Widerspruch gegen den Versagungsbescheid vom 15. Juni 2020 erhoben, den der Beklagte nicht beschieden hat. Ein Widerspruchsbescheid hatte jedenfalls nach Erlass des Bewilligungsbescheides vom 10. Juli 2020, der eine Entscheidung über die vorläufige Bewilligung von Leistungen für die Zeit von März bis Juni 2020 traf, nicht mehr zu ergehen.
Nach § 85 Abs. 2 Satz 1 SGG ist ein Widerspruchsbescheid zu erlassen, wenn dem Widerspruch nicht abgeholfen wurde. Abgeholfen ist dem Widerspruch, wenn dem Begehren des Widerspruchsführers in vollem Umfang stattgegeben wird. Dann ist der Betroffene klaglos gestellt, weil er durch den angegriffenen Bescheid nicht mehr beschwert ist. Abhilfe i. S. von § 85 Abs. 2 SGG meint jede Klaglosstellung, sei es durch Abhilfebescheid, sei es durch Rücknahme oder Widerruf des angegriffenen Verwaltungsaktes oder indem die Behörde auf sonstige Weise dem Begehren des Widerspruchführers vollständig entspricht. Liegt eine derartige Abhilfeentscheidung im Sinne von § 85 Abs. 1 SGG vor, ist für einen Widerspruchsbescheid kein Raum mehr (LSG Thüringen, Urteil v. 3. September 2015 – L 9 AS 1505/13 –, Rn. 20 juris). Das Vorverfahren ist damit beendet (Claus, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl., § 85 SGG (Stand: 15.07.2017); Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 85 Rn. 2b). Da eine vollständige Abhilfe den Widerspruch erledigt, ergeht in diesem Fall kein (deklaratorischer) Widerspruchsbescheid. Nach Erledigung eines Verwaltungsakts ist ein gegen den Verwaltungsakt eingeleitetes Widerspruchsverfahren vielmehr nicht fortzuführen und einzustellen; eine Widerspruchsentscheidung in der Sache ist unzulässig (st. Rechtspr., vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 20. Januar 1989 – 8 C 30.87 –, BVerwGE 81, 226 ff). Folgerichtig sieht die Rechtsordnung nach einem erledigten Widerspruch auch nicht vor, die vermeintliche Rechtswidrigkeit einer Ausgangsentscheidung von der Behörde mittels eines Fortsetzungsfeststellungswiderspruchs feststellen zu lassen.
Ob und inwieweit einem Widerspruch abgeholfen ist, ergibt sich aus dem Vergleich zwischen beantragter und bewilligter Regelung (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 25. April 2018 – L 25 AS 2931/16 –, Rn. 31 juris; Sächsisches LSG, Urteil v. 19. November 2002 – L 5 RJ 155/02 –, Rn. 17 juris). Dabei kommt es nicht auf die Bezeichnung der Bescheide an, sondern auf deren Beurteilung dem Inhalt nach (LSG Thüringen, Urteil v. 3. September 2015 – L 9 AS 1505/13 –, Rn. 22 juris).
Spätestens der Bewilligungsbescheid vom 10. Juli 2020, wenn nicht bereits die Fortführung des Verwaltungsverfahrens, stellt in der Sache eine Abhilfe des Widerspruchs der Klägerin gegen den Versagungsbescheid dar. Denn sie beseitigt nach § 39 Abs. 2 SGB X die Wirksamkeit des Versagungsbescheides in gleichwertiger Weise wie eine Rücknahme.
Der Beklagte hat dem Widerspruch gegen den Versagungsbescheid vom 15. Juni 2020 voll abgeholfen, indem er das Antragsverfahren fortgesetzt und mit Bewilligungsbescheid vom 10. Juli 2020 der Klägerin vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum März bis Juni 2020 gewährt hat. Denn mit Bewilligung von Leistungen ab März 2020 entfaltet die Leistungsversagung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I keinerlei Regelungswirkung mehr. Der Versagungsbescheid hat sich mit Erlass des Bewilligungsbescheides vom 10. Juli 2020 auf andere Weise im Sinne von § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erledigt (vgl. auch Steinwedel, in: Kasseler Kommentar, SGB X, 117. EL Dezember 2021, § 39 Rn. 24). Mit der Versagungsentscheidung nach § 66 SGB I ist der Klägerin ausschließlich ihre verfahrensrechtliche Position im Verwaltungsverfahren entzogen worden, mit Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens ist diese Position ihr erneut eingeräumt worden. Durch diese Änderung ist das Regelungsobjekt des Versagungsbescheides vollständig entfallen, denn nach der rückwirkenden Bewilligung der zuvor ab 1. März 2020 versagten Leistungen verbleibt für die Leistungsversagung kein Anwendungsbereich mehr (vgl. in diesem Zshg.: BSG, Urteil v. 11. Februar 2015 – B 6 KA 7/14 R –, Rn. 18 juris mwN; Bayerisches LSG, Urteil v. 13. November 2008 – L 7 AS 266/08 -, Rn. 14 und Beschluss v. 29. Dezember 2010 – L 16 AS 738/10 -, Rn. 20 f juris). Der Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass irgendeine Beschwer der Klägerin nicht einmal ansatzweise ersichtlich ist. Die Klägerin ist dem nicht entgegengetreten, nicht einmal sie behauptet eine durch den Ausgangsbescheid noch fortwirkende Beschwer.
Dem steht auch nicht entgegen, dass es sich bei der Versagungsentscheidung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt (so BSG, Urteil v. 22. Februar 1995 – 4 RA 44/94, Rn. 20 juris für die Entziehungsentscheidung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I), der für die Dauer seiner Wirksamkeit entstehende Leistungsansprüche zukunftsgerichtet untergehen lässt. Die Behörde muss einen Dauerverwaltungsakt nämlich auf fortbestehende Rechtmäßigkeit überwachen, weil für seine rechtliche Beurteilung grundsätzlich die jeweils aktuelle Sach- und Rechtslage maßgeblich ist. Wenn die Voraussetzungen einer Versagung wegen nachgeholter Mitwirkung nicht mehr gegeben sind, ist grundsätzlich ein Dauerverwaltungsakt nach § 48 SGB X aufzuheben. Auch ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung kann sich indes erledigen. In diesem Fall scheidet eine Aufhebung oder ein Widerruf aus, es ist generell nicht Aufgabe der Verwaltung, erledigte Verwaltungsakte aufzuheben. Folgerichtig besteht auch kein subjektiv-öffentlicher Anspruch auf Aufhebung erledigter Regelungen (BSG, Urteil vom 16. Juni 2021 – B 5 RE 4/20 R –, Juris Rn. 31f). Hat – wie in dem vorliegenden Fall – eine Behörde nach feststehender vollständiger Mitwirkung den Anspruch des Betreffenden auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die nachträgliche Erbringung versagter Sozialleistungen nach § 67 SGB I i. V. m. § 39 Abs. 1 SGB I durch eine vollständige Wiedereinsetzung in die entzogene verfahrensrechtliche Position und die ungekürzte Leistungserbringung rückwirkend auf den Beginn der Versagung erfüllt, regelt die Versagungsentscheidung nichts mehr. Sie hat sich vollständig erledigt, für eine Aufhebung ist kein Raum (vgl. Sichert, in: Hauck/Noftz, SGB I, § 66 Rn. 30).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.