L 3 U 2/21

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 11 U 52/19
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 3 U 2/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zur Auslegung von § 90 Abs 1, 2 und 4 SGB VII aF.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. November 2020 geändert.

Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheids vom 9. Juni 2016 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 12. März 2019 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. April 2019 verurteilt, der Klägerin ab 1. August 2021 eine Verletztenrente nach einem Jahresarbeitsverdienst von 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ein Zehntel der notwendigen außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts <SG> Hildesheim, mit dem ihre Klage auf Gewährung einer höheren Verletztenrente im Anschluss an den Arbeitsunfall vom 14. Juli 2013 abgewiesen worden ist. Sie begehrt die Berechnung der Verletztenrente auf der Grundlage eines höheren Jahresarbeitsverdienstes <JAV>, insbesondere unter Berück­sichtigung eines hypothetischen Ausbildungsabschlusses.

Die Klägerin (*31. Juli 1991; Grad der Behinderung <GdB> 100, Merkzeichen: G, aG, H) verließ die allgemeinbildende Schule im Jahr 2009 mit dem Realschulabschluss. Eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin musste sie im Dezember 2009 krankheitsbedingt abbrechen. Anschließend war sie bis November 2012 krank und ohne Beschäftigung. Unter dem 1. März 2013 unterzeichnete sie einen Ausbildungsvertrag mit der I. -Klinik Northeim GmbH über eine Ausbildung für den Beruf einer Gesundheits- und Krankenpflegerin (Bl 137 des von der beklagten Unfallkasse übersandten Verwaltungsvorgangs <VV>). Als Ausbildungsbeginn war der 1. Oktober 2013 vereinbart; die Ausbildung sollte am 30. September 2016 enden.

Am 14. Juli 2013 war die Klägerin als ehrenamtliche Helferin beim Deutschen Roten Kreuz <DRK> tätig, als sie auf der Fahrt zu einem Einsatz bei einem Reitturnier in einem Kranken­transportwagen <KTW> verunfallte und sich schwerste Verletzungen zuzog. Zum Zeitpunkt des Unfalls war sie arbeitsuchend gemeldet. Im Jahr vor dem Unfall hatte sie kein Entgelt bezogen.

Die Beklagte erkannte das Ereignis vom 14. Juli 2013 (konkludent) als Arbeitsunfall an, stellte diverse gesundheitliche Beeinträchtigungen als dessen Unfallfolgen fest, lehnte die Feststellung weiterer, im einzelnen angeführter Gesundheitsbeeinträchtigungen als Unfallfolge ab und bewilligte der Klägerin ab dem 15. Juli 2013 eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> von 100 vH (Bescheid vom 9. Juni 2016 = Bl 1789 VV). Der Berechnung der Rentenhöhe legte sie den Mindest-JAV aus § 85 Abs 1 S 1 Nr 2 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch <SGB VII> zugrunde. Die Beklagte bewilligte der Klägerin außerdem Mehrleistungen zur Verletztenrente iH von monatlich 300 Euro gem § 94 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB VII iVm § 20 ihrer Satzung (Bescheid vom 24. Juni 2016 = Bl 1833 VV).

Gegen den Bescheid vom 9. Juni 2016 erhob die Klägerin am 21. Juni 2016 Widerspruch (Bl 1873 VV). Sie begehrte zum einen die Feststellung weiterer Unfallfolgen (Karpaltun­nelsyndrom beidseits, Beschwerden der linken Schulter sowie psychische Beschwerde­symptomatik), zum anderen wandte sie sich gegen die Berücksichtigung des Mindest-JAV als Berechnungsgrundlage für die Verletztenrente. Vor dem Hintergrund von § 90 SGB VII erscheine es unbillig, sie dauerhaft auf den Mindest-JAV festzulegen. Die Vorschrift sei auch im Zusammenhang mit Zeiten zwischen Ausbildungsabschnitten anzuwenden.

Im Anschluss an umfangreiche weitere Ermittlungen erließ die Beklagte mit Datum 12. März 2019 einen Teilabhilfebescheid (Bl 414 VV-neue Zählung <nZ>) und erkannte weitere Unfallfolgen an (Karpaltunnelsyndrom beidseits; posttraumatische Belastungsstörung [mit im Einzelnen aufgeführten Symptomen]). Im Übrigen hatte der Widerspruch keinen Erfolg und wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. April 2019 zurückgewiesen (Bl 475 VV-nZ). Eine Anwendung von § 90 Abs 1 SGB VII komme nicht in Betracht, weil sich der Unfall nicht während einer Berufsausbildung oder in einer notwendigen Übergangszeit ereignet habe. Die Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin sei im Dezember 2009 krankheitsbedingt abgebrochen worden. Die Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin hätte erst am 1. Oktober 2013 begonnen. Die Zeit zwischen dem Abbruch der Ausbildung und dem Arbeitsunfall könne nicht als Übergangszeit angesehen werden, weil die Klägerin bis November 2012 krank und nicht erwerbstätig gewesen sei und folglich dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden habe. Da die Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls beschäftigungslos gewesen sei, scheide eine Anwendung von § 90 Abs 2 SGB VII ebenfalls aus.

Die Klägerin hat am 22. Mai 2019 Klage bei dem SG Hildesheim erhoben und die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer höheren Verletztenrente begehrt (Schriftsatz vom 21. Mai 2019). Sie sei nicht damit einverstanden, dauerhaft an einer Rentenberechnung aus dem Mindest-JAV festgehalten zu werden; es habe für die Zeit ab 1. Oktober 2016 eine Neufestsetzung des JAV nach § 90 SGB VII zu erfolgen. Zwar habe sie zum Unfallzeitpunkt nicht in einer Schul- oder Berufsausbildung gestanden, der Arbeitsunfall habe sich jedoch in einem engen zeitlichen Zusammenhang zur Ausbildung ereignet. Deren Beginn habe unmittelbar bevorgestanden und auch der Ausbildungsberuf habe bereits konkret festgestanden. Im Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit habe sie überdies berufliche Kenntnisse erworben, die einen besonderen inneren Zusammenhang zwischen der Tätigkeit zum Unfallzeitpunkt und dem Ausbildungsberuf begründeten. Es sei der Wille des Gesetzgebers, junge Versicherte nicht dauerhaft am Mindest-JAV festzuhalten (wird unter Hinweis auf § 90 Abs 4 SGB VII ausgeführt).

Die Beklagte ist dem Begehren mit einem Hinweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen­getreten (Schriftsatz vom 24. Juni 2019).

Das SG Hildesheim hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. November 2020 = Bl 86 dA). Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Neuberechnung der Verletztenrente unter Berücksichtigung eines höheren JAV. Die Voraussetzungen für eine Anpassung dieses Berechnungsfaktors im Zusammenhang mit einer Schul- oder Berufsausbildung (§ 90 Abs 1 S 1 SGB VII) lägen nicht vor, weil der Unfall weder während einer solchen Ausbildung noch während einer Übergangs­zeit eingetreten sei. Zum Unfallzeitpunkt sei die Schulausbildung seit mehreren Jahren abgeschlossen gewesen. Eine im Anschluss an die Schule begonnene Ausbildung habe die Klägerin nach wenigen Wochen im Dezember 2009 aus gesundheitlichen Gründen abbrechen müssen. Die vertraglich vereinbarte Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin ab dem 1. Oktober 2013 habe noch nicht begonnen gehabt. Zwar könnten auch Zeiten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten zu berücksichtigen sein, das setze aber deren Üblichkeit voraus. Anknüpfungspunkt für eine entsprechende Auslegung der Vorschrift sei der Umstand, dass Unterbrechungen zwischen zwei Ausbildungsabschnitten regelmäßig nicht zu vermeiden seien. Ein solcher Sachverhalt liege hier nicht vor, weil zwischen dem Abbruch der ersten Ausbildung (Dezember 2009) und der Bewerbung um den zweiten Ausbildungsplatz mehrere Jahre gelegen hätten. Der Rspr des Bundessozialgerichts <BSG> lasse sich auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung <gUV> für das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen Ausbildungsabschnitten ein Zeitraum von vier Monaten als Richtwert entnehmen. Dieser sei vorliegend um ein Vielfaches überschritten. Außerdem sei die Klägerin während dieser Zeit langwierig erkrankt gewesen und habe dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden. Da sie zum Zeitpunkt des Unfalls ehrenamtlich tätig gewesen sei und kein Einkommen bezogen habe, scheide auch eine Anwendung von § 90 Abs 2 SGB VII aus. Die Entscheidung ist der Klägerin in elektronischer Form am 14. Dezember 2020 zugestellt worden (Empfangsbekenntnis unter Bl 91 dA).

Hiergegen richtet sich die von der Klägerin bei dem Landessozialgericht <LSG> Niedersachsen-Bremen am 8. Januar 2021 eingelegte Berufung. Sie hält daran fest, dass die Verletztenrente gem § 90 SGB VII neu festzusetzen sei. Der Abbruch der ersten Ausbildung (Dezember 2009) sei krankheitsbedingt erfolgt. Sobald sie wieder arbeitsfähig gewesen sei, habe sie sich um einen neuen Ausbildungsplatz unter Berücksichtigung der fortbestehenden krankheitsbedingten Einschränkungen bemüht. Das SG habe nicht berücksichtigt, dass weder der Abbruch der Ausbildung noch die Dauer der Erkrankung (über drei Jahre) nicht von ihr verschuldet gewesen sei. Gerade der Umstand der langwierigen Erkrankung und der notwendigen beruflichen Neuorientierung begründe einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den Ausbildungsabschnitten. Überdies habe sie die ehrenamtliche Tätigkeit beim DRK in Vorbereitung auf die angestrebte Ausbildung aufgenommen. Das SG habe unzutreffend eine Anwendung von § 90 Abs 4 SGB VII nicht geprüft. Es sei unbillig, dass sie, die krankheits­bedingt eine Ausbildung habe abbrechen müssen, deren Arbeitsunfähigkeit länger als vier Monate andauerte und die zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bereits konkret eine neue Ausbildung anstrebte, bei der Rentenberechnung schlechter gestellt werde als andere junge Versicherte, die sich zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch in Schul- oder Berufsausbildung befunden haben. Hilfsweise beruft sich die Klägerin auf § 90 Abs 1 SGB VII in der seit 1. Januar 2021 geltenden Fassung von Art 7 Nr 13 des Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 (BGBl I 1248; § 90 SGB VII neue Fassung <nF>).

Die Klägerin stellt den Antrag,          

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. November 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Änderung des Bescheids vom 9. Juni 2016 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 12. März 2019 und in der Gestalt des Wider­spruchsbescheids vom 29. April 2019 ab 1. Oktober 2016 eine höhere Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung aus deren Gründen für zutreffend. Über einen Anspruch auf Neufestsetzung nach § 90 Abs 1 SGB VII nF werde zu gegebener Zeit entschieden werden.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze und den weiteren Inhalt der Verfahrensakte sowie den von der Beklagten übersandten Verwaltungsvorgang verwiesen. Diese Unterlagen haben dem Senat vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil vom 19. November 2020 ist zulässig und teilweise begründet.

A.    Gegenstand des Verfahrens sind das von der Klägerin angefochtene Urteil des SG Hildesheim vom 19. November 2020 und der Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2016 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 12. März 2019 (vgl § 86 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>) und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. April 2019 (vgl § 95 SGG), soweit die vor dem SG erhobene Klage reicht und nicht bereits Bestandskraft eingetreten ist. Letzteres betrifft den Teil des Bescheids, mit dem die Beklagte das Ereignis vom 14. Juli 2013 als Arbeitsunfall iS von § 8 Abs 1 SGB VII und die damit in einem Zusammenhang stehenden Unfallfolgen anerkannt hat. Die Klägerin hat ihr Begehren mit der Klageschrift vom 21. Mai 2019 auf den Gesichtspunkt der Rentenhöhe (Neufestsetzung des JAV gem § 90 SGB VII in der bis 31. Dezember 2020 geltenden Fassung <aF>) gerichtet und die Klage damit auf einen Streit über die Höhe der zu gewährenden Verletztenrente beschränkt. Das ergibt sich unzweifelhaft sowohl aus dem von ihr formulierten Antrag als auch aus ihrem Vorbringen im Übrigen. Die von der Beklagten getroffenen Feststellungen von Unfallfolgen hat sie im Anschluss an den Teilabhilfebescheid vom 12. März 2019 (hinsichtlich der geklagten Schulterbeschwerden) nicht weiter angegriffen. Da es sich bei der Feststellung von Unfallfolgen und der Bewilligung einer Verletztenrente um jeweils eigenständige Verfügungen (Verwaltungsakte <VA>) iS von § 31 S 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch <SGB X> handelt, können Widerspruch und Klage insoweit jeweils auf den einen oder anderen VA beschränkt werden (vgl das Senatsurteil vom 14. Dezember 2021 – L 3 U 68/19, S 9 f des Umbruchs [B.]).

 

B.    Die Berufung der Klägerin ist statthaft und auch sonst zulässig.

I.     Die Berufung ist gegen Urteile der Sozialgerichte statthaft (§ 143 Halbs 1 SGG), soweit sich nicht aus den (weiteren) Vorschriften des Ersten Unterabschnitts zum Zweiten Abschnitt des SGG etwas anderes ergibt (§ 143 Halbs 2 SGG). Zu den Vorschriften, aus denen sich etwas anderes ergibt, zählt § 144 SGG. Nach § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld‑, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten VA betrifft, 750 Euro nicht übersteigt und keine wiederkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen sind (§ 144 Abs 1 S 2 SGG). Vorliegend streiten die Beteiligten über die Höhe einer Verletztenrente und damit um eine Geldleistung iS von § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG. Da die Rente auf unbestimmte Zeit bewilligt worden ist, geht es um laufende Leistungen für mehr als ein Jahr iS von § 144 Abs 1 S 2 SGG und die Berufung ist unabhängig von der Höhe der Beschwerde statthaft.

II.    Die Berufung ist bei dem LSG innerhalb der vorgesehenen Frist von einem Monat (§ 151 Abs 1 SGG) und damit fristgerecht eingelegt worden.

C.    Die Berufung der Klägerin ist teilweise begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2016 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 12. März 2019 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. April 2019 ist für die Zeit ab 1. August 2021 rechtswidrig und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten.

I.     Die gegen diese Bescheide und – im Anschluss an den richterlichen Hinweis vom 28. Mai 2019 (Bl 59 dA) – auf Gewährung einer höheren Verletztenrente gerichtete Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1, Abs 4 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der anfangs außerdem gestellte Antrag auf Neufestsetzung des JAV gem § 90 SGB VII aF wäre als eigener Klagegegenstand unzulässig gewesen, weil es sich bei dem JAV lediglich um ein Berechnungselement (Wertfaktor) im Rahmen der Vorbereitung der Feststellung des Werts des Rechts auf Verletztenrente handelt (BSG, Urteil vom 19. Dezember 2013 – B 2 U 5/13 R, SozR 4-2700 § 90 Nr 3 = juris, jeweils Rn 12; sa BSG, Urteil vom 18. September 2012 – B 2 U 14/11 R, juris Rn 18).

II.    In der Sache hat die Klage in geringem Umfang Erfolg. Die ab 15. Juli 2013 zu leistende Verletztenrente war von der Beklagten im Zeitpunkt der Bekanntgabe des angefochtenen Bescheids vom 9. Juni 2016 zutreffend berechnet worden (hierzu 1.). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine höhere Verletztenrente ab 1. Oktober 2016 infolge einer Neufestsetzung des JAV gem § 90 Abs 1 SGB VII aF und auch nicht infolge einer Neufestsetzung gem § 90 Abs 2 SGB VII aF (hierzu 2.). Ein Anspruch der Klägerin auf eine höhere Verletztenrente folgt ab 1. August 2021 aber aus der gem § 90 Abs 1 SGB VII nF vorzunehmenden Neufestsetzung des JAV (hierzu 3.).

1.    Bei Erlass des Bescheids vom 9. Juni 2016 war die Verletztenrente unter Berücksichtigung des Mindest-JAV festzusetzen. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versiche­rungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente (§ 56 Abs 1 S 1 SGB VII). Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird Vollrente geleistet; sie beträgt zwei Drittel des JAV (§ 56 Abs 3 S 1 SGB VII). Die Beklagte ist bei der erstmaligen Festsetzung der Verletztenrente in den angefoch­tenen Bescheiden von einer MdE von 100 vH (vgl § 56 Abs 2 SGB VII) und dem Mindest-JAV (§ 85 Abs 1 SGB VII) ausgegangen. Das ist nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen für die Berücksichtigung eines höheren als des Mindest-JAV lagen im Erlasszeitpunkt nicht vor. Der damals zu berücksichtigende Zeitraum wird bestimmt durch den vorliegend für den Beginn der Rentenzahlung maßgeblichen Tag nach Eintritt des Versicherungsfalls (§ 72 Abs 1 Nr 2 SGB VII, weil die Klägerin keinen Anspruch auf Verletztengeld hatte) und dem für eine Neufestsetzung nach voraussichtlicher Berufsausbildung in Frage kommenden Zeitpunkt, dem Zeitpunkt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall von der Klägerin voraussichtlich beendet worden wäre (§ 90 Abs 1 S 1 SGB VII aF; zu dem – zu verneinenden – Anspruch auf entsprechende Neufestsetzung s 2.).

a)    Die Beklagte hat ihrer ursprünglichen Rentenfestsetzung zutreffend 60 Prozent der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls (Arbeitsunfall am 14. Juli 2013, § 7 Abs 1 SGB VII) maßgebenden Bezugsgröße (§ 18 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch <SGB IV>), den sog Mindest-JAV, zugrunde gelegt (vgl § 85 Abs 1 SGB VII). Die 1991 geborene Klägerin hatte im Zeitpunkt des Versicherungsfalls das 18. Lebensjahr vollendet. Eine Regelberechnung nach § 82 SGB VII war nicht möglich, weil die Klägerin in den 12 Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, weder Arbeitsentgelt iS von § 14 SGB IV noch Arbeitseinkommen iS von § 15 SGB IV bezogen hat (vgl § 82 Abs 1 S 1 SGB VII).

Eine Anwendung von § 87 SGB VII (hier in der bis 31. Dezember 2020 geltenden Fassung) kommt nicht in Betracht. Die Vorschrift mit der amtlichen Überschrift „Jahresarbeitsverdienst nach billigem Ermessen“ ist auf die Korrektur unbilliger Ergebnisse der allgemeinen Vorschriften zur Bemessung des JAV beschränkt, erlaubt also keine Festsetzung des JAV nach freiem Ermessen unter Berücksichtigung anderer als wirtschaftlicher Aspekte (allg Auffassung, s nur Keller in: Hauck/Noftz, SGB VII, K § 87 – Stand Lfg. 1/21 I/21 – Rn 1; Schudmann in: Brandenburg, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl 2022, § 87 – Stand 15. Januar 2022 – Rn 7). Es besteht damit von vornherein keine Möglichkeit, den von der Klägerin geltend gemachten Umstand der unverschuldeten Vorerkrankung und der damit verbundenen Folgen für ihre Ausbildungs­biografie zu berücksichtigen.

Ist ein nach der Regelberechnung, nach den Vorschriften bei Berufskrankheiten, den Vorschriften für Kinder oder nach der Regelung über den Mindest-JAV festgesetzter JAV in erheblichem Maße unbillig, wird er nach billigem Ermessen im Rahmen von Mindest- und Höchst-JAV festgesetzt (§ 87 S 1 SGB VII); hierbei werden insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des Versicherungsfalls berücksichtigt (§ 87 S 2 SGB VII). Es sollen atypische Fallgestaltungen bei der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Basis eines Versicherten erfasst und – ausgerichtet ua an dessen Lebensstandard – für diesen zu einem billigen Ergebnis geführt werden; Ziel der Regelung ist es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert wird, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet hat (BSG, Urteil vom 26. April 2016 – B 2 U 14/14 R, SozR 4-2700 § 90 Nr 4 = juris, jeweils Rn 23 zur Vorgängerregelung § 577 RVO; sa BT-Drucks IV/120 S 57, ebenfalls zu § 577 RVO). Für die Lebensstellung ist darauf abzustellen, welche Einkünfte die Einkommenssituation des Versicherten innerhalb einer Jahresfrist vor dem Versicherungsfall geprägt haben (hierzu und zum Folgenden: BSG, aaO, jeweils Rn 24; Urteil vom 15. September 2011 – B 2 U 24/10 R, SozR 4-2700 § 87 Nr 2 = juris, jeweils Rn 25). Die Einnahmen aus Erwerbstätigkeit im maßgeblichen Jahreszeitraum sind mit dem Ergebnis der gesetzlichen Berechnung zu vergleichen. Durch diesen Vergleich ergibt sich, ob der nach gesetzlichen Vorgaben festgesetzte Betrag des JAV außerhalb jeder Beziehung zu den Einnahmen steht, die für den Versicherten zum Zeitpunkt des Versicherungs­falls oder innerhalb der Jahresfrist vor diesem Zeitpunkt die finanzielle Lebensgrundlage gebildet haben. In den letzten 12 Monaten vor dem Versicherungsfall war die Klägerin nicht erwerbstätig und hat insoweit keine Einnahmen erzielt. Die Festsetzung des JAV war daher vorliegend nicht in erheblichem Maße unbillig.

Einwände gegen das Zahlenwerk oder die Berechnung hat die Klägerin nicht vorgebracht. Auch von Amts wegen bestehen keine Bedenken an der Rechtmäßigkeit.

b)    Die von der Klägerin begehrte Anwendung von § 90 Abs 4 SGB VII aF kam für die Festsetzung des JAV nicht in Betracht, auch wenn die Klägerin zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls bereits 21 Jahre alt gewesen ist (und im Laufe des Verfahrens das 25. Lebensjahr vollendet hat).

Die bis 31. Dezember 2020 geltende Vorschrift sah für Fälle, in denen der Versicherungsfall vor Beginn der Berufsausbildung eingetreten war und sich auch unter Berücksichtigung der weiteren Schul- oder Berufsausbildung nicht feststellen ließ, welches Ausbildungsziel die Versicherten ohne den Versicherungsfall voraussichtlich erreicht hätten, eine Neufestsetzung des JAV mit Vollendung des 21. Lebensjahres auf 75 vH und mit Vollendung des 25. Lebensjahres auf 100 vH der zu diesen Zeitpunkten maßgebenden Bezugsgröße vor. Die Regelung ergänzt und modifiziert, wie sich nicht zuletzt aus den Worten „vor Beginn der Berufsausbildung“ und „unter Berücksichtigung der weiteren Schul- oder Berufsausbildung“ sowie „Ausbildungsziel“ ergibt, die in § 90 Abs 1 SGB VII aF vorgesehene Neufestsetzung des JAV im Zusammenhang mit dem (hypothetischen) Erreichen berufsqualifizierender Abschlüsse (allg zu Sinn und Zweck sowie Systematik von § 90 SGB VII aF: BSG, Urteil vom 18. September 2012 – B 2 U 11/11 R, BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2 = juris, jeweils Rn 33 ff). Sie findet nach ihrem Sinn und Zweck grds. auch bei der erstmaligen Festsetzung der JAV nach Erreichen der beiden genannten Altersstufen Anwendung (vgl BSG, Urteil vom 26. April 2016 – B 2 U 14/14 R, SozR 4-2700 § 90 Nr 4 = juris, jeweils Rn 20 zu § 573 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung <RVO>).

Dennoch war § 90 Abs 4 SGB VII aF vorliegend nicht einschlägig. Das folgt bereits aus dem Umstand, dass der Versicherungsfall nicht „vor Beginn der Berufsausbildung“ eingetreten ist. Damit ist nicht irgendeine Berufsausbildung im Laufe eines Lebens gemeint, sondern – wie sich aus dem sogleich näher zu zeigenden Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt – die erste Berufsausbildung (die von der Klägerin im Herbst 2009 aufgenommen worden war). Die Vorschrift ergänzt, wie schon erwähnt, § 90 Abs 1 SGB VII aF und zwar in den Fällen, in denen keine Erkenntnisse über das zu erreichende Ausbildungsziel zu erlangen sind, und soll – in Abweichung von § 90 Abs 1 SGB VII aF – eine pauschalierte Neufestsetzung unter Abstellen auf die Bezugsgröße ermöglichen. Sie kann damit nur für Versicherte im (frühen) Schulkindalter Geltung erlangen (dahingehend schon BT-Drucks 13/2204 S 96: „für bestimmte Unfälle im Kindesalter“; „Versicherungsfall im frühen Lebensalter“) und auch Rspr und Schrifttum sehen den vierten Absatz stets in einem Zusammenhang mit § 90 Abs 1 SGB VII aF (s BSG, Urteil vom 18. September 2012 – B 2 U 11/11 R, aaO Rn 35 und Rn 15; H. Becker in: ders/Franke/Molkentin, SGB VII, 5. Aufl 2018, § 90 Rn 16; Ricke in: KassKomm, § 90 SGB VII – Stand 103. EL März 2019 – Rn 28; vgl auch Lauterbach, UV-SGB VII, § 90 – Stand 4. Aufl 17. Lfg April 2002 – Rn 34). Für die Klägerin bestehen solche Unsicherheiten offensichtlich nicht. Sie hatte bereits im Herbst 2009 eine Ausbildung (zur Heilerziehungspflegerin) begonnen und am 1. März 2013 einen Ausbildungsvertrag über eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin unterschrieben. Eine Anwendung von § 90 Abs 4 SGB VII aF kommt also auch deshalb nicht in Betracht, weil das Ausbildungsziel der Klägerin feststand. Damit ist vorliegend bei der Prüfung einer Neufestsetzung des JAV im Zusammenhang mit der Berufsausbildung (allein) § 90 Abs 1 SGB VII aF anzuwenden (hierzu sogleich <2.>).

2.a) Die Klägerin hat aber keinen Anspruch auf eine höhere Verletztenrente infolge einer Neufestsetzung des JAV gem § 90 Abs 1 SGB VII aF zum 1. Oktober 2016. Satz 1 der Vorschrift lautet: Tritt der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung der Versicherten ein, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre oder bei einem regelmäßigen Verlauf der Ausbildung tatsächlich beendet worden ist. Der Neufestsetzung wird das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort der Versicherten gilt (Satz 2).

Die Vorschrift ist trotz ihres zwischenzeitlichen Außerkrafttretens (mit Ablauf des 31. Dezember 2020) auf den vorliegenden Fall noch anzuwenden, weil es sich bei der Verletztenrente um eine Dauerleistung handelt und Zeiten im Streit stehen, zu denen die Vorschrift noch galt. Allerdings liegen ihre tatbestandlichen Voraussetzungen nicht vor. Zwar bedarf es keines inneren Zusammenhangs zwischen dem Versicherungsfall und der Schul- oder Berufsausbildung, es wird aber (zumindest) ein zeitlicher Zusammenhang vorausgesetzt (BSG, Urteil vom 7. November 2000 – B 2 U 31/99 R, SozR 3-2700 § 90 Nr 1 S 4 = juris Rn 17 mwN; Urteil vom 18. September 2012 – B 2 U 11/11 R, BSGE 112, 43 = SozR 4-2700 § 90 Nr 2 = juris, jeweils Rn 27). Ein solcher ist unproblematisch gegeben, wenn der Versicherungsfall während der schulischen oder beruflichen Ausbildungszeit eintritt. Rspr und Schrifttum gingen darüber hinaus – unter Orientierung an BSG-Entscheidungen zum Recht der gesetzlichen Renten­ver­sicherung – davon aus, dass als Zeit der Schul- und Berufsausbildung nicht nur die Zeit anzusehen ist, in der Versicherte tatsächlich an Ausbildungsmaßnahmen teilnehmen, sondern auch die Zeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (sog Übergangszeit), sofern sich diese im Rahmen des Üblichen hält (hierzu und zum Folgenden: BSG, Urteil vom 7. November 2000 – B 2 U 31/99 R, aaO, Rn 18). Einbezogen werden sollten damit Unterbrechungen, die mit der Schul- und Berufsausbildung notwendigerweise oder regelmäßig verbunden sind. Das sind ua solche, die der Ausbildung eigentümlich, also nicht vom Auszubildenden zu vertreten sind und auf schul- bzw hochschulorganisatorischen Ursachen beruhen. Diese die Ausbildung verzögernden, aber ihr zuzurechnenden Übergangszeiten (zwischen zwei Ausbildungs­abschnitten) können in der Regel eine Dauer von bis zu vier Monaten haben.

Hier trat der Versicherungsfall nicht während einer solchen Übergangszeit ein. Die letzte Ausbildung der Klägerin vor dem Unfall am 14. Juli 2013 war die im Dezember 2009 abgebrochene Berufsausbildung zur Heilerziehungspflegerin. Zwischenzeitlich waren mehr als dreieinhalb Jahre vergangen. Hierbei handelt es sich weder um eine notwendige noch um eine regelmäßig mit dem Übergang zwischen zwei Ausbildungsabschnitten verbundene Unterbrechung. Ist der zeitliche Zusammenhang aufgehoben, kommt es im weiteren Verlauf auf den zeitlichen Abstand zwischen dem Versicherungsfall und der Aufnahme einer weiteren Ausbildung nicht an. Die Rspr des BSG stellt auf die Zeit zwischen den Ausbildungsabschnitten und nicht zwischen Versicherungsfall und Ausbildung ab. Diese Sichtweise ist seit 1. Januar 2021 auch im Gesetz verankert worden. In § 91 Abs 4 S 2 SGB VII nF wird im Zusammenhang mit der Neufestsetzung nach Schul- oder Berufsausbildung eine entsprechende Anwendung von § 67 Abs 3 Nr 2 Buchst b SGB VII normiert. Damit gilt nunmehr eine Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten von höchstens vier Kalendermonaten.

Hiergegen kann die Klägerin mit ihren Einwänden nicht durchdringen. Soweit sie eine Schlechterstellung gegenüber Versicherten geltend macht, die sich im Zeitpunkt des Versicherungsfalls in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden, findet die unterschiedliche Behandlung ihren Grund in den oben dargestellten Erwägungen: Der zeitliche Abstand zwischen zwei Ausbildungsabschnitten ist bei der Klägerin um ein Vielfaches länger als die üblicher- und notwendigerweise mit dem Übergang verbundene Pause in der Ausbildungsbiografie. Dass die Klägerin insoweit kein Verschulden trifft, weil sie den Großteil der Zeit arbeitsunfähig erkrankt gewesen war, ist ebenso zutreffend wie rechtlich unerheblich. Die Rspr des BSG und das geltende Recht beziehen die Übergangszeiten mit ein, weil aus organisatorischen Gründen ein nahtloser Übergang von einem Ausbildungsabschnitt zum nächsten in Deutschland praktisch nicht möglich ist. In der Person des Versicherten liegende Gesichtspunkte spielen keine Rolle. Die gUV reagiert mit § 90 Abs 1 SGB VII aF auf Ereignisse, die Versicherte in einem Lebensalter treffen, in dem regelmäßig die Grundlagen für eine auf Erwerbstätigkeit basierende Lebensführung gelegt werden. Der Gesetzgeber geht dabei zulässigerweise davon aus, dass im Anschluss an den (verpflichtenden) Besuch der allgemein­bildenden Schulen (unmittelbar) eine Ausbildung aufgenommen wird. Die Versicherten sollen damit vor den finanziellen Folgen geschützt werden, die mit einem Verlust der Erwerbsfähigkeit vor Beginn der Erwerbstätigkeit verbunden sind. Risiken, die in keinem Zusammenhang mit dem Fehlen eines Ausbildungsabschlusses stehen, sind hingegen nicht versichert. Die gUV soll an dieser Stelle nicht davor schützen, dass eine Ausbildung – bspw vorliegend aus gesundheit­lichen Gründen – nicht absolviert werden kann. Deshalb kommt es nicht darauf an, dass die Klägerin für ihren Gesundheitszustand nichts konnte und sie insoweit kein Verschulden am Abbruch der Ausbildung und an der sich anschließenden Pause traf.

Der Hinweis auf eine sachliche Nähe zwischen der ehrenamtlichen Tätigkeit beim DRK und der beabsichtigten Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin vermag an dem Ergebnis nichts zu ändern. Die Tätigkeit beim DRK war keine Ausbildung iS von § 90 Abs 1 SGB VII aF.

Soweit im Schrifttum vertreten wurde, dass der Tag, an dem der Ausbildungsvertrag abgeschlossen wird, als Ausbildungsbeginn angesehen werden könne (bspw Ricke in: KassKomm, § 90 SGB VII – Stand 103. EL März 2019 – Rn 11 zu § 90 SGB VII aF), überzeugt das nicht. Mit Abschluss des Vertrags hatte die Klägerin (lediglich) einen sicheren Ausbildungsplatz, sie stand aber noch nicht in einem Ausbildungsverhältnis. Mit Blick auf den Vertragsschluss könnte eher daran gedacht werden, eine – vor Inkrafttreten von § 91 Abs 4 S 2 SGB VII grundsätzlich denkbare – Verlängerung der Übergangszeit auf mehr als vier Monate in Betracht zu ziehen. Allerdings lag die Beendigung der vorangegangenen Ausbildung hier so lange zurück (beinahe dreieinhalb Jahre), dass eine nähere Befassung mit diesem Gedanken nicht angezeigt ist.

b)    Eine Anwendung von § 90 Abs 2 SGB VII aF (Neufestsetzung nach Altersstufen) kommt vorliegend ebenfalls nicht in Betracht. Die Vorschrift betrifft in erster Linie Versicherte, die zur Zeit des Versicherungsfalls das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und zu dieser Zeit einer Tätigkeit nachgingen („mit gleichartiger Tätigkeit“), also die sog Berufseinsteiger. Für diese Versicherten soll eine Anpassung der zur Zeit des Versicherungsfalls bestehenden Verdienstverhältnisse an die Entwicklung der Arbeitsentgelte bis zum 30. Lebensjahr erfolgen. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor; die Klägerin war vor dem Unfall nicht beschäftigt. Soweit daneben auch Versicherte in Ausbildung einbezogen werden, gelten die gleichen Voraussetzungen wie bei § 90 Abs 1 SGB VII aF (s oben <a>), die von der Klägerin nicht erfüllt werden.

3.    Die Klägerin hat aber einen Anspruch auf Neufestsetzung des JAV gem § 90 Abs 1 S 1 SGB VII nF und damit ab 1. August 2021 einen Anspruch auf Gewährung einer höheren Verletztenrente.

a)    Die Vorschrift ist zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten und dem Rechtsgedanken aus § 214 Abs 2 S 1 SGB VII entsprechend auch auf die nach seinem Inkrafttreten vorzunehmende Neufestsetzung des JAV für zwischen dem 1. Januar 1997 und 31. Dezember 2020 eingetretene Versicherungsfälle anzuwenden (Schudmann in: Brandenburg, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl 2022, § 90 – Stand 15. Januar 2022 – Rn 16).

b)    Die Voraussetzungen der Vorschrift liegen vor: Der Versicherungsfall ist (am 14. Juli 2013) eingetreten, als die Klägerin noch nicht 30 Jahre alt war. Die Klägerin hat mit Ablauf des 30. Juli 2021 das 30. Lebensjahr vollendet (§ 26 SGB X iVm §§ 187 Abs 2, 188 Abs 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches <BGB>). Ein JAV von 100 Prozent der an zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße ist für die Klägerin günstiger als der bislang festgesetzte Mindest-JAV.

c)    Die erhöhte Rente ist ab dem 1. des Monats zu zahlen, der dem Monat folgt, in dem das 30. Lebensjahr vollendet worden ist (vgl § 73 Abs 1 SGB VII), also ab 1. August 2021.

D.    Die Kostenentscheidung folgt aus der Anwendung von § 193 Abs 1 SGG und berücksichtigt das obsiegen und unterliegen der Beteiligten.

E.    Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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