S 49 R 108/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
49
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 49 R 108/19
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

Der Bescheid der Beklagten vom 10.09.2018 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2019 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin - ausgehend von einem Leistungsfall Juni  2018 - ab dem 01.01.2019 befristet bis zum 30.06.2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin hat die Beklagte zu 75% tragen.

 

 

Tatbestand:

Die 1964 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die ungelernte Klägerin hatte nach dem Abgang von der Realschule 13 Jahre als Schweißerin in einer Fabrik gearbeitet. Nach der Elternzeit war sie als Reinigungskraft und Regalbestückerin tätig und arbeitete bis 2012 mit einer 3/4-Stelle einer Videothek. Von 2012 bis 2016 arbeitete sie als Fleisch-und Wurstverkäuferin. Ab Dezember 2016 war sie arbeitsunfähig erkrankt und erhielt bis 20.04.2018 Krankengeld. Danach war sie ausgesteuert und bezog bis zum 20.07.2019 Leistungen nach dem SGB III. Im Juni 2017 nahm sie an einer stationären Reha-Maßnahme in der C-Klinik teil. Von dort wurde sie zwar arbeitsunfähig aber nicht quantitativ erwerbsgemindert entlassen.

Mit Bescheid vom 06.02.2018 wurde ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. Als Beeinträchtigungen waren seelische Erkrankung und Migräne festgestellt worden.

Die Klägerin stellte im Juni 2018 einen Antrag bei der Beklagten auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Klägerin wurde auf Veranlassung der Beklagten Anfang August 2018 gutachterlich von T, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie untersucht. Die Gutachterin sah die Erwerbsfähigkeit für die letzte ausgeübte Tätigkeit als Verkäuferin in der Wurst- und Fleischabteilung eines Supermarktes als nicht eingeschränkt an und sah lediglich qualitative Einschränkungen hinsichtlich der geistig/psychischen Belastbarkeit (Bl. 11 ff. d. VA). Das Ergebnis berücksichtigend wurde der Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 10.09.2018 (Bl. 67 ff. d. VA) zurückgewiesen. Widerspruch gegen den Bescheid wurde durch den jetzigen Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 04.10.2018 - eingegangen bei der Beklagten am 09.10.2018 - erhoben. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wurde der behandelnde Psychiater H1 befragt (Bl. 22 ff. d. VA). Nach erneuter Überprüfung wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2019 (Bl. 76 ff. d. VA) zurückgewiesen.

Klage zum Sozialgericht Düsseldorf wurde mit Schriftsatz vom 25.01.2019 - eingegangen bei Gericht am 28.01.2019 - erhoben. Das Gericht holte zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte ein, die die Leistungsfähigkeit der Klägerin aufgrund der psychischen Erkrankungen als eingeschränkt ansahen bzw. ohne eine konkrete Begutachtung sich nicht in der Lage sahen, diese Frage hinreichend zu beantworten. Die Beklagte regte im Rahmen der von Gerichtsseite angeforderten Stellungnahme zu den Befundberichten, die Einholung eines aktuellen neurologisch-psychiatrischen Fachgutachtens an. Dieser Anregung ging das Gericht im Rahmen der Amtsermittlung nach und erließ eine entsprechende Beweisanordnung. Die Beklagte zeigte sich allerdings mit dem Ergebnis des Gutachtens nicht einverstanden und hielt die Feststellungen zu den qualitativen und insbesondere quantitativen Leistungseinschränkungen nicht für objektivierbar. Auch die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen führte nicht zu einer anderen Einschätzung seitens der Beklagten.

 

Die Klägerin trägt vor:

Das Gutachten sehe ein aufgehobenes Leistungsvermögen der Klägerin als gegeben an und gehe selbst in der Prognose nicht mehr davon aus, dass die Erwerbsfähigkeit vollständig wieder hergestellt werden könne. De Klage sei begründet.

 

Die Klägerin beantragt,

 

unter Aufhebung des Bescheides vom 10.09.2018 in Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2019 die Beklagte zu verurteilen, Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte trägt vor:

Das Ergebnis der Begutachtung trage nicht den erhobenen Befunden Rechnung. Die Ergebnisse seien aufgrund des Untersuchungsverlaufs nicht nachvollziehbar. Der Migränekopfschmerz begründe lediglich kurzfristige Zeiten der Arbeitsunfähigkeit. Angepasste Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien für 6 Stunden und mehr als möglich anzusehen.

 

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beweisanordnung gem. § 106 SGG vom 15.07.2019 durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens. Zum Sachverständigen wurde H2, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ernannt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 02.09.2019 (Bl. 63 ff. d. A.) sowie der ergänzenden Stellungnahme vom 04.12.2019 (Bl. 88 ff. d. A.) verwiesen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitig zu der Gerichtsakte gereichten Schriftsätze und Unterlagen, die eingeholten Befundberichte, den weiteren Akteninhalt sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagte Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte vorliegend mittels Gerichtsbescheid, § 105 SGG, entscheiden, da die Voraussetzungen gegeben sind und die Beteiligten keine Einwände erhoben haben.

 

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht beim zuständigen Sozialgericht erhoben worden (§§ 57, 87, 90, 91 und 92 SGG).

Sie ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft, da die Klägerin sich gegen einen belastenden Verwaltungsakt wehrt sowie mit ihrer Klage die Gewährung einer Leistung begehrt, auf die sie bei Vorliegen der Voraussetzungen einen Anspruch hat.

Der Bescheid der Beklagten vom 10.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung einer befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.12.2018 befristet bis zum 31.05.2021.

Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie

1.  teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind

2.  in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3.  vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI demgegenüber Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch

1.  Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und

2.  Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die Fähigkeit der Klägerin, durch erlaubte Erwerbstätigkeit ein Arbeitsentgelt in nicht ganz unerheblichem Umfang zu erzielen (Erwerbsfähigkeit), ist hier jedenfalls seit Antragstellung durch Gesundheitseinschränkungen auf psychiatrischen Fachgebiet beeinträchtigt. Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass die Klägerin ab dem Zeitpunkt der Antragstellung  wegen Krankheit bzw. Behinderung nur noch in der Lage gewesen ist, unter 3 Stunden täglich Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Akkordarbeit und Arbeiten unter Zeitdruck sowie an gefährlichen Maschinen, Leitern zu verrichten.

Diese Beurteilung des Leistungsvermögens ergibt sich unter Berücksichtigung aller Einzelumstände aus einer Gesamtschau des über den Gesundheitszustand der Klägerin vorliegenden medizinischen Gutachtens sowie der ergänzende Stellungnahme

Das Leistungsvermögen der im Juli 1964 geborenen Klägerin  ist im gerichtlichen Verfahren durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens überprüft worden. Der neurologisch-psychiatrische Sachverständige H2  hat festgestellt, dass gerade in quantitativer Hinsicht eine bedeutsame Leistungseinschränkung besteht. Die Klägerin leidet an einer komplizierten Migräne accompagnée und Angst und depressiver Störung gemischt. Die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen entsprechen allgemein anerkannten Begutachtungsmaßstäben und das Ergebnis trägt dem Untersuchungsverlauf Rechnung. Nach Auswertung des bei der Begutachtung erhobenen Befundes und der in den Akten befindlichen medizinischen Unterlagen ist der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer schlüssig und widerspruchsfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin  nur noch in der Lage gewesen ist, unter drei Stunden täglich körperliche Arbeiten zu verrichten unter Berücksichtigung der bereits vorerwähnten qualitativen  Einschränkungen.

Der Sachverständige erläuterte auch ausführlich und nachvollziehbar, wie sich das Angst-Phänomen bei der Klägerin darstellt. Welche Faktoren die Situation verstärken, wie die hochfrequentierte Migräne zusätzlich wirkt und warum er - in der Zusammenschau  - zu dem Schluss der quantitativen Leistungsminderung kommt. Dies ist nachvollziehbar, insbesondere, dass das multifaktorielle Geschehen durch die einzelnen Faktoren gegenseitig beeinflusst und sich potenziert. Die Kammer ist daher überzeugt, dass der Leistungsfall einer vollen Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI jedenfalls zum Zeitpunkt der Antragstellung eingetreten war. Soweit die Beklagte einwendet, die Schilderung des Tagesablaufs spreche gegen die Angststörung, wird auf die Beschreibung des Angstphänomens verwiesen. Die Klägerin kann sich lediglich in einem  (geschützten) kleinen Radius bewegen. Geht sie darüber hinaus, flottieren die Grundängste so stark, dass es zu intensiven körperlichen Reaktionen kommt. Weder Pkw noch öffentliche Verkehrsmittel können darüber hinaus benutzt werden. Auch der Hinweis auf Arbeitsunfähigkeit bei Migräneattacken geht nach Auffassung der Kammer fehl. Die Migräneattacken haben eine solche Häufigkeit laut Angaben des Gutachters, dass diese nicht mehr durch Arbeitsunfähigkeitszeiten gedeckt bzw. aufgefangen werden können. Zu berücksichtigen ist hier insgesamt das multifaktorielle Geschehen, dass dann in der Gesamtschau zu dem nachvollziehbaren Ergebnis der vollen Erwerbsminderung führt.  Die der Klägerin zuerkannte Rente war nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI zu befristen. Demnach werden u.a. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet. Die Rentengewährung erfolgt nur unbefristet, wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Sachverständige stellte fest, dass letztlich auch die Migränebehandlung bisher unzureichend sei und auch die stattgehabte Psychotherapie letztlich am konkreten Behandlungsbedarf vorbeigegangen sei. Der Sachverständige sah prognostisch eine Erwerbsfähigkeit für bis 6 Stunden als möglich an. Dies wird nachzuprüfen sein, in einem Weiterbewilligungsverfahren. Aktuell kann jedenfalls - auch nach den Äußerungen des Sachverständigen - nicht von einer dauerhaften Erwerbsminderung ausgegangen werden. Die Befristung erfolgt nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VIr längstens drei Jahre nach Rentenbeginn. Vorliegend war - unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sachverständigen und den seit Eröffnung des Gutachtens bekannten vom Sachverständigen vorgeschlagenen Behandlungsstrategien - die Erwerbsminderungsrente auf 30 Monate zu befristen. Befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nach § 101 Abs. 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Ausgehend von einem Leistungsfall im Juni 2018 ist frühester Leistungszeitpunkt der 01.01.2019.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht bewilligt wurde; der Sachverständige allerdings einen Leistungsfall ab Antragstellung angenommen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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