S 23 U 46/18

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 23 U 46/18
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die Feststellung eines „Organischen Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma (ICD-10: F07.2)“ als Unfallfolge setzt den Vollbeweis eines Schädelhirntraumas voraus.
2. Ob ein Schädelhirntrauma vorliegt, ist von dem/der Sachverständigen eines neuropsychologischen Gutachtens auch unter Beachtung der S2k-Leitlinie „Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter“ (Stand 7/2018) zu beantworten.
3. Bei fehlenden Nachweisen initial charakteristischer klinischer Symptome und initial sowie in der Spätphase typischer bildgebender Befunde für eine traumatische Hirnschädigung gemäß o. g. S2k-Leitlinie kann unter Anwendung des wissenschaftlich mittlerweile hinreichend belegten „Konzepts der leichten traumatischen axonalen Schädigung“ ein Schädelhirntrauma nur dann im Vollbeweis gesichert werden, wenn der Versicherte in den ersten Wochen nach dem Arbeitsunfall deutliche und nach Monaten noch nachweisbare neuropsychologische Defizite von Aufmerksamkeits-, frontal-exekutiven und -behavioralen sowie Gedächtnisfunktionen aufweist.
4. Mit der vollbeweislich gesicherten Diagnose „Gesichtsschädelfraktur“ ist nicht automatisch ein Schädelhirntrauma (mit)bewiesen, da bei einer Gesichtsschädelfraktur in großem Umfang kinetische Energie absorbiert wird und es nicht zwingend zu einer Hirnschädigung kommt.
 

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

 
Tatbestand

Der Kläger, gelernter Schlosser und Landwirt, begehrt die Feststellung von Unfallfolgen sowie die Gewährung einer Rente.

Der bei der Beklagten als landwirtschaftlicher Unternehmer versicherte, damals 67jährige Kläger erlitt am 19.04.2015 einen Unfall: Er war um 18 h dabei, seinen Rapsacker zu verlassen, als ihm das Ende des rechten Auslegers des Gestänges seiner Feldspritze, die in diesem Moment von dem Fahrer des Schleppers nach links in die nächste Fahrgasse gefahren wurde, mit hoher Geschwindigkeit gegen die rechte Kopfseite schlug (Unfallanzeige des Klägers vom 27.04.2015). Als Art der Verletzung gab der Kläger Jochbeinbruch und Gehirnerschütterung an.

Um 19:09 traf der Kläger in der Notfall-Ambulanz des Capio Mathilden Hospitals in Büdingen ein und schilderte, dass er kurzzeitig benommen gewesen sei. Dort wurden folgende Befunde erhoben (D-Arztbericht des Dr. C., Arzt für Allgemein- und Viszeralchirurgie, Proktologie und Notfallmedizin vom 19.04.2015): „deutliche Schwellung, Hämatom und Druckschmerz am unteren Orbitarand rechts, Druckschmerz über der oberen Zahnreihe rechts sowie Schmerzen im rechten Kiefergelenk. Kieferschluss fest und kongruent. Keine sensiblen Ausfälle, keine Doppelbilder“. Die Computer-Tomographie des Gesichtsschädels ergab eine „Impressionsfraktur in Kieferhöhe rechte Seitenwand“ sowie eine „Trümmerfraktur rechter Orbitaboden Innen- und Seitenwandung“. Der D-Arzt stellte die Erstdiagnose Gesichtsschädelfraktur (ICD-10: S02.9 G) und veranlasste die Verlegung des Klägers in die Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (abgekürzt: MKG) des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in Gießen (Prof. Dr. med. und Dr. med. dent. D.) mit dem Rettungswagen. Aus dem im Klageverfahren beigezogenen Einsatzprotokoll des Rettungsdienstes ergibt sich, dass der Kläger bei der neurologischen Erstuntersuchung einen „Glasgow-Coma-Score“ von 15/15 erzielte (die Glasgow-Coma-Scale, kurz GCS, ist ein Bewertungsschema für Schwere und Dynamik von Bewusstseinsstörungen und Hirnfunktionsstörungen, insbesondere nach einem Schädelhirntrauma); derselbe Wert wurde bei der Übergabe des Klägers in Gießen erreicht, die eine dreiviertel Stunde später stattfand.

In der MKG-Klinik in Gießen wurde der Kläger vom 19.04.2015 bis zum 24.04.2015 stationär behandelt. Aus dem diesbezüglichen Bericht vom 05.02.2016 mit den Diagnosen „Jochbeinfraktur rechts“ und „Monokelhämatom rechts“ ergibt sich u. a. anamnestisch: „Zu keiner Zeit haben Übelkeit, Erbrechen, noch Bewusstseinsstörungen bestanden.“ Initial erfolgte, so der Bericht zu „Therapie und Verlauf“, die Mitbeurteilung durch die Kollegen der Augenheilkunde. Hierbei zeigte sich ein ausgedehntes Monokelhämatom mit einem ausgeprägten Hyposphagma (klar begrenzte Blutung aus Gefäßen der Bindehaut ins Gewebe; Anm. d. Verf.). Bei initial fehlenden Doppelbildern sei zunächst eine abschwellende konservative Therapie erfolgt. Am Folgetag habe der Kläger über zunehmende Doppelkonturen beim Fernsehschauen berichtet, weshalb eine erneute augenärztliche konsiliarische Untersuchung stattgefunden habe. Hierbei habe sich erneut kein Hinweis auf eine Einklemmung der Augenmuskeln ergeben; Doppelbilder hätten nicht verifiziert werden können. Im Rahmen der abschwellenden Maßnahmen habe sich eine deutliche Abflachung der Jochbeinprominenz auf der rechten Seite gezeigt, so dass am 22.04.2015 eine operative Intervention erfolgt sei (hierbei Einbringung einer Platte auf die Crista zycomaticoalveolaris = Knochenleiste beidseits am Oberkiefer am Übergang vom Jochbein; Anm. d. Verf.). Da die Röntgenkontrolluntersuchung ein regelrechtes Repositionsergebnis und korrekt einliegendes Osteosynthesematerial gezeigt habe und die erneute augenärztliche Kontrolluntersuchung ohne Hinweis auf Doppelbilder gewesen sei, habe der Kläger am 24.04.2015 in die ambulante Nachbehandlung entlassen werden können. Er erhielt in der Klinik am 20.04.2015 eine Arbeitsunfähigkeitserstbescheinigung sowie am 27.04.2015 von dort eine Folgebescheinigung. Am 05.05.2015 stellte der Hausarzt des Klägers (Dr. E.) eine weitere Folgebescheinigung zu Lasten der Beklagten (Diagnose „Fraktur an einer nicht näher bezeichneten Körperregion“, ICD-10: T14.20 RG) aus. Der Kläger war auch anschließend fortlaufend arbeitsunfähig und erhielt von der Beklagten Verletztengeld.

Am 13.05.2016 stellte sich der Kläger ambulant in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in Gießen bei Frau Dr. F. vor. Diese teilte in ihrem Bericht vom 16.06.2015 anamnestisch mit, dass der Kläger am Untersuchungstag zur Kontrolle in der MKG-Klinik vorstellig gewesen sei und die Kollegen eine neurologische Mitbeurteilung erbeten hätten, da der Kläger seit dem Unfall Wortfindungsstörungen und Konzentrationsprobleme mit Kurzzeitgedächtnisstörungen beklage. Anamnestisch wurde außerdem „Zustand nach Gehirnquetschung mit Bewusstlosigkeit bei Motorradunfall mit Behandlung in Hanau im Alter von 19 Jahren, anamnestisch ohne residuelle Beschwerden im Verlauf“ mitgeteilt. Frau Dr. F. kam nach körperlicher Untersuchung des Klägers zu folgender Beurteilung: Neurologisch seien leichte Konzentrationsstörungen, leichte Wortfindungsstörungen und eine Ataxie im Knie-Hacke-Versuch rechts aufgefallen. Da nach Auskunft des Klägers die kognitiven Defizite erst seit dem Arbeitsunfall bestünden, empfehle sie die Durchführung einer neuropsychologischen Testung, eines cMRT mit Vergleich der Bilder zu früheren cerebralen Aufnahmen (die Bilder lägen dem Kläger zuhause vor) sowie die Einholung eines neurologischen Gutachtens zur Klärung der Unfallkausalität. Als Diagnose wird in dem Bericht „Wortfindungsstörung (ICD-10: R47.0)“ mitgeteilt. Zu einer weiteren Vorstellung des Klägers in der Neurologischen Klinik kam es nicht (Mitteilung von Frau Dr. F. gegenüber der Kammervorsitzenden vom 18.02.2021).

Als der Kläger am 20.05.2015 den D-Arzt Dr. C. aufsuchte, stellte dieser bei der Diagnose „Zustand nach Gesichtsschädelfrakturen mit operativer Versorgung des Jochbeins rechts“ klinisch eine reizlose Narbe über dem rechten Jochbein und Sensibilitätsstörungen im Bereich der rechten Gesichtshälfte sowie Gefühllosigkeit auch im Bereich des Oberkiefers rechts fest. Der Kläger beklagte darüber hinaus deutliche Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen, weswegen der D-Arzt ihn zu einem Neurologen (Herrn G., s. u.) überwies (Zwischenbericht Dr. C. vom Untersuchungstag). Die ebenfalls von Dr. C. veranlasste MRT-Untersuchung des Neurokraniums nativ vom 08.06.2015 bei Dr. H. (MRT-Bericht vom 23.06.2015 bei der Fragestellung: „Zustand nach OP einer Gesichtsschädelfraktur, persistierende Konzentrations- und Kurzgedächtnisstörungen. Zerebraler Prozess?) erbrachte folgendes Ergebnis: „Infratentoriell orthotop [d. h. an anatomisch korrekter Stelle; Anm. d. Verf.] lokalisierter, regelrecht dimensionierter Ventrikel. Die basalen Zisternen sind frei dargestellt. Regelrechte Signalgebung von Hirnstamm, Klein- und Mittelhirnparenchym. Supratentoriell orthotop lokalisiertes, leicht betontes Ventrikelsystem. Mäßige Reliefvergröberung, frontal und perisylvisch betont. Kein Nachweis einer Blutung, keine pathologisch subdurale Flüssigkeitsansammlung. Keine Demarkation eines Kontusionsherdes. Frontale Falxverkalkung [Falx = Kleinhirnsichel; Anm. d. Verf.]. Keine Diffusionsstörung. Einzelne unspezifische Glianarben linkstemporal.“

Eine weitere Arbeitsunfähigkeits-Folgebescheinigung wurde dem Kläger am 02.07.2015 von Dr. C. bei der Diagnose „Fraktur des Jochbeins und des Oberkiefers“ (ICD-10: S02.4 Z) ausgestellt. Unter dem 27.07.2015 gab er der Beklagten folgenden Zwischenbericht ab: „Der Patient leidet immer noch unter den Folgen seines schweren Schädelhirntraumas. Die letzte Vorstellung in unserer Ambulanz erfolgte am 15.07.2015. Hierbei berichtete der UV glaubhaft von seinen Beschwerden. In erster Linie handelt es sich um Wortfindungsstörungen und Gedächtnisstörungen. Zusätzlich Taubheitsgefühle im Kieferbereich rechts. Er habe Mühe, Gegenstände wiederzufinden und verliere ständig den `roten Faden´ im Gespräch. Die weitere Dauer der Arbeitsunfähigkeit ist derzeit nicht abzusehen. Wir raten, einen Berufshelfer oder einen Rehamanager mit einzubeziehen.“ 

Verordnet von Dr. C., erhielt der Kläger fortlaufend ab Ende Juni 2015 Ergotherapie (inklusive Hirnleistungstraining) bei den Diagnosen „Gesichtsschädelfraktur und Jochbeinfraktur, Vergesslichkeit und Konzentrationsstörung, Wortfindungsstörung“. In seinem abermaligen Zwischenbericht vom 16.10.2015 teilte der D-Arzt der Beklagten mit, dass der Kläger auch bei der letzten Vorstellung am 12.10.2015 dieselben Beschwerden wie zuvor (Gedächtnisstörung und Wortfindungsstörung) beklagte habe. Von Seiten der Fraktur bestünden keine Beschwerden. „Im Oberkiefer nach wie vor ohne Sensibilität.“

Am 19.11.2015 wurde der Kläger an seinem Betriebssitz von dem Sachbearbeiter der Beklagten, Herrn J., zu einem Gespräch über die Teilhabe am Arbeitsleben aufgesucht. Aus der von diesem angefertigten Gesprächsnotiz vom 23.11.2015 ergibt sich ergänzend zum Unfallhergang, dass der Kläger, vom Ausleger am Kopf getroffen, gestürzt war. Der Kläger dürfe ausdrücklich Autofahren und hieran bestehe, so Herr J., aus eigener Anschauung (der Kläger legte den Weg zur Fortsetzung des Gesprächs mit Herrn J. im Wohnhaus des Klägers mit dem eigenen Pkw zurück und Herr J. fuhr ihm hinterher) kein Zweifel. Herr J. stellte aber bei der längeren Unterredung im Wohnhaus „eine gewisse Vergesslichkeit“ des Klägers fest. Der Kläger gab (für Herrn J. glaubhaft) an, dass ihn seine Vergesslichkeit sehr einschränkte: Er müsse sich seit dem Unfall alles aufschreiben. Im Hirnleistungstraining habe man ihn gelehrt, `Brücken zu bauen´. Wegen seiner eingeschränkten Gedächtnisleistung könne er konkret die Fahrgassenschaltung der Sämaschine nicht nutzen und einmal sei er auf dem Weg zum Krankenhaus mit dem Pkw von der Polizei darauf aufmerksam gemacht worden, dass er nicht angeschnallt sei. Er hoffe sehr, seine vor dem Unfall bestehende Gesundheit wiederzuerlangen, um den Betrieb wie zuvor weiterführen zu können. 

Da der Kläger gegenüber Herrn J. angegeben hatte, bei Herrn G. (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie im Capio MVZ Mathilden-Hospital) in Behandlung zu stehen, holte die Beklagte dort einen Befundbericht ein. Dieser datiert vom 02.12.2015 und enthält den „Befund“ „postcommotionelles Syndrom, leichte kognitive Störung“; es wurde eine neuropsychologische Testung und Begutachtung empfohlen. Dem Bericht beigefügt waren frühere Berichte des Facharztes an Herrn Dr. C.:

Aus dem Bericht des Herrn G. vom 15.06.2015 (Vorstellungen am 03.06. und 15.06.2015) ergibt sich folgende Anamnese: „Am 19.04. Arbeitsunfall, er sei von einer Feldspritze im Gesicht getroffen worden, offenbar kurze Bewusstlosigkeit, Mittelgesichtsfraktur. […] Klagt über seit dem Unfall bestehende Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörung, erschwerte Wortfindung. Die Gedächtnisleistung sei im Vorfeld „altersentsprechend“ gewesen, nachfolgend deutliche Schwierigkeiten, sich Dinge, z. B. Namen zu merken, er verlege oder vergesse Kleidungsstücke, Jacke, Mütze, Namen und Telefonnummern würden ihm nicht einfallen.“ Herr G. erhob laut diesem Bericht folgenden Befund: „Wach, bewusstseinsklar, ausreichend orientiert, Auffassung, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis erscheinen im Gespräch leicht reduziert, Antrieb und Psychomotorik unauffällig, affektiv ausgeglichen, der formale Gedankengang erscheint etwas umständlich, kein Hinweis auf inhaltliche Denkstörung, Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen, keine Gefährdungsaspekte. Zeitweise etwas erschwerte Wortfindung ohne sicheren Hinweis auf eine aphasische Störung [= erworbene Sprachstörung, die nach einer Hirnschädigung auftreten kann; Anm. d. Verf.]. In der neurologischen Untersuchung unauffälliger Hirnnervenstatus, keine Paresen, MER seitengleich erhältlich, Zeichen nach Babinski beidseits negativ, Sensibilität für Schmerz, Berührung und Vibration ungestört, Koordination Eudiadochokinese beidseits, FNV unauffällig, KHV beidseits etwas dysmetrisch, Romberg-Versuch sowie Seiltänzergang diffus unsicher. Uhrentest unauffällig. DemTec [Demenz-Test; Anm. d. Verf.] alterskorrigiert 12 von 18 Punkten entsprechend einer leichten kognitiven Beeinträchtigung. Der Bericht enthält die „Beurteilung“: Postcommotionelles Syndrom mit persistierender Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörung sowie leichte Stand- und Gangunsicherheit. Kein strukturelles MR-tomographisches Korrelat. Ergänzend Ergotherapie empfohlen, neuropsychologische Begutachtung im Verlauf empfohlen.“ Im Folgebericht ohne Datum mit der Diagnose „Postcommotionelles Syndrom“ teilte Herr G. mit, dass der Kläger weiterhin Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörungen und subjektiv erschwerte Wortfindung und weiter eine insgesamt erschwerte Alltagskompetenz beklage. Der Neurologe und Psychiater erhob einen im Wesentlichen unveränderten Befund zum Vorbefund vom 15.06.2015. Bei der erneuten Vorstellung des Klägers unbekannten Datums (Bericht Herr G. vom 30.11.2015) erhob der Facharzt einen alterskorrigierten DemTec von 14/18 Punkten und teilte mit, dass orientierend testpsychologisch aktuell eine leichte Besserungstendenz bestehe. 

In seinem Zwischenbericht vom 14.01.2016 über die Untersuchung des Klägers vom selben Tag teilte Dr. C. unter den Diagnosen „Gesichtsschädelfraktur“ (ICD-10: S02.9 G) und „Gedächtnisstörung, Wortfindungsstörung“ (ICD-10: R41.3 G) mit, dass eine Besserung der neurologischen Störungen nicht eingetreten sei, der Kläger vor allem an der Gedächtnisstörung leide. Er verordnete dem Kläger erneut Ergotherapie, auch zur Unterstützung der Gedächtnisleistung. In seiner am 28.01.2016 ausgestellten Arbeitsunfähigkeits-Folgebescheinigung gab Dr. C. an, dass er die Einleitung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation für erforderlich halte.

Am 29.01.2016 und 23.02.2016 suchte der Kläger die Psychologische Psychotherapeutin und „Klinische Neuropsychologin GNP“ (GNP = Gesellschaft für Neuropsychologie e. V.) Frau K. zur Anamneseerhebung und neuropsychologischen Untersuchung auf, worüber diese der Beklagten unter „Medizinischer Befund: Postcommotionelles Syndrom nach Unfall am 19.04.2015“ am 08.03.2016 wie folgt Bericht erstattete: „Exploration/Anamnese: [..] berichtete Herr B., dass […]. Sein Mitarbeiter, der ihn nicht sah, bewegte in diesem Moment das Gerät und traf ihn mit dem Feldspritzenende an der rechten Kopfseite. Er wurde für einen Moment bewusstlos, sein Mitarbeiter kam zu ihm, er wachte wieder auf. Er fuhr selbst mit dem Auto nach Hause, seine Frau brachte ihn ins Krankenhaus […]. Nach einer Woche wurde er entlassen. Im weiteren Verlauf bemerkte er eine vermehrte Vergesslichkeit, er verlegte Dinge, erinnerte sich nicht mehr an Termine oder besprochene Inhalte, musste sich wichtige Informationen aufschreiben. Er begann daraufhin eine ergotherapeutische Behandlung [..], sie helfe ihm sehr […]. Seine Vergesslichkeit bestehe nach wie vor, er erlebe dies als sehr belastend. Als weitere Veränderungen seit dem Unfallereignis gab er an, häufiger nach Worten zu suchen und er verliere öfters den Faden im Gespräch […]“. Die Diplom-Psychologin erhob laut Bericht auch die soziale Anamnese, das Verhalten (u. a. keine Hinweise auf Aggravation oder Simulation), die Gedächtnisleistung, Aufmerksamkeit und Reaktion und visuell-räumliche Wahrnehmung. Hinsichtlich der „verbalen Flüssigkeit“ teilte Frau K. mit, dass eine relevante Beeinträchtigung gegenüber dem prämorbiden Niveau nicht nachweisbar sei. Zusammenfassend stellte sie folgende Beeinträchtigungen der psychischen Leistungsfähigkeit des Klägers fest: 
Leichte mnestische Störung mit Beeinträchtigung der Behaltens- und Abrufleistung für sprachgebundene Inhalte bei erhaltener Orientiertheit zu allen Qualitäten und intaktem Altgedächtnis; leichte Aufmerksamkeitsstörung mit Verlangsamung der Informationsverarbeitung und Reaktion, leicht erhöhter Stör- und Irritierbarkeit und rascherer Ermüdung bei konzentrativer Anforderung; verminderte Reiztoleranz, die sich in Kopfdruck nach länger andauernder intensiver Reizeinwirkung manifestiert.
In ihrem ergänzenden Bericht vom 22.04.2016 teilte Frau K. der Beklagten mit, dass aufgrund der seit dem Unfallereignis verstrichenen Zeit davon auszugehen sei, dass die bestehenden leichten neuropsychologischen Defizite sich nicht mehr in vollem Umfang zurückbilden würden. Eine volle Arbeitsunfähigkeit werde daher prognostisch nicht mehr erreicht. Eine abschließende Beurteilung der Arbeitsfähigkeit solle aber erst auf der Grundlage des Ergebnisses eines Arbeitsversuchs, der ab Juli stattfinden könne, getroffen werden.

Am 13.04.2016 bereits hatte der Kläger bei der Beklagten telefonisch mitgeteilt, dass er „ab Anfang Mai auf eigenen Wunsch arbeitsfähig sein wird“ (Gesprächsnotiz M. von diesem Tag). Dr. C. teilte der Beklagten mit, dass der Kläger am 04.05.2016 aus der ambulanten Behandlung entlassen worden sei und ab dem Folgetag wieder arbeitsfähig sei. 

Am 24.06.2016 ging bei der Beklagten ein Schreiben des Zahnarztes Dr. L. vom 20.01.2016 ein, in dem dieser mitteilte, dass der rechte Oberkiefer des Klägers seit dem Unfall am 19.04.2015 ohne Gefühl sei (die Oberkieferzähne 17 bis 11 hätten auf alle angewandten Sensibilitätstests keine Reaktion gezeigt).

Zur Feststellung der Rentenberechtigung des Klägers ließ die Beklagte durch Frau K. ein neuropsychologisches Gutachten erstatten, das nach Untersuchung des Klägers vom 28.08.2016 unter dem 16.09.2016 vorgelegt wurde. Hierin gab die Sachverständige an, dass der Kläger, zu seinem aktuellen gesundheitlichen Befinden befragt, angegeben habe, dass er nach wie vor unter den seit dem Unfallereignis bestehenden Gedächtnisstörungen leide. Er könne sich an Früheres gut erinnern, aber alles, was neu sei, vergesse er rasch. Er erlebe oft die Reaktion seiner Mitmenschen: „Aber das habe ich dir doch gesagt.“ Er schreibe inzwischen alles auf, hefte Erinnerungszettel an seine Arbeitsgeräte, lege sich einzelne Werkzeuge vorher zurecht, um sich an die geplante Tätigkeit zu erinnern, führe Tagebuch. Er habe den Eindruck, es werde nicht besser, das frustriere und belaste ihn. Er sei auch ungeduldiger und reizbarer geworden. Nach dem Ende seiner Arbeitsunfähigkeit habe er wieder gearbeitet, d. h. sei Traktor gefahren und habe Tätigkeiten im Ackerbau verrichtet. Seit dem 01.07.2016 sei er berentet, habe seinen landwirtschaftlichen Betrieb einem Nachfolger übergeben; er helfe jedoch weiter mit, da die landwirtschaftliche Tätigkeit ihm Freude mache. Körperlich sei dies kein Problem, aber die „Belastung im Kopf schaffe ich nicht mehr so.“ Es sei sehr anstrengend für ihn, an alles zu denken, nichts zu vergessen, er fühle sich generell angestrengter, erschöpfter nach einem Tag, brauche mehr Erholungspausen, komme morgens auch schlechter `in die Gänge´. Die Sachverständige beobachtete das Verhalten des Klägers (u. a.: „Gegen Ende der dreistündigen Untersuchung wurde eine leichte Anstrengung und Erschöpfung deutlich, er arbeitete jedoch bis zum Schluss motiviert und anstrengungsbereit mit. [...] ein Leidensdruck hinsichtlich seiner geschilderten Beeinträchtigungen war jedoch spürbar“), erhob Gedächtnisleistung, visuelle Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Reaktion sowie Verbale Flüssigkeit und führte eine Symptomvalidierung durch.

Unter „Diskussion“ führte die Sachverständige K. in ihrem Gutachten (aa0) aus, dass die aus den Angaben des Klägers, der testpsychologischen Untersuchung und der Verhaltensbeobachtung gewonnenen Informationen „als Folgen des erlittenen Schädel-Hirn-Traumas“ als führende neuropsychologische Einschränkung ein leichtes mnestisches Syndrom mit Beeinträchtigung der Behaltens- und Abrufleistung insbesondere für sprachgebundenes Material zeige. Das episodisch-autobiografische Altgedächtnis sei intakt, die Orientierung zu allen Qualitäten sei gegeben. Die Aufmerksamkeitsleistungen seien herabgesetzt, es zeige sich eine Verlangsamung der Informationsverarbeitungs- und Reaktionsgeschwindigkeit. Als im Alltag und in der Ausübung seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit besonders belastend erlebe der Kläger seine Gedächtnisdefizite. Sie erschwerten ihm die Bewältigung von Aufgaben; der Einsatz von Kompensationsstrategien zur Bewältigung seiner Defizite erfordere ein hohes Maß an Energie, was zu stärkerer subjektiver Anstrengung und rascherer Erschöpfung führe. Die darüber hinaus bestehenden leichten Aufmerksamkeitsdefizite in Form einer verlangsamten Verarbeitungsgeschwindigkeit und Reaktion erforderten ebenfalls einen erhöhten mentalen Energieaufwand bei der Bewältigung konzentrativer Anforderungen und führten nachvollziehbar zu einer rascheren Ermüdung und Reizüberflutung. Es ergäben sich keine Hinweise auf Aggravation oder Simulation. Die Schilderung der Beschwerden sei in sich konsistent und glaubwürdig. Die aktuellen Testergebnisse seien mit denen der Erstuntersuchung (s. o.) vergleichbar, in den dargebotenen Leistungen zeigten sich somit keine Widersprüche zwischen erster Untersuchung im Januar und Februar des Jahres und der jetzigen erneuten Untersuchung im August, auch die Symptomvalidierung habe keine Auffälligkeiten ergeben. Eine depressive Störung liege beim Kläger nicht vor, auch wenn er nachvollziehbar unter seinen Gedächtnisstörungen leide. Trotz fehlender Nachweise in den bildgebenden Verfahren sei beim Kläger eine hirnorganisch bedingte neuropsychologische Leistungsminderung als Folge des Unfallereignisses wahrscheinlich. Dies werde in der Literatur als „Postkommotionssyndrom“ bei diffusen axonalen Schädigungen (DAI) nach leichteren Schädel-Hirn-Verletzungen beschrieben, die in der Bildgebung nicht immer sicher und zeitstabil nachweisbar seien.

Die beschriebene Symptomatik sei als Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma (ICD-10: F07.2) zu klassifizieren und bedinge eine MdE von 30 v. H.

Ebenfalls im Auftrag der Beklagten gab Prof. Dr. Dr. D. (MKG-Klinik des Universitätsklinikums Gießen und Marburg in Gießen) nach Untersuchung des Klägers vom 11.08.2016 unter dem 23.12.2016 sein mund-, kiefer- und gesichtschirurgisches Gutachten ab. Unter der Überschrift „Vorgeschichte“ ist hier u. a. zu lesen, dass der Kläger initial nach dem Unfallereignis kurzzeitig bewusstlos gewesen sei. Er könne sich aber detailliert an den Unfallhergang erinnern. Er habe Kopfschmerzen gehabt. Zu keiner Zeit hätten Übelkeit und Erbrechen bestanden. Anschließend sei der Kläger selbst mit seinem Pkw nach Hause gefahren. Seine Frau habe ihn dann in das Mathilden-Hospital gebracht. Dort sei die Primärdiagnostik und Erstversorgung erfolgt. Aufgrund des Unfallhergangs sei eine CCT- und CT-Untersuchung eingeleitet worden, die laut Aktenlage eine Laterale Mittelgesichtsfraktur mit Orbitabodenbeteiligung, erhebliche Weichteilschwellung im Bereich der genannten Frakturen, aber keinen Nachweis eines retrobulbären (d. h. hinter dem Augapfel liegenden; Anm. d. Verf.) Hämatoms und keinen Nachweis intrazerebraler Blutung und keinen Nachweis von Kontusionsherden ergeben habe. Danach sei der Kläger in die hiesige Klinik verlegt worden. In der klinischen Untersuchung durch den diensthabenden Arzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habe sich ein wacher, ansprechbarer und orientierter Patient mit einem GCS von 15 gezeigt. Die Pupillen seien beidseitig isokor, mittelweit und lichtreagibel in direkter und indirekter Lichtreflexprüfung gewesen. Der Kläger habe keine Doppelbilder bei erhaltenem Visus gezeigt. Auch hätten keine Motilitätsstörungen vorgelegen. Es hätten sich ein Monokelhämatom und eine deutliche periorbitale Schwellung rechts sowie eine Hypästhesie des Nervus infraorbitalis auf der rechten Seite gezeigt. Die Mundöffnung sei regelrecht gewesen, die Okklusion ungestört und die Zähne ohne Traumafolge. Es habe eine deutliche Druckschmerzhaftigkeit über der Crista zygomaticoalveolaris rechts bestanden. Zusammenfassend sei die Hauptdiagnose einer Jochbeinfraktur gestellt worden.

An subjektiven Beschwerden sind im Gutachten ein nur geringfügig belastendes Taubheitsgefühl im gesamten rechten Oberkiefer von konstanter Intensität und ohne Schmerzen sowie Wortfindungsstörungen und Konzentrationsprobleme mit Kurzzeitgedächtnisstörungen seit dem Unfall vermerkt. Nach objektiver Befunderhebung kam der Sachverständige D. zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass als Unfallfolgen noch bestünden: Zustand nach operativ versorgter traumatischer Jochbeinfraktur rechts, persistierende Dysästhesie im rechten Oberkiefer, dezente Narbe im Bereich der Augenbraue rechts sowie postcommotionelles Syndrom. Diese Unfallfolgen seien als Dauerschäden zu betrachten. Die Gefühlsstörung im Bereich des rechten Oberkiefers sei ein sehr häufig auftretender Schaden nach Kompression des sensiblen Nervus infraorbitalis im Rahmen einer Jochbeinfraktur. 

Der Sachverständige D. schätzte die MdE auf seinem Fachgebiet mit 5 v. H. ein.

Hinsichtlich der beiden Sachverständigengutachten ließ sich die Beklagte von dem Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. N. („Interdisziplinäre Medizinische Begutachtung“ – „iMB“) beraten. Dieser teilte unter dem 01.03.2017 mit, dass das mund-, kiefer- und gesichtschirurgische Gutachten vom 23.12.2016 schlüssig und nachvollziehbar sei, dass aber das neuropsychologische Gutachten vom 16.09.2016 in Ermangelung einer strukturellen Hirnschädigung „hochgradig“ kritisch erscheine, so dass der Beratungsarzt es zur nervenärztlichen Beurteilung an den Neurologen und Psychiater Prof. Dr. O. (ebenfalls „iMB“) weitergeleitet habe. 

Dieser gab unter dem 09.03.2017 folgende beratungsärztliche Stellungnahme gegenüber der Beklagten ab: In Anbetracht des unfallbedingten Gesundheitserstschadens lägen als Unfallfolgen eine reizlose Narbe an der rechten Augenbraue sowie eine Teilschädigung des 2. Trigeminus-Astes rechts mit subjektiven Beschwerden (Gefühlsstörungen) ohne Trigeminus-Neuralgie vor. Darüber hinaus lägen keine unfallbedingten Gesundheitsstörungen des Klägers vor, insbesondere keine traumatische Hirngewebsschädigung und keine daraus folgende neurokognitive Störung. In Anbetracht der subjektiven Beschwerden und der reizlosen Narbe sei die unfallbedingte MdE mit weniger als 10 v. H. auf kieferchirurgischem Gebiet anzunehmen. Eine darüberhinausgehende MdE auf neuropsychologischem Gebiet liege nicht vor. 

Zur Begründung im Einzelnen gab der Beratungsarzt O. an, dass ein postkommotionelles Syndrom zum Zeitpunkt der Begutachtung des Klägers durch Prof. Dr. Dr. D. (Gutachten vom 23.12.2016), mehr als ein Jahr nach dem Unfallereignis, nicht mehr vorgelegen haben könne; darüber hinaus seien keine Befunde dokumentiert, die eine Hirnfunktionsstörung belegen könnten. Das neuropsychologische Gutachten der Frau K. vom 16.09.2016 sei nicht verwertbar. Eine traumatische Hirnschädigung habe nach den radiologischen Befunden nicht vorgelegen – insofern sei die in dem Gutachten mitgeteilte Diagnose (Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma) unbegründet. Dass das Unfallereignis nicht zu wesentlichen Hirnfunktionsstörungen geführt habe, gehe auch aus den Befunden des erstbehandelnden Krankenhauses hervor. Diesbezüglich seien keinerlei Auffälligkeiten zu verzeichnen gewesen und auch der Glasgow-Coma-Score sei regelrecht gewesen. Ein weiterer wesentlicher Mangel des neuropsychologischen Gutachtens sei, dass eine Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung unterlassen worden sei. Teilweise seien noch nicht einmal die Testergebnisse nachvollziehbar angegeben worden. Insofern entspreche das Gutachten nicht der Leitlinie „Neuropsychologische Begutachtung“ der GNP. Das einzig verwendete Validierungsverfahren – eigenartigerweise ein Beschwerde-, anstelle eines leistungsvalidierenden Verfahrens – habe erhebliche Auffälligkeiten ergeben, so dass die Vermutung von Antwortverzerrung auch im Leistungsbereich naheliege. Nach dem radiologischen Bericht über eine Kernspintomographie des Schädels vom 09.06.2015 sei dieser unauffällig gewesen. Arbeitsfähigkeit sei am 05.05.2016 wieder festgestellt worden. Auch im Bericht der späteren Sachverständigen K. vom 08.03.2015 seien mehrere Testverfahren eingesetzt worden, die nicht mehr messbare schlechte Leistungen im Bereich der Aufmerksamkeit ergeben hätten. Auch hier sei keine Leistungsvalidierung erfolgt. Ohne eine Validierung der Befunde seien die Angaben nach den deutschen wie auch internationalen Standards „wertlos“. 

Dr. N. (s. o.) kam in seiner abschließenden beratungsärztlichen Stellungnahme vom 15.03.2017 unter Anschluss an die beratungsärztliche Stellungnahme des Prof. Dr. O. vom 09.03.2017 zu dem Ergebnis, dass die Gesamt-MdE aufgrund der Unfallfolgen vom 19.04.2015 ab dem 05.05.2016 dauerhaft mit unter 10 v. H. festzustellen sei.

Unter dem 20.04.2017 erteilte die Beklagte dem Kläger einen Bescheid, in dem sie seinen Unfall vom 19.04.2015 als Arbeitsunfall feststellte und darüber hinaus verfügte, dass ein Anspruch auf Rente wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls nicht bestehe, da seine Erwerbsfähigkeit nicht um wenigstens 30 v. H. gemindert sei. Der Arbeitsunfall habe zu den Gesundheitsbeeinträchtigungen: Reizlose Narbe an der rechten Augenbraue sowie Teilschädigung des 2. Trigeminusastes rechts mit subjektiven Beschwerden (Gefühlsstörung) ohne Trigeminusneuralgie geführt, die die Beklagte bei der Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit berücksichtigt habe. Die Entscheidung zu den Folgen des Arbeitsunfalls und zur MdE stütze sich auf die „vorliegenden Befunde und Gutachten“.

Gegen den Bescheid vom 20.04.2017 legte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein, der auch nach Akteneinsichtnahme nicht begründet wurde.

Am 03.05.2017 stellte sich der Kläger abermals bei Dr. C. vor, der in seinem Zwischenbericht vom selben Tag erstmals die Diagnose „Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma“ stellte und zu Verlauf und Befund mitteilte, dass der Kläger wieder über eine Verschlechterung seiner Hirnfunktionen berichte; insbesondere habe er große Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis und auch die Wortfindungsstörungen würden ihn wieder schwer beeinträchtigen. Der sensible Ausfall des Trigeminus als Folge der Jochbeinfraktur sei weiterhin vollständig vorhanden. 

Infolge Überweisung bei „Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma, Zunahme der neurologischen Symptomatik“ durch Dr. C. führte der Radiologe Dr. P. am 08.06.2017 eine MRT-Untersuchung des Schädels nativ durch, bei der er zu dem Ergebnis kam, dass es sich um ein unauffälliges MRT des Schädels ohne Erklärung für die klinischen Symptome (Zunahme der neurologischen Symptomatik; anamnestisch zunehmende Vergesslichkeit, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen) handele (Bericht Dr. P. vom Untersuchungstag).

Ebenfalls infolge erneuter Überweisung an den Neurologen und Psychiater G. durch Dr. C. stellte sich der Kläger dort am 19.09.2017 vor. Herr G. erhob folgenden Befund: „Wach, bewusstseinsklar, ausreichend orientiert, Auffassung, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis erscheinen im Gespräch leicht reduziert, Antrieb und Psychomotorik unauffällig, affektiv ausgeglichen, der formale Gedankengang erscheint etwas umständlich, haftend, kein Hinweis auf inhaltliche Denkstörung, Wahrnehmungs- oder Ich-Störungen, keine Gefährdungsaspekte. Zeitweise etwas erschwerte Wortfindung ohne sicheren Hinweis auf eine aphasische Störung. DemTect alterskorrigiert 10/18 Punkte. Uhrentest: 1 Punkt, perfekt.“ (Bericht vom 19.10.2017). Herr G. beurteilte den Befund nach EEG- und Laboruntersuchung des Blutes wie folgt: Leichte kognitive Störung, Postcommotionelles Syndrom, B12 Mangel. Testpsychologisch bestehe im Vergleich zur Voruntersuchung eine Verschlechterungstendenz. In der ergänzenden Zusatzdiagnostik habe sich – möglicherweise ursächlich – ein manifester Vitamin B12 Mangel gezeigt. 

Unter dem 02.02.2018 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 20.04.2017 als unbegründet zurück. Grundlage des Bescheids sei insbesondere das Gutachten des Herrn Dr. D. gewesen. Dieser habe als Folge der Unfallverletzung „laterale Mittelgesichtsfraktur mit Orbitabodenbeteiligung (Jochbeinfraktur)“ im Wesentlichen eine Gefühlsstörung im Bereich des rechten Oberkiefers beschrieben und die MdE auf seinem Fachgebiet mit 5 v. H. eingeschätzt. Das Gutachten der Frau K. auf neuropsychologischem Gebiet gehe auf der Grundlage der Annahme einer traumatischen Hirnschädigung von dadurch begründeten Unfallfolgen aus. Solche Hirnschäden hätten jedoch nach den radiologischen Befunden nicht vorgelegen und seien auch aus anderen klinischen Befundunterlagen nicht nachvollziehbar bzw. ausgeschlossen. Darüber hinaus weise das Gutachten der Sachverständigen K. erhebliche Mängel in der Validierung auf und sei insgesamt unter den Maßstäben der Leitlinie der Fachgesellschaft für klinische Neuropsychologie nicht verwertbar. Nach ärztlicher Auffassung des beratungsärztlichen Dienstes der Beklagten sei die MdE der im Gutachten von Dr. D. beschriebenen Unfallfolgen mit einer MdE von weniger als 10 v. H. einzuschätzen. Die Missempfindungen im rechten Oberkiefer als nachvollziehbare subjektive Beschwerden bedingten keine messbare MdE und eine Funktionsstörung der ebenfalls vom Nervus trigeminus versorgten Kaumuskulatur habe nicht vorgelegen. Auch ein postkommotionelles Syndrom könne ein Jahr nach dem Unfall nicht mehr vorliegen. 

Die Überprüfung des Ausgangsbescheids durch den Widerspruchsausschuss habe keine Bedenken gegen die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung ergeben, da sie dem erhobenen Befund entspreche und mit anderen Beurteilungen, die bei vergleichbaren Unfallfolgen abgegeben würden, übereinstimme und eine MdE des Klägers in rentenberechtigendem Grad nicht vorliege. Die Gewährung einer Rente sei somit zu Recht abgelehnt worden.

Der Kläger hat durch seinen Prozessbevollmächtigten am 02.03.2018 Klage zum Sozialgericht Frankfurt erhoben.

Der Klägervertreter trägt vor,

die Beklagte habe bei der MdE-Bemessung die aus dem erlittenen „Schädeltrümmerbruch“ erwachsenen Beschwerden des Klägers, insbesondere seine Gedächtnisstörungen, die ihm eine berufliche Tätigkeit, auch als Nebenerwerbslandwirt, verunmöglichten, nicht berücksichtigt. Die Wahrung von Terminen, Erledigungen jedweder Art oder die Teilnahme an Gesprächen im täglichen Leben seien dem Kläger kaum noch möglich; die damit einhergehende Anspannung und der entstehende Stress (Reizbarkeit, Ungeduld) seien ebenfalls Unfallfolgen, denn derlei Problematiken seien bei dem Kläger vor dem Unfall nicht vorhanden gewesen. Es sei nicht ersichtlich, aufgrund welcher sonstigen Umstände die Einschränkungen des Klägers entstanden sein könnten. Bei derart gravierenden Beeinträchtigungen und dem Umstand, dass der Unfall grundsätzlich geeignet gewesen sei, diese hervorzurufen, könne der Kläger nicht auf den Vollbeweis verwiesen werden. Die Neurologin Dr. F. habe anlässlich der ersten von ihr durchgeführten Untersuchungen mitgeteilt, dass sie konkrete Umstände annehme, die neurologische Spätschäden befürchten ließen, weshalb dem Kläger von der Ärztin u. a. empfohlen worden sei, alle Unterlagen aufzubewahren. 

Der Klägervertreter beruft sich auf das neuropsychologische Gutachten der Sachverständigen K. vom 16.09.2016, die Stellungnahme des Dr. Q. (Capio Mathilden-Hospital) vom 10.07.2020 (s. u.) und die Stellungnahme des Dr. C. vom 25.01.2021 (s. u.) und legt selbst eine Bescheinigung des Dr. C. vom 23.07.2019 vor, die lautet: „Es wird bestätigt, dass bei dem o. g. Patienten Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen bestehen. Diese sind Folge des schweren Schädelhirntraumas vom 19.04.2015 im Rahmen eines Arbeitsunfalls.“

Der Klägervertreter beantragt,

den Bescheid vom 20.04.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.02.2018 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, als Unfallfolge des Arbeitsunfalls vom 19.04.2015 ein Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma (ICD-10: F07.2) anzuerkennen sowie die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger seit dem 19.10.2015 Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 30 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte legt mehrere beratungsärztliche Stellungnahmen vor und beruft sich auf diese.

Der Neurologen/Psychiaters R. („iMB“) führt in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 08.08.2018 aus, dass die im Befundbericht über die MRT-Untersuchung des Gehirns vom 08.06.2015 beschriebenen „einzelnen unspezifischen Glianarben links-temporal“ unfallunabhängige Befunde seien; die Folgen einer Kontusion, einer diffusen Scherverletzung, eines Subduralhämatoms o. ä. im Bereich der intrakraniellen Strukturen ließen sich durch den Bericht nicht nachweisen. Zudem wären, wenn beim Kläger neuropsychologische Auffälligkeiten ausreichend sicher bestätigt werden könnten, diese mit Sicherheit nicht als unfallabhängig einzuordnen.

Zwei weitere beratungsärztliche Stellungnahmen, vom 20.07.2020 und vom 06.04.2021, stammen von dem Facharzt für Neurologie Dr. S. („iBM“). In Letzterer wertet der Beratungsarzt sämtliche während des Klageverfahrens beigezogene und vorgelegte medizinische Dokumente aus und kommt zu folgendem Ergebnis: Initial sei weder eine Bewusstlosigkeit noch eine anderweitige Symptomatik eines Schädelhirntraumas dokumentiert worden. Auch anderweitige neurologische Ausfallsymptome hätten sich nachweislich nicht gefunden. Als Gesundheitserstschaden ergebe sich somit eine Gesichtsschädelfraktur mit Impression der rechten Kieferhöhlenseitenwand und einer Trümmerfraktur des rechten Orbitabodens mit Betroffensein der Innen- und Seitenwandung. Eine traumatische, unfallbedingte Schädigung des Gehirns sei in der Kernspintomographie des Schädels (Bericht vom 23.06.2015) ausgeschlossen worden. Sofern der damalige D-Arzt (gemeint ist Dr. C.; Anm. d. Verf.) in seinem Schreiben vom 12.01.2021 (gemeint ist das Schreiben vom 25.01.2021; Anm. d. Verf.) das Vorliegen eines Schädelhirntraumas behaupte, könne ihm nicht zugestimmt werden. Aus der Verletzung des Gesichtsschädels könne keineswegs eine Beeinträchtigung der Hirnfunktion abgeleitet werden. Die vom Kläger beklagten Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen ließen sich in keinen Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis bringen, weil die bildgebenden Befunde eindeutig widerlegten, dass es zu einer unfallbedingten Schädigung des Gehirngewebes gekommen sei. Die Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen seien plausibler durch die unspezifischen Marklagerläsionen links (sprachdominante Gehirnhälfte) und über die regressiven Veränderungen am Hirngewebe (Abnahme des Hirnvolumens) zu erklären. Zusammenfassend seien keine intrakraniellen Schädigungsfolgen belegt. Aus dem Bericht der Frau Dr. F. vom 16.06.2015 ließen sich keine weiteren Erkenntnisse gewinnen, die die Argumentation des Klägers bzw. Klägervertreters oder des Dr. C. bekräftigen könnten. Mit dem Bericht des Herrn G. („postkommotionelles Syndrom“) lasse sich ein Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis ebensowenig begründen; die Argumentation fuße letztlich nur auf den subjektiven Äußerungen des Klägers und auf nicht sachgemäßer Bewertung der bildgebenden und klinischen Befunde. Auch aus dem Bericht der Frau K. vom 08.03.2016 ergäben sich nur Anhaltspunkte für kognitive Leistungsbeeinträchtigungen, jedoch keine Beweise für einen Unfallzusammenhang; hier werde die Diagnose eines postkommotionellen Syndroms übernommen und der Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis erneut auf die Angaben des Klägers gestützt, ohne dass die entsprechenden objektiven Befunde vorgelegen hätten. Zusammengefasst müsse auch unter Würdigung der neuerlichen Aktenunterlagen ein Schädelhirntrauma als Gesundheitserstschaden abgelehnt werden. Die kognitiven Defizite des Klägers seien unter Berücksichtigung der Kausalitätslehre der gesetzlichen Unfallversicherung nicht als Unfallfolge zu bewerten.

Die letzte von der Beklagten vorgelegte beratungsärztliche Stellungnahme stammt von dem Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. T. („iBM“) und datiert vom 20.10.2021 vor. In dieser heißt es, dass es im vorliegenden Fall unbedeutend sei, ob bei dem Kläger eine kurze Bewusstlosigkeit und ein leichtes Schädelhirntrauma vorgelegen habe, da eine leichte Gehirnerschütterung grundsätzlich niemals zu dauerhaften neurologisch-kognitiven Beeinträchtigungen führe; die durchgeführte bildgebende Diagnostik habe jedwede tatsächliche Verletzungsfolge im Bereich des Hirnparenchyms sowie zentral-neurologischer Strukturen ausgeschlossen. 

Darüber hinaus legt die Beklagte noch eine Unfallskizze (unbekannten Urhebers) vor. 

Das Gericht hat im Rahmen der Sachverhaltsermittlungen die Verwaltungsakten der Beklagten zu dem Rechtstreit beigezogen und sich von der Beklagten den Bericht des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, Neurologische Klinik Prof. Dr. U. (Dr. F.), vom 16.06.2015 über die dortige einmalige Vorstellung des Klägers am 13.05.2015, den Operationsbericht der MKG-Klinik über die Reposition und Osteosynthese von extraoral bei Jochbeinfraktur rechts vom 22.04.2015 und die Befundunterlage der konsiliarisch befassten Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde sowie vom Capio Mathilden-Hospital (Dr. C.) den Kurzbrief über die Behandlung vom 19.04.2015 vorlegen lassen. 

Des Weiteren hat das Gericht im Capio Mathilden-Hospital eine ergänzende Stellungnahme zu den dort von Dr. C. nach dem Arbeitsunfall gestellten Diagnosen und erhobenen Befunden angefordert, die wegen zwischenzeitlichen Eintritts des Herrn Dr. C. in den Ruhestand anhand der Aktenlage durch den Leitenden Oberarzt/D-Arzt Dr. Q. abgegeben worden ist (10.07.2020). Dieser hat mitgeteilt, dass eine Gesichtsschädelfraktur grundsätzlich ohne begleitendes Schädelhirntrauma undenkbar sei; eine Gewalteinwirkung auf den Kopf, welche eine Fraktur zur Folge habe, führe zwangsläufig zu einer Beteiligung des Neurocraniums. Dies werde gestützt durch die Anamneseangabe einer kurzzeitigen Benommenheit am Unfalltag. Aus Sicht ex ante habe es sich jedoch lediglich um ein leichtes Schädelhirntrauma gehandelt, da keine Bewusstlosigkeit vorgelegen habe. Wie es seitens des Dr. C. zur Einschätzung eines „schweren“ Schädelhirntraumas gekommen sei, sei anhand der Akten nicht mehr nachvollziehbar. Die Angabe von Gedächtnis- und Wortfindungsstörung beruhe lediglich auf der Anamnese des Verletzten im Verlauf und dem Befund des Neurologen G. vom 15.06.2015. Die Diagnose postkommotionelles Syndrom impliziere, dass auch der Neurologe (G.) ein leichtes Schädelhirntrauma angenommen habe. Worin die von diesem diagnostizierten kognitiven Störungen bestünden, sei Herrn Dr. Q. nach der Aktenlage nicht bekannt. Möglicherweise seien damit die Wortfindungsstörungen gemeint.

Da durch das Gericht nachträglich die aktuelle Anschrift des Dr. C. ermittelt werden konnte, hat dieser die o. g. gerichtliche Anfrage zu den seit dem Arbeitsunfall von ihm gestellten Diagnosen und erhobenen Befunden unter dem 25.01.2021 noch einmal selbst beantwortet. Hierbei hat der Arzt zunächst Bezug genommen auf den von ihm vorgelegten Bericht des Radiologen V. vom 21.04.2015 über die CT des Gesichtsschädels vom Unfalltag (s. o.). Unter „Klinische Angaben“ heißt es dort: „Z. n. Schädelprellung rechts mit Hämatom infraorbital. Schmerzen obere Zahnreihe rechts, Kiefergelenk rechts“. Der Radiologe kam in seinem Bericht zu folgender Beurteilung: „Orbitabodenfraktur. Verdacht auf Sprengung der Sutura des Jochbeins. Multiple Oberkieferfrakturen im Bereich der Lateralwand. Verdacht auf Osteom im Bereich des Rezessus frontalis [Recessus frontalis = Nische des mittleren Nasengangs; Internetrecherche der Kammervorsitzenden vom 06.07.2022 unter https://flexikon.doccheck.com/de/Recessus_frontalis] rechts.“ Zu diesem Bericht führt Dr. C. in seiner o. g. Stellungnahme aus, dass eine „so schwere Schädelprellung“ mit entsprechenden Verletzungen des Gesichtsschädels zweifellos auch zu einem Schädelhirntrauma führe. Bei jedem einzelnen Kontakt mit dem Unfallverletzten habe dieser immer wieder über Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen geklagt. Dass diese Störungen bestanden hätten, sei nach den diversen neurologischen und psychologischen Untersuchungen aus seiner Sicht unstrittig. Er, Dr. C., habe während der gesamten Behandlungszeit nie bezweifelt, dass diese Befunde Folgen des Arbeitsunfalls seien. Den Angaben im Bericht des Neurologen G. vom 19.10.2017, wonach beim Kläger lediglich eine leichte kognitive Störung und ein postkommotionelles Syndrom festzustellen seien, könne er nicht zustimmen und verweise hierzu auf den Befundbericht des Herrn G. vom 15.06.2015 sowie auf den ausführlichen neuropsychologischen Bericht der Frau K. vom 08.03.2016. 

Das Gericht hat darüber hinaus bei dem Hausarzt Dr. E. einen Befundbericht angefordert, der unter dem 25.01.2021 mit einem Auszug aus der Patientenkarteikarte (Zeitraum: 15.04.2015 bis 26.01.2021) sowie einem Auszug aus den medizinischen Daten der Notfall-Ambulanz des Capio Mathilden-Hospitals, der den Zeitraum vom 28.04.2007 bis zum 04.05.2016 umfasst, vorgelegt worden ist. Auf Anforderung des Gerichts hat das Universitätsklinikum Gießen und Marburg schließlich noch das Einsatzprotokoll des Rettungsdienstes vom Unfalltag (Transport zur MKG-Klinik Gießen, s. o.) sowie die Pflegedokumentation während des dortigen stationären Aufenthalts des Klägers (Pflegeverlauf vom 19.04.2015 bis 24.04.2015) vorgelegt. 

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens des Klägervertreters und der Beklagten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen ist.

Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung sehr ausführlich persönlich gehört worden. Zur Frage der (Dauer der) Bewusstlosigkeit nach dem Arbeitsunfall teilt der Kläger mit, dass der Fahrer des Schleppers, der ihn beim schwungvollen Wenden am Ende der Fahrgasse mit dem Ausleger des Gestänges der Feldspritze mit voller Wucht getroffen habe, den in seinem Rücken stattgehabten Unfall wegen seiner Ausrichtung nach vorne nicht gesehen habe, so dass der Fahrer noch eine ganze Fahrgasse mit der Feldspritze zurückgelegt habe und erst nach dem erneuten Wenden am Ende jener Fahrgasse vom Unfall Kenntnis genommen habe und zum Kläger bekommen sei. Erst als der Fahrer bei ihm gewesen sei, sei der Kläger wieder zu Bewusstsein gekommen.

Dem Kläger sei die Tragweite seines Unfalls überhaupt nicht bewusst gewesen, so dass er nicht nur den Weg nach Hause noch selbst mit dem Auto zurückgelegt habe, sondern es ihm auch gar nicht in den Sinn gekommen sei, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Nur auf starkes Drängen (Zwingen) seiner Ehefrau sei er bereit gewesen, sich von ihr ins Krankenhaus fahren zu lassen.

Auf Nachfrage der Kammervorsitzenden teilt der Kläger mit, dass er auf die fortlaufende Einnahme von Vitamin B 12 (Bericht des Herrn G. vom 19.10.2017, s. o.) keine Besserung seiner Beschwerden bemerkt habe. 


Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, sie ist form- und fristgerecht beim örtlich zuständigen Sozialgericht Frankfurt erhoben worden und als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGG) statthaft. 

Die Klage führt indes in der Sache nicht zum Erfolg.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Abänderung der angefochtenen Behördenentscheidung und Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines Organischen Psychosyndroms nach Schädelhirntrauma als Folge des Arbeitsunfalls vom 19.04.2015 sowie Gewährung einer Rente (§ 56 SGB VII). Vielmehr hat sich die Entscheidung der Beklagten auch im Klageverfahren als rechtmäßig erwiesen, denn es ist nicht zugunsten des Klägers nachgewiesen, dass bei ihm infolge der unfallbedingten Einwirkung auf den Kopf als Gesundheitserstschaden oder als Folge des Gesundheitserstschadens „Gesichtsschädelfraktur“ ein Schädelhirntrauma vorliegt.

In der gesetzlichen Unfallversicherung gilt: 

Die als Gesundheitserstschaden oder als Folge desselben (Unfallfolge) geltend gemachte Gesundheitsstörung muss im Vollbeweis, d.h. mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Dagegen muss der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen unfallbedingter Einwirkung und Gesundheitserstschaden bzw. zwischen Gesundheitserstschaden und Gesundheitsfolgeschaden nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu und zum Nachfolgenden z. B. BSG, Urteil vom 20.1.1987, 2 RU 27/86, = BSGE 61, 127 = SozR 2200 § 548 Nr. 84 und Urteil vom 9.5.2006, B 2 U 1/05 R) bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, insbesondere unter Berücksichtigung der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt hingegen nicht und erst recht genügt es nicht, dass eine Verursachung nur nicht auszuschließen ist. Erforderlich ist eine kausale Verknüpfung des Unfalls bzw. seiner Folgen mit der betrieblichen Sphäre, mithin eine rechtliche Zurechnung für besonders bezeichnete Risiken der Arbeitswelt beziehungsweise gleichgestellter Tätigkeiten, für deren Entschädigung die gesetzliche Unfallversicherung als spezieller Zweig der Sozialversicherung einzustehen hat, und zwar nicht nur im Sinne einer Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, sondern auch im Sinne der Zurechnung des eingetretenen Erfolges zum Schutzbereich der unfallversicherungsrechtlichen Norm als eines rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhangs (Zurechnungslehre der wesentlichen Bedingung. Ursachen im Rechtssinne sind danach diejenigen Bedingungen, die „wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben“ (BSG, Urteil vom 12. April 2005, B 2 U 27/04 R, Rz. 16, juris). Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache bzw. das Ereignis als solches, also Art und Ausmaß der Einwirkung, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihrer Krankengeschichte. Eine naturwissenschaftliche Ursache, die nicht als wesentlich anzusehen und damit keine Ursache iS der Theorie der wesentlichen Bedingung ist, kann als Gelegenheitsursache bezeichnet werden (BSG, Urteil vom 30. Januar 2007, B 2 U 8/06 R, Rz. 20, juris).

Die Begutachtungsleitlinien der Fachgesellschaften gehören zu den, sowohl von den Sachverständigen als auch von den Behörden als auch von den Gerichten zu beachtenden wissenschaftlichen Erkenntnisquellen; sie legen den aktuellen Erkenntnisstand aus wissenschaftlicher Evidenz und Praxis dar, bewerten ihn methodisch und klinisch, klären gegensätzliche Standpunkte und definieren das Vorgehen der Wahl. Wird von ihnen abgewichen, ist dies eingehend zu begründen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 114 und 115 sowie Seiten 163 ff. (Ziffer 5.1.14).

Dies vorausgeschickt, gilt im Falle des Klägers Folgendes:

Das „Organische Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma“ (ICD-10: F07.2) folgt einem Schädeltrauma, das meist schwer genug ist, um zu Bewusstlosigkeit zu führen und besteht aus einer Reihe verschiedenartiger Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung, Reizbarkeit, Schwierigkeiten bei Konzentration und geistigen Leistungen, Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen und verminderter Belastungsfähigkeit für Stress, emotionale Reize oder Alkohol („Info“ zu ICD-10: F07.2; Internetrecherche der Kammervorsitzenden vom 06.07.2022 unter https://www.icd-code.de/icd/code/F07.2.html).

Dem dieses und einen Rentenanspruch nach einer MdE von 30 v. H. feststellenden neuropsychologischen Sachverständigengutachten der Diplom-Psychologin, Psychologischen Psychotherapeutin und „Klinischen Neuropsychologin GNP“ K. vom 16.09.2016 konnte das erkennende Gericht nicht folgen, denn deren Feststellungen stehen – wie die Beratungsärzte der Beklagten nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts zurecht ausgeführt haben – nicht im Einklang mit den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen. Zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit wird zunächst auf die Inhalte der beratungsärztlichen Stellungnahmen des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. O. vom 09.03.2017 und des Neurologen Dr. S. vom 06.04.2021 verwiesen, die im Tatbestand wiedergegeben sind und denen das erkennende Gericht aus eigener Überzeugung folgt. Insoweit ergänzend und vertiefend wird die Klageabweisungsentscheidung noch wie folgt begründet:

Nach der S2k-Leitlinie „Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter“, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung, der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Neuroradiologie, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, der Gesellschaft für Neuropsychologie und dem Berufsverband Deutscher Neurologen, Stand 07/2018 (AWMF-Registernummer 094-002), Ziffern 1.2 bis einschließlich 1.4, kann eine traumatische Hirnschädigung als gesichert gelten, wenn sich typische Befunde in der Bildgebung und/oder charakteristische klinische Symptome nachweisen lassen.

Als weitgehend sichere Bildgebungs-Hinweise auf eine traumatische Hirnschädigung können nach der Leitlinie (aa0) gelten: „Substanzdefekt nach Kontusion, Ringen- oder Marklagerblutung; kleine Hyper- oder Hypodensitäten im Bereich der Mark-Rindengrenze mit zeitlicher Dynamik als Ausdruck einer traumatischen axonalen Schädigung im CT; in der Initialphase isolierte Diffusionsrestriktionen (Signalanhebung im DWI-MRT, Signalabsenkung in ADC); Verminderung eines Hirnödems im Verlauf; fokale kortikale Atrophie als Zeichen einer fokalen Rindenkontusion und sekundäre Waller-Degeneration in der Spätphase (Monate bis Jahre nach dem Trauma) bei Ausschluss konkurrierender Faktoren in der Anamnese und/oder multifokale Hämosiderinablagerungen als Zeichen einer abgelaufenen traumatischen axonalen Schädigung in der Spätphase im MRT bei geeigneten Untersuchungssequenzen (T2*, SWI)“ (s. a. Ziffer 3.2.1 der Leitlinie aa0). Subarachnoidalblutungen und akute subdurale Hämatome stellen Indizien für eine traumatische Hirnschädigung dar, müssen aber nicht zwingend mit einem Dauerschaden des Hirnparenchyms einhergehen.

Im Falle des Klägers hat die am Unfalltag durchgeführte CT-Diagnostik des Gesichtsschädels keinen typischen radiologischen Befund im soeben genannten Sinne ergeben (Wortlaut der Beurteilung im Bericht des Radiologen V. vom 21.04.2015, s. Tatbestand; vgl. auch Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Dr. D. vom 23.12.2016 „Vorgeschichte“, s. Tatbestand). Auch bei der am 08.06.2015 durchgeführte MRT-Untersuchung des Neurokraniums konnten keine Hinweise oder Indizien für eine traumatische Hirnschädigung im soeben genannten Sinne gefunden werden (Wortlaut des MRT-Berichts des Dr. H. vom 23.06.2015 sowie beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. S. vom 06.04.2021; beide s. Tatbestand). 

Initial sind also keine für eine traumatische Hirnschädigung typischen Befunde in der Bildgebung nachgewiesen. Aber auch in der Spätphase („Monate bis Jahre“; Leitlinie aa0, Ziffer 3.2), nämlich bei der genau zwei Jahre nach der ersten MRT-Bildgebung erneut durchgeführten MRT-Untersuchung des Schädels, ist dies nicht der Fall gewesen (Wortlaut des MRT-Berichts des Dr. P. vom 08.06.2017, s. Tatbestand). Der Radiologe hat sogar noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es bei unauffälligem Schädel-MRT keine Erklärung für die klinische Symptomatik des Klägers („anamnestisch zunehmende Vergesslichkeit, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen“) gebe. 

Initial nach dem Arbeitsunfall sind bei dem Kläger auch keine charakteristischen klinischen Symptome erhoben worden, mit denen eine traumatische Hirnschädigung zu sichern gewesen wäre, nämlich Nachweis einer längeren (mehr als eine Stunde andauernden, s. Leitlinie aa0, Ziffer 3.1.1), nicht medikamentös induzierten Bewusstseinsstörung; Nachweis einer mehr als 24 Stunden anhaltenden, nicht medikamentös induzierten Verwirrtheit/Desorientiertheit und/oder Nachweis zerebral zuzuordnender neurologischer Ausfälle:

Der Kläger schilderte in der Notfall-Ambulanz des Capio Mathilden-Hospitals eine „kurzzeitige“ Benommenheit nach dem Kopfanprall des Gestänges seiner Feldspritze (D-Arztbericht vom 19.04.2015, s. Tatbestand). In der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg gab er hingegen an, dass Bewusstseinsstörungen zu keiner Zeit bestanden hätten (Bericht der MKG-Klinik vom 05.02.2016 über die dortige stationäre Behandlung des Klägers ab 19.04.2015, s. Tatbestand). Auch mit der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung angegebenen Zeitdauer seiner Bewusstlosigkeit (für die Dauer des Abfahrens einer ganzen Fahrgasse des Rapsackers mit der Feldspritze inklusive Rückkehr zum anderen Ende der Fahrgasse durch den Fahrer, s. Tatbestand) ist der Nachweis einer mehr als eine Stunde andauernden Bewusstseinsstörung nicht erbracht, da dieser Vorgang nicht so lange gedauert hat. Selbst wenn aber davon ausgegangen würde, dass eine Bewusstseinsstörung des Klägers auch noch während seiner anschließender Fahrt mit dem PKW nach Hause und während des Gesprächs mit seiner Ehefrau zuhause vorgelegen hat, wäre der Nachweis einer mehr als einstündigen Bewusstseinsstörung nicht erbracht, denn bereits um 19:09 h traf der Kläger in der Notfall-Ambulanz des Capio Mathilden-Hospitals ein, wo keine Bewusstseinsstörung festgestellt wurde (D-Arztbericht Dr. C. vom 19.04.2015, s. Tatbestand). Mit einer Bewusstseinsstörung, die nicht mehr als eine Stunde angedauert hat, ist nach der Leitlinie (aa0 Ziffer 3.1.1) zwar eine strukturelle Hirnverletzung nicht ausgeschlossen, aber „unwahrscheinlich“.

In der Notfall-Ambulanz des Capio Mathilden-Hospitals in Büdingen wurde nach klinischer Untersuchung und Auswertung der vom Radiologen V. durchgeführten Computer-Tomographie des Gesichtsschädels (s. o.) kein Schädelhirntrauma festgestellt. Hier wurde nur die Diagnose „Gesichtsschädelfraktur (ICD-10: S02.9)“ erhoben, und der Kläger wurde sofort nach Gießen in die MKG-Klinik (und nicht etwa in die Neurologische Klinik) verlegt. Auf dem Transport dorthin mit dem Rettungswagen sind ebensowenig Bewusstseinsstörungen des Klägers dokumentiert worden (der Glasgow-Coma-Score lag zu Beginn und zum Ende der Fahrt jeweils bei 15/15, s. Tatbestand). Auch sind während des 5tägigen stationären Aufenthalts des Klägers in der MKG-Klinik keine charakteristischen klinischen Symptome für eine traumatische Hirnschädigung (gemäß Leitlinie, s. o.) dokumentiert worden – solche ergeben sich weder aus dem Wortlaut des Berichts der MKG-Klinik vom 05.02.2016 (s. Tatbestand) noch aus den Befundunterlagen der konsiliarisch mitbefassten Augenklinik. Eine konsiliarische neurologische Untersuchung des Klägers wurde während des stationären Klinikaufenthalts gar nicht veranlasst. Aus der vom Gericht – wegen der großen Bedeutung der Initialbefunde (Leitlinie aa0, Ziffer 1.4 am Ende sowie Ziffer 3.1.1 am Ende) – beigezogenen Pflegedokumentation der MKG-Klinik ergeben sich ebensowenig Hinweise auf Desorientierung und/oder Verwirrtheit des Klägers (oder Halluzinationen, ängstliche Verkennung, Agitiertheit, emotionale Entgleisung und/oder Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus; Leitlinie aa0, Ziffer 3.1.1) als klinische Anknüpfungstatsachen für eine substantielle Hirnschädigung.

Als solche Anknüpfungstatsache gelten auch retrograde Amnesie und/oder anterograde Amnesie (Leitlinie ebenda), aber weder die eine noch die andere Art der Amnesie ist von einem behandelnden Arzt oder der Sachverständigen K. festgestellt worden. Der behandelnde Arzt und spätere Sachverständige Prof. Dr. Dr. D. hat in der „Vorgeschichte“ seines Gutachtens vom 23.12.2016 mitgeteilt, dass der Kläger angegeben habe, sich detailliert an den Unfallhergang erinnern zu können.

Erst- und einmalig nach dem stationären Aufenthalt stellte sich der Kläger am 13.05.2015 mit Wortfindungsstörungen und Konzentrationsproblemen mit Kurzzeitgedächtnisstörungen, die seit dem Unfall bestünden, ambulant in der Neurologischen Klinik (des Universitätsklinikums Gießen und Marburg) vor (Bericht Dr. F. vom 16.06.2015, s. Tatbestand). Hier wurde nach körperlicher Untersuchung nur die Diagnose „Wortfindungsstörung“ gestellt und u. a. eine neuropsychologische Testung empfohlen. Eine Hirnschädigung oder Hinweise hierauf ergeben sich aus dem Bericht nicht. Dass neurologische Spätschäden zu befürchten seien, was Frau Dr. F. gegenüber dem Kläger bei diesem Termin geäußert haben soll, wie dieser in der mündlichen Verhandlung noch einmal bekräftigt hat, ergibt sich aus ihrem Bericht ebensowenig.

Bei seiner ambulanten Vorstellung bei Dr. C. am 20.05.2015 beklagte der Kläger diesem gegenüber erstmalig „deutliche Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen“ (Bericht desselben von diesem Tag, s. Tatbestand). Soweit Dr. C. in seiner Stellungnahme gegenüber dem Gericht vom 25.01.2021 angegeben hat, dass eine „so schwere Schädelprellung mit Verletzungen des Gesichtsschädels“ wie die des Klägers „zweifellos auch zu einem Schädel-Hirn-Trauma führt“, steht eine solche Zwangsläufigkeit nicht im Einklang mit den aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen, denn in Ziffer 2.3 der Leitlinie (aa0) heißt es, dass es sich bei der Schädelprellung um eine Verletzung ohne klinischen oder bildgebenden Hinweis auf eine Hirnbeteiligung handelt und bei Schädelfrakturen zu bedenken sei, dass diese in großem Umfang kinetische Energie absorbierten, also nicht zwingend auf eine Hirnschädigung hinwiesen. Daher konnte weder die o. g. Stellungnahme des Dr. C. vom 25.01.2021 noch dessen Bescheinigung vom 23.07.2019 (s. Tatbestand) noch die, diese Zwangsläufigkeit ebenfalls bejahende, Stellungnahme des Herrn Dr. Q. vom 10.07.2020, auf die sich der Kläger ebenfalls beruft, zu dessen Gunsten gewertet werden (vgl. auch beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. S. vom 06.04.2021, s. Tatbestand) – ganz abgesehen davon, dass Herr Dr. Q. die Diagnose eines „schweres Schädelhirntraumas“ anhand der Krankenakte des Klägers nicht nachvollziehen konnte.

Die soeben genannten, im Klageverfahren abgegebenen Stellungnahmen des Dr. C. sind zudem nicht recht schlüssig zu seiner zeitnahen Berichterstattung gegenüber der Beklagten: Hier gab Dr. C. nämlich im Zwischenbericht vom 27.07.2015 an, dass der Kläger „immer noch“ unter den Folgen eines „schweren Schädelhirntraumas“ leide, ohne ein solches bei den vorangegangenen Berichterstattungen als „Diagnose“ mitgeteilt zu haben, was aber auch in diesem Zwischenbericht und auch in den zahlreichen nachfolgenden D-Arztberichten über die weiteren dortigen Vorstellungen des Klägers (s. Tatbestand) nicht geschah. Erst am 03.05.2017, zwei Jahre nach dem Arbeitsunfall, stellte Dr. C. bei dem Kläger formell die Diagnose „Schädel-Hirn-Trauma“, formuliert als „Zustand nach“ (s. Tatbestand). 

Nach alledem sind die nach der S2k-Leitlinie „Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter“ (aa0) für ein Schädelhirntrauma typischen Befunde in der Bildgebung sowohl in der Initial-, als auch in der Spätphase nicht nachgewiesen und auch nicht die initial charakteristischen klinischen Symptome.

Die fehlenden typischen radiologischen Hinweise auf eine traumatische, strukturelle Hirnschädigung hat auch die Sachverständige K. in ihrem neuropsychologischen Gutachten vom 16.09.2016 gesehen. Ihr dortige Feststellung, dass bei dem Kläger „trotz fehlender Nachweise in den bildgebenden Verfahren“ unfallbedingt ein „leichteres Schädel-Hirn-Trauma“ vorgelegen habe (Gutachten aa0, Seite 5 „Diskussion“, ab neuntletzte Zeile) und dass die beim Kläger vorliegende neuropsychologische Leistungsminderung (als Symptom des von ihr diagnostizierten „Organischen Psychosyndroms“) hierdurch bedingt sei, begründet die Neuropsychologin mit der Literatur zum „Postkommotionssyndrom“ bei diffusen axonalen Schädigungen nach leichteren Schädel-Hirn-Verletzungen“ (Wallesch und Bartels, Neuropsychologische Defizite nach Schädel-Hirn-Trauma, in: Sturm et al., Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie, 2. Auflage 2009). Dies konnte das erkennende Gericht jedoch nicht überzeugen.

In Ziffer 3.2.1 der S2k-Leitlinie (aa0) werden zu dem „wissenschaftlich mittlerweile hinreichend belegten Konzept der leichten traumatischen axonalen Schädigung“ (zum Begriff s. a. Leitlinie aa0, Ziffer 2.4 b) Patienten beschrieben, „die initial nicht zwingend länger als eine Stunde bewusstlos sind, die bei Erstkontakt mit dem Notarzt oder Aufnahmearzt nicht zwingend einen GCS kleiner als 15 aufweisen, die in der akuten Bildgebung meist keine eindeutig pathologischen Befunde aufweisen, [...] die jedoch in den ersten Wochen nach Trauma deutliche und nach Monaten noch nachweisbare neuropsychologische Defizite von Aufmerksamkeits-, frontal-exekutiven und -behavioralen sowie Gedächtnisfunktionen aufweisen [Hervorh. nicht im Original] (Mittl et al. 1994; Wallesch et al. 2001 a/b, Ruff 2011).“

Neuropsychologische Defizite von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen des Klägers wurden von der Sachverständigen K. im Gutachten vom 16.09.2016 festgestellt, wobei allerdings insbesondere der Beratungsarzt der Beklagten, Prof. Dr. O,, die Validität dieser Feststellungen verneint hat (s. Tatbestand); Defizite von frontal-exekutiven Funktionen und Defizite von frontal-behavioralen Funktionen hat die Sachverständige jedoch nicht festgestellt.

Unter diese fallen typischerweise u. a. Missachten von Aufgabeninstruktionen (rule breaking), Dissoziation von Wissen über erforderliches Verhalten und der Fähigkeit, dieses tatsächlich umzusetzen (knowing-doing-dissociation), ebenso häufig unorganisiertes und wenig zielgerichtetes Verhalten und eine mangelnde Antizipation, Apathie, Aspontaneität, emotionale Indifferenz, Mangel an Feinfühligkeit, Nichterkennen sozialer Signale, Impulsivität, Reizbarkeit, weitschweifige Rede, verminderter Sprachantrieb, aggressive (verbale) Ausbrüche, Handlungsaggressionen (die genannten frontal-exekutiven Defizite sind entnommen: Müller S. V., Klein T. et al., Diagnostik und Therapie von exekutiven Dysfunktionen bei neurologischen Erkrankungen, S2e-Leitlinie, 2019, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; www.dgn.org/leitlinien, abgerufen von der Kammervorsitzenden am 29.06.2022; die genannten frontal-behavioralen Defizite sind der „Bogenhausener Ratingskala zur Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten nach erworbenen Hirnschädigungen“ (BRBV), Cramon et al. 1992 sowie dem „Frontal Behavioral Inventory“ (FBI), Kertesz et al. 1997, entnommen, die Knop, Geiger und Schächtele (Arbeitskreis Aufmerksamkeit & Gedächtnis der GNP e. V.), Verfahren zur Erfassung von VerhaltensAuffälligkeiten (VEVA), Version Oktober 2009, in ihrer Übersicht gebräuchlicher Rating-Verfahren zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten infolge von Hirnschädigungen dargestellt haben; abgerufen von der Kammervorsitzenden am 29.06.2022 unter https://www.gnp.de/arbeitskreise-und-regionalgruppen/ak-aufmerksamkeit-und-gedaechtnis?file=files/user_file, dort: „Informationsmaterial“).

Frontal-exekutive oder frontal-behaviorale Defizite im soeben genannten Sinne lagen ausweislich der gutachtlichen Feststellungen von Frau K. bei dem Kläger nicht vor. Dessen Verhalten hat die Sachverständige vielmehr in ihrem Gutachten beschrieben als sehr kooperativ und motiviert, „wie bereits in der Voruntersuchung“, und hat betont, dass der Kläger sogar trotz leichter Anstrengung und Erschöpfung gegen Ende der dreistündigen Untersuchung immer noch motiviert und anstrengungsbereit gewesen sei. Er habe zudem ein gutes Selbstreflexionsvermögen bewiesen. Im Kontakt sei er sehr freundlich, offen und zugewandt gewesen und habe sich trotz hohen Mitteilungsbedürfnisses stets wieder zur konzentrierten Weiterarbeit zurückführen lassen. In seiner Grundstimmung habe er ausgeglichen gewirkt.

Ausweislich ihres Gutachtens hat die Sachverständige auch keine „Rating-Verfahren“ zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten infolge von Hirnschädigungen (s. o.) angewandt. Testpsychologische Untersuchungen seien, so Knop, Geiger und Schächtele (aa0), nicht geeignet, diese ausreichend zu erfassen. Aber auch kein von der Sachverständigen angewandtes testpsychologisches Verfahren war auf die frontal-exekutiven und frontal-behavioralen Funktionen ausgerichtet; ausschließlich die Funktionen „Gedächtnis“, „visuelle Wahrnehmung“, „Aufmerksamkeit und Reaktion“ sowie „verbale Flüssigkeit“ wurden von der Neuropsychologin testpsychologisch untersucht.

Störungen des Antriebs und der psychomotorischen Geschwindigkeit sowie der exekutiven Funktionen einschließlich Änderungen im Verhalten und Störungen der Affektkontrolle – mithin eine posttraumatische neuropsychologische Symptomatik (Leitlinie aa0, Ziffer 4.1) – ist auch von dem Neurologen und Psychiater G. nicht dokumentiert worden. Der Kläger ist von diesem (Berichte vom 15.06.2015 und 19.10.2017, s. Tatbestand) als in Auffassung, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis nur leicht reduziert beschrieben worden, Antrieb und Psychomotorik seien unauffällig gewesen, der Kläger sei affektiv ausgeglichen gewesen. Auch wenn Herr G., obwohl dies nicht zu den von ihm erhobenen Befunden passt, bei dem Kläger ein „Postcommotionelles Syndrom“ diagnostiziert hat (vgl. hierzu beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. S. vom 06.04.2021, s. Tatbestand), hat er doch gleichzeitig mitgeteilt, dass es hierfür „kein strukturelles MR-Tomographisches Korrelat“ gebe.

Die erkennende Kammer selbst hat – dies sei hier lediglich ergänzend angemerkt, ohne dass die gerichtliche Entscheidung hierauf gestützt wird – den Kläger in der mündlichen Verhandlung freundlich, offen und zugewandt erleben (z. B. entschuldigte er sich ausführlich für sein Zuspätkommen um zwei Minuten). Seine Aufmerksamkeit und seine Konzentration waren während der gesamten, fast anderthalbstündigen mündlichen Verhandlung sehr hoch. Der Kläger nahm jede Einzelheit des sehr langen Sachberichts der Kammervorsitzenden zur Kenntnis und korrigiert, ergänzte und kommentierte diverse Punkte, als er hierzu von der Kammervorsitzenden, nach dem Ende des Sachberichts, das Wort erteilt bekam. Seine Ausführungen, denen er noch höflich vorausschickte, dass nicht etwa die Vorsitzende falsch vorgetragen habe, sondern dass die von ihr zitierten Arztberichte falsch seien, erfolgten alleine aus seinem Gedächtnis und waren jederzeit sachlich, sachdienlich und auch sprachlich gewandt. Wortfindungsstörungen konnten von den Kammermitgliedern während der gesamten Anhörung nicht beobachtet werden.

Mit dem fehlenden Nachweis frontal-exekutiver und/oder frontal-behavioraler Defizite (und fraglichen Störungen der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen, s. o.) entspricht der Kläger nicht der Patientengruppe, die in der S2k-Leitlinie (aa0) zum „Konzept der leichten traumatischen axonalen Schädigung“ beschrieben ist (s. o.) Der Rückschluss der Sachverständigen K. auf ein unfallbedingtes Schädelhirntrauma anhand dieses Konzeptes, dessen Voraussetzungen aber nicht nachgewiesen sind, ist für das erkennende Gericht nicht überzeugend. Der notwendige Vollbeweis eines (bei dem Arbeitsunfall) erlittenen Schädelhirntraumas ist hiermit – bei zudem fehlenden Nachweisen initial typischer klinischer und initial und in der Spätphase typischer bildgebender Befunde (s. o.) – für das erkennende Gericht nicht erbracht.

Damit konnte, nach dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand, ein Schädelhirntrauma (als Gesundheitserstschaden der unfallbedingten Einwirkung auf den Kopf des Klägers am 19.04.2015 oder als Folge des Gesundheitserstschadens „Gesichtsschädelfraktur“) nicht im notwendigen Vollbeweis zugunsten des Klägers nachgewiesen werden. Hieraus folgt, dass auch das von der Sachverständigen K. als Folge des Schädelhirntraumas diagnostizierte Organische Psychosyndrom nicht als Unfallfolge festgestellt werden konnte. Damit schied auch der hieraus von der Sachverständigen K. abgeleitete Rentenanspruch aus.

Die Klage konnte nach alledem keinen Erfolg haben und war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 143, 144 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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