L 6 VG 3907/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 VG 4554/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 3907/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 29. September 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand


Der Kläger begeht die Gewährung von Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund eines behaupteten schweren sexuellen Missbrauchs in der Kindheit sowie der Anfertigung/des Besitzes kinderpornographischer Bilder durch seinen damaligen Friseur.

Er ist 1973 geboren und hat drei Brüder. Nach dem Hauptschulabschluss hat er seine Ausbildung zum Versicherungskaufmann abgebrochen, ist nie einer regelmäßigen Arbeitstätigkeit nachgegangen und hat seinen Lebensunterhalt von Sozialleistungen sowie der Teilnahme an Medikamentenstudien bestritten (vgl. die Angaben bei dem Kriminaldauerdienst [KDD]). Seit 2007 bezieht er Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund psychischer Erkrankungen von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV). Sein Vater hat im November 1981 Suizid begangen, ebenso einer seiner Brüder. Ein Halbonkel war nach seinen Angaben in stationärer psychiatrischer Behandlung. Die Mutter ist 2006 an einem Krebsleiden verstorben.

Am 28. November 2017 beantragte er bei dem Landratsamt F (LRA) die Gewährung von Leistungen nach dem OEG, welches die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen (StA – Az.: 22 Js 9746/17) beizog, wonach er insgesamt zweimal Angaben zur Sache machte, das Verfahren aber letztlich eingestellt wurde.

Am 20. November 2017 sprach der Kläger auf dem Polizeirevier F1 vor und gab an, dass er seit 10 Jahren berentet sei. Er habe nun aufgrund einer anderen Erkrankung ein Medikament nehmen müssen, was zur Folge gehabt habe, dass er sich wieder habe erinnern können und ihm eingefallen sei, als Kind missbraucht worden zu sein. Der Zeitraum der Taten liege zwischen Ende der 70er-Jahre und Mitte der 80er-Jahre.

Nach dem Eingangsbericht des KDD, Polizeipräsidium Freiburg, gab der Kläger an, als Schulkind mehrfach von seinem damaligen Friseur „angegangen“ worden zu sein. Nach dem frühen Tod seines Vaters habe die Familie viel Hilfe aus der Gemeinde erhalten, so auch von dem Friseur, der habe sich immer wieder angeboten und den „guten Onkel“ gespielt. Danach sei es mehrfach (keine Konkretisierung möglich) zu Besuchen durch den Friseur bei dem Kläger zu Hause gekommen, wenn dieser alleine zu Hause gewesen sei. Er könne sich bislang insgesamt nur an wenige Details der Vorfälle erinnern. Er habe angeben können, dass er sich mehrfach bei sich zu Hause, aber auch an anderen Örtlichkeiten vor dem Friseur habe ausziehen müssen. Hierbei habe der Beschuldigte Fotos gemacht. Einmal sei es auch dazu gekommen, dass er sich mit dem Beschuldigten und einem weiteren Jungen irgendwo aufgehalten und dass der Beschuldigte den Kläger dazu bestimmt habe, Oralverkehr an dem anderen Kind durchzuführen. Weiter habe er berichtet, dass ihn der Beschuldigte dazu gezwungen habe, sich nach vorne zu beugen. Im Anschluss sei der Beschuldigte in ihn eingedrungen. Dieser Missbrauch habe in einer Gemeindehütte stattgefunden, in der es sehr stark nach Urin gerochen habe. Als der Kläger vor etwa zwei Wochen an der D spazieren gegangen sei, habe austreten müssen und an ein kleines Häuschen urinierte habe, an dem ebenfalls starken Uringeruch festzustellen sei, habe der Geruch die ganzen Erinnerungen an die sexuellen Übergriffe hervorgebracht. Nach zweiwöchiger Bedenkzeit habe er sich entschieden, den Sachverhalt der Polizei mitzuteilen. Gegen Ende der Grundschulzeit habe er unter Konzentrationsstörungen gelitten und ihm habe jeglicher Antrieb gefehlt. Eine begonnene Ausbildung habe er abgebrochen und sich durch Teilnahme an Medikamentenstudien über Wasser gehalten. Seit etwa 10 Jahren sei er berentet. Als Grund hierfür habe er Depressionen und sonstige körperlichen Beschwerden benannt, die bislang von keinem Arzt hätten medizinisch erklärt werden können. Der Kläger habe angegeben, dass er sich seit seiner Kindheit nie wieder an die Vorfälle mit dem Friseur habe erinnern können. Er vermute, dass es ihm all die Jahre aufgrund der sexuellen Übergriffe so schlecht gegangen sei. Aktuell finde keine ärztliche/psychologische Behandlung statt. Er könne sich nur an „Lichtblitze“ erinnern und habe zu den Geschehnissen einzelne Bilder im Kopf. Oft könne er sich gar nicht erklären, wie sich die jeweiligen Ereignisse angebahnt hätten. Insgesamt habe der Kläger einen psychisch stark belasteten Eindruck gemacht, die Angaben schienen glaubhaft.

Bei der späteren Geschädigtenvernehmung vom 20. November 2017 im Kriminalkommissariat Waldshut-Tiengen berichtete der Kläger, dass ihm vor einigen Tagen eingefallen sei, dass es zu mehreren sexuellen Übergriffen Ende der 70er- bis Anfang der 80er-Jahre gekommen sei. Als er vor zirka zwei Wochen an der D spazieren gegangen sei und hinter einer kleinen Hütte uriniert habe, sei ihm ein bestimmter Geruch aufgefallen, der Erinnerungen in ihm geweckt habe. Dies habe er scheinbar verdrängt, erst jetzt komme ihm der Geruch wieder bekannt vor. Er sei 1973 geboren. Sie seien damals eine arme Familie gewesen, weshalb ein Friseur bei ihnen Hausbesuche gemacht habe. Der sei zwar nicht offiziell gekommen und immer nur, wenn seine Mutter nicht zu Hause gewesen sei. Da das alles schon sehr lange zurückliege, könne er sich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Aber es dürfte so 1978 angefangen habe. Der Friseur habe ihnen dann auch die Haare geschnitten, allerdings sei dies nicht der einzige Grund seines Besuchs gewesen, der eigentliche Grund sei ein anderer gewesen. Er sei auch öfters zu dem Friseur zum Haareschneiden in den Salon gegangen. Er meine sich zu erinnern, dass der Friseur V mit Nachnamen geheißen habe, er wisse, dass er eine Tochter gehabt habe, die V1 hieß. Der Friseur könnte damals Mitte 30 Jahre alt gewesen sein. Er würde ihn als „bilderbuchtuntig“ beschreiben, auch wenn man diesen Ausdruck nicht verwenden solle. Er sei gebräunt gewesen und habe blondiertes Haar gehabt, so blondiert und getönt, wie es in den 80er-Jahren Mode gewesen sei. Da seine Familie relativ arm gewesen sei, habe er sich öfters bei ihnen blicken lassen und den guten Onkel vorgespielt. Dass alles sei nach dem Tod seines Vaters gewesen. Der Friseur habe bei ihm zu Hause stets Fotos von ihm gemacht und ihm danach fünf Mark in die Hand gedrückt. Er habe immer gesagt, dass er keinen Vaterersatz spielen wolle. Der Friseur habe ihm ständig ein schlechtes Gewissen eingeredet, dass wenn er ihm nicht helfe, es auch seiner, des Klägers, Mutter schlecht gehe. Er habe zu dem Zeitpunkt mit seiner Mutter und seinen drei Brüdern zusammengewohnt. Dass sonst jemand etwas von den Vorfällen mitbekommen habe, glaube er nicht. Wie genau es zu den sexuellen Handlungen gekommen sei, könne er nicht mehr sagen. Er wisse nur noch, dass der Friseur ihn auf der psychologischen Schiene dazu gebracht habe sich auszuziehen. Er erinnere sich an einen Tag, als ein anderer Junge bei ihnen im Haus gewesen sei. Sie seien beide nackt im Esszimmer auf dem Sofa gewesen und er habe den anderen Jungen oral befriedigen müssen. Der Friseur habe dabei Fotos von ihnen gemacht. An den Namen des anderen Jungen könne er sich nicht erinnern, wie oft es zu solchen Vorfällen gekommen sei, wisse er auch nicht mehr, aber es sei mehrmals im Jahr gewesen. Er sei zirka sieben bis acht Jahre alt gewesen. Auf die Frage, ob er von dem Friseur selbst auch angefasst worden sei, habe der Kläger angegeben, sich daran zu erinnern, eine Fahrradtour gemacht und den Friseur zufällig hinter einer Gemeindehütte getroffen zu haben. Wieder habe er ihn irgendwie dazu gebracht, sich auszuziehen und Fotos von ihm gemacht. Er erinnere sich noch an seine rote Unterhose. Hinter dieser Hütte habe er sich dann abbücken müssen. Hierbei erinnere er sich an den Geruch von Urin, da viele die Rückseite der Hütte zum Urinieren benutzt hätten. Bei diesem letzten Fall sei der Friseur in ihn eingedrungen, wobei er nicht mehr sagen könne, ob dies mit dem Penis oder mit dem Finger gewesen sei. Ob der Friseur ihm gegenüber etwas geäußert habe, daran könne er sich nicht erinnern. Auf die Frage, an wie viele Vorfälle er sich erinnern könne, habe der Kläger angegeben, sich relativ klar an zwei Vorfälle erinnern zu können. Er habe allerdings mehrere Bilder im Kopf, die ab und zu schnappschussartig in Erinnerung kämen. Dabei sei er nackt an verschiedenen Orten gewesen. Wie es dazu gekommen sei, könne er nicht mehr sagen. Er habe den Friseur niemals auf die Fotos angesprochen, da er dies zu dem Zeitpunkt, als es geschehen sei, schon verdrängt habe. Der Friseur habe niemals gesagt, wofür die Fotos seien. Seinen Brüdern habe er sich nie anvertraut, er wolle auch heute nicht, dass sie etwas davon erführen. Ob sie auch Opfer geworden seien, wisse er nicht. Er sei derzeit nicht arbeitstätig, sondern seit zehn Jahren berentet. Er habe sich nie an seine Jugendzeit erinnern können, wenn er von Gutachtern danach gefragt worden sei. Ob es nach den sexuellen Handlungen zu körperlichen Schäden oder Beeinträchtigungen gekommen sei, wisse er nicht, nur noch, dass er in der Grundschule massive Probleme gehabt habe sich zu konzentrieren. Er sei dann deshalb in einem Förderkurs gewesen, in der vierten Klasse seien die Noten immer schlechter geworden und er von der Lehrerin darauf angesprochen worden. An den Namen der Lehrerin könne er sich nicht erinnern. Er habe sich über die Vorfälle nie jemanden anvertraut, obwohl er ja als Kind über sehr viel Geld verfügt habe, es habe sich niemand darüber gewundert, warum er so viel Geld habe. Soweit er wisse, habe seine Mutter mit dem Friseur keinen Kontakt gehabt. Er erinnere sich noch daran, dass er bei den darauffolgenden Friseurbesuchen dem Friseur irgendwie unbewusst seine kalte Schulter gezeigt habe, der ihm dann die Frisur verschnippelt habe.

Nach der Einschätzung der StA vom 20. Dezember 2017 wurden die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs als verjährt eingestuft. Die Durchsuchung beim Beschuldigten wegen möglicher kinderpornographischer Bilder sei unverhältnismäßig im engeren Sinne. Zum einen sei die Erfolgsaussicht, die Fotos nach über 30 Jahren zu finden gering, zum anderen müsse der Verdacht als vage bezeichnet werden, da der Kläger angegeben habe, sich erst nach Einnahme eines Medikaments an die Sachverhalte erinnert zu haben. Dies könnte für Scheinerinnerungen sprechen, also Erinnerungen an Sachverhalte, die sich tatsächlich nie ereignet hätten. Schließlich sei das hohe Alter des nicht vorbestraften Beschuldigten (Jahrgang 1940) zu berücksichtigen. Bei der dennoch durchgeführten Vernehmung wegen des Verdachts des Besitzes von kinderpornographischen Schriften machte der Beschuldigte, der zum berichteten Tatzeitpunkt 200 m weg vom Kläger wohnhaft war, keine Angaben gemacht.

Mit Verfügung vom 21. Februar 2018 hat die StA anschließend das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt. Die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs und der Herstellung kinderpornographischer Schriften seien verjährt, der heutige Besitz kinderpornographischer Schriften nicht nachweisbar. Zwar könne sich der Beschuldigte, die Wahrheit der Angaben des Klägers unterstellt, nach wie vor im Besitz kinderpornographischer Schriften befinden, weitere Ermittlungen hätten aber wegen der Unverhältnismäßigkeit bei vagem Tatverdacht, dem Alters des Beschuldigten wie dem Umstand, dass dieser strafrechtlich nie im Erscheinung getreten sei, zu unterbleiben. Es bestünden gewisse Bedenken an der Glaubhaftigkeit der Aussage des Klägers, da sich dieser erst im November 2017 an die Geschehnisse unter dem Einfluss von Medikamenten sowie der psychischen Beeinträchtigung insgesamt habe besinnen wollen. Er habe angegeben, sich bis zuletzt überhaupt nicht an seine Jugend und Kindheit erinnert sowie die Geschehnisse mit dem Beschuldigten immer unmittelbar nach den Taten verdrängt zu haben. Aufgrund der Einnahme eines neuen Medikaments und durch Wahrnehmung von Uringeruch seien jedoch schlagartig die Erinnerungen an die damalige Zeit zurückgekehrt.

Mit Bescheid vom 23. April 2018 lehnte das LRA den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung ab. Die Prüfung habe ergeben, dass die StA das Ermittlungsverfahren eingestellt habe. Zudem bestünden gewisse Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage, da sich der Kläger erst nach mehr als 30 Jahren an die Geschehnisse erinnert haben wolle. In der Geschädigtenvernehmung habe er angegeben, dass ihm eingefallen sei, dass es in seiner Kindheit zu mehreren sexuellen Übergriffen gekommen sei. Die Erinnerungen an die damalige Zeit seien aufgrund der Einnahme eines neuen Medikaments und durch die Wahrnehmung von Uringeruch bei einem Spaziergang an der D zurückgekehrt. Zwar seien umfangreiche Angaben zu den einzelnen Vorfällen gemacht und der Vorgang hinter der Gemeindehütte detailliert beschrieben worden, wonach der Kläger eine rote Unterhose getragen habe. Solches Detailwissen könne zwar ein Indiz für ein tatsächliches Erleben sein, müsse es aber nicht zwingend. Die polizeilichen Ermittlungen hätten jedenfalls keine stichhaltigen Anhaltspunkte für die Täterschaft des Beschuldigten gegeben. Der Tatverdacht basiere allein auf den Angaben des Klägers, der Beschuldigte schweige zu den Vorwürfen. Darüber hinaus leide der Kläger seit längerer Zeit an gesundheitlichen Problemen, welche auch medikamentös behandelt würden. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass durch die Einnahme des neuen Medikaments sogenannte Scheinerinnerungen hervorgerufen würden. Insbesondere der Umstand, dass die zurückkehrenden Erinnerungen in einem engen zeitlichen Zusammenhang damit stünden, verstärke die ohnehin schon bestehenden Zweifel.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, zu keinem Zeitpunkt berichtet zu haben, dass die Erinnerungen nach Einnahme eines Medikaments erfolgt seien. Er habe bei dem Polizeirevier F1 lediglich angegeben, ein Heuschnupfenmedikament eingenommen zu haben, sodass er besser habe riechen können und deshalb den Uringeruch besser wahrgenommen habe, der ihn getriggert habe. Das Medikament habe keinen Einfluss auf die realitätsbezogene Wahrnehmung gehabt. Der Diagnoseverlauf der Krankenkasse könne belegen, dass er zu keiner Zeit in psychiatrischer Behandlung gewesen sei, unter Wahrnehmungsstörungen gelitten habe oder ihm bewusstseinsverändernde Medikamente verschrieben worden seien. Die Vernehmungsbeamtin der Kriminalpolizei habe vermerkt, dass er psychisch stark belastet sei, die Angaben aber glaubhaft gewirkt hätten. Plötzlich auftretende Erinnerungen seien keinesfalls per se falsch oder Ausfluss einer Fremd- oder Autosuggestion.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2018 zurück. Ausgehend von den Aussagen im Zusammenhang mit der Strafanzeige bestünden ernsthafte Zweifel, ob sich die Missbrauchsereignisse tatsächlich so ereignet hätten. Die einzelnen Bilder sollten erst mehr als 30 Jahre nach den Taten wahrgenommen worden seien. Bei vorangegangenen Befragungen durch Gutachter habe sich der Kläger nicht an seine Jugendzeit erinnern können. Zum Zeitraum der Gewalttaten seien unterschiedliche Angaben erfolgt. Zunächst sei Ende der 1970er, Anfang der 1980er-Jahre angegeben worden. Dabei sei der Beginn auf 1978 und später nach dem Tod des Vaters beschrieben worden, der indessen erst am 10./11. November 1981 verstorben sei. Seit 10 Jahren, demnach im Alter von 34 Jahren, sei der Kläger wegen Depressionen berentet. Eine Ausbildung habe er abgebrochen und sich durch Medikamentenstudien über Wasser gehalten. Die Angabe, dass der Beschuldigte nach dem Tod des Vaters immer wieder Hilfe angeboten und den „guten Onkel“ gespielt habe, passe nicht mit der Aussage überein, dass die Mutter keinen Kontakt zu dem Beschuldigten gehabt habe. Es bestünden daher ernsthafte Zweifel am geschilderten Geschehensablauf, sodass der erforderliche Nachweis eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs nicht habe erbracht werden können. Die Einholung eines psychologischen Gutachtens sei daher entbehrlich gewesen.

Am 16. Oktober 2018 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben und wiederholt, dass der Diagnoseverlauf der gesetzlichen Krankenversicherung belege, dass er zu keinem Zeitpunkt in psychiatrischer Behandlung gewesen sei, nicht unter Wahrnehmungsstörungen gelitten und keine bewusstseinsverändernden Medikamente verschrieben bekommen habe. Es sei keinesfalls ein Widerspruch, dass seine Mutter kaum Kontakt zu dem Beschuldigten unterhalten habe. Diese sei berufstätig gewesen, habe nachmittags in einem Nachtklub geputzt und abends dort in der Küche gearbeitet. Der Erstkontakt mit dem Polizeirevier F1 habe sich recht schwierig gestaltet, da es sich um eine Brennpunkt-Dienststelle in der Freiburger Innenstadt handele, die für derartige Delikte nicht ausgerichtet sei. Bei der zunächst oberflächlichen Kurzbefragung habe er den Beginn der Delikte 1978/1979 angegeben. Er sei davon ausgegangen, dass er mit sechs Jahren eingeschult worden sei. Erst im Lauf der intensiveren Befragung bei der Kriminalpolizei sei ihm eingefallen, dass der Vater für sechs Monate vor seinem Tod in Australien aufhältig gewesen sei. Zunächst habe er lediglich in Erinnerung gehabt, dass dieser viel weg gewesen sei, habe sich aber an den Grund nicht erinnern können. Er besinne sich jedoch, dass er ab der vierten Klasse Verhaltensauffälligkeiten gezeigt habe und die Leistungen vehement abgenommen hätten. Dies sei seiner damaligen Lehrerin aufgefallen, die ihn damals nach dem Grund für die Veränderungen gefragt habe. Möglicherweise erinnere sich die Zeugin noch an die damaligen Umstände. In kausalem Zusammenhang mit den damaligen Übergriffen stehe die heutige Symptomatik in Form schwerer bis mittelgradiger depressiver Episoden, Antriebslosigkeit und Rückzugsverhalten. Ergänzend hat er ein Schreiben seiner ehemaligen Lehrerin vorgelegt, wonach sie sich erinnere, dass der Kläger immer ein frohes, zugängliches Kind gewesen sei, plötzlich habe er sich verändert. Auf Nachfrage habe sie aber keine Informationen erhalten.

Zur weiteren Sachaufklärung hat das SG die Verwaltungsakten der DRV beigezogen. Der D1 hat in seinem Gutachten aufgrund ambulanter Untersuchung vom 16. Juli 2007 ausgeführt, dass der Kläger ambulant phasenweise mit Antidepressiva behandelt worden sei, die jedoch keinen positiven Effekt gehabt, sondern zu körperlichen Beschwerden geführt hätten. Eine psychotherapeutische Behandlung lehne er ab, da seine Mutter in der Psychiatrie gearbeitet habe und er daher wisse, wie es dort zugehe. Sein Halbonkel sei in psychiatrischer Behandlung gewesen, auch ihm habe man übel mitgespielt. Er sei bewusstseinsklar, zur Person, zeitlich und örtlich voll orientiert. Er wirke scheu, schamvoll, blicke häufig auf die Seite und gebe nur verzögerte Antworten. Auf persönliche Fragen und bei der biographischen Anamnese erscheine er häufig ratlos, zurückgezogen und biete auch Gedächtnisstörungen im Langzeitgedächtnis an, die am ehesten psychodynamischen Verdrängungstenzen bei schwieriger Kindheits- und Jugendentwicklung entsprängen. Die affektive Schwingungsfähigkeit sei deutlich in den depressiven Bereich hinein eingeengt gewesen. Es hätten Antriebsminderung, negative Zukunftsperspektiven und eine Antriebsschwäche bestanden. Als Diagnosen sind eine gemischte Persönlichkeitsentwicklung neurasthenischer und schizoider Prägung, eine Dysthymia und rezidivierende depressive Episoden, derzeit mittelschwer, gestellt worden. Bereits Anfang der 90er-Jahre hätten depressive Verstimmungen, Antriebsstörungen, Lebensunlust und negative Zukunftsperspektiven bestanden. Der Vater und der jüngste Bruder hätten sich suizidiert. Die Kindheits- und Jugendentwicklung sei durch die Abwesenheit des Vaters und die Selbstmorde belastet gewesen. Zwischenzeitlich sei auch die Mutter verstorben. Eine nennenswerte Erwerbstätigkeit sei aufgrund der Vorgeschichte und der aktuellen Befunde nicht möglich, die Leistungsfähigkeit liege bei unter drei Stunden täglich.

Der A hat eine Therapie des Klägers wegen einer rezidivierenden Depression, einer Angst und depressiven Störung gemischt sowie einer sozialen Phobie seit Februar 2003 beschrieben. Die Behandlung sei durch stützende Gespräche ohne Medikation erfolgt.

Mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 29. September 2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Auch bei Zugrundelegung des für die Glaubhaftmachung geltenden Maßstabes sei das Gericht nicht vom tatsächlichen Ablauf der vom Kläger geltend gemachten Geschehnisse überzeugt. Es erscheine nicht wahrscheinlich, dass sich der Beschuldigte öfter im Haus der Familie des Klägers aufgehalten, die Mutter aber keinen Kontakt zu diesem gehabt habe. Weiter sei unwahrscheinlich, dass sich der Beschuldigte öfter im Haus der Familie aufgehalten habe, jedoch weder die Mutter noch eines der Geschwister davon etwas mitbekommen hätten. Dass sich der Kläger zunächst nicht an seine Jugendzeit habe erinnern können, stehe in Widerspruch zu den umfangreichen anamnestischen Angaben in den beigezogenen Gutachten. Auch wenn sich keine Anhaltspunkte dafür ergäben, dass die Aussagen durch Medikamente beeinflusst gewesen seien, sei der Vortrag, dass er sich nie in psychiatrischer Behandlung befunden habe, unzutreffend. Vielmehr seien Befundberichte aktenkundig, die Behandlungen wegen rezidivierenden Depressionen und sozialer Phobie beschrieben. Ein aussagepsychologisches Gutachten sei nicht zu erheben gewesen, da keine Besonderheiten des Sachverhaltes vorlägen, die ein solches erforderten.

Am 23. November 2011 hat der Kläger Berufung beim SG eingelegt. Zu korrigieren sei tatsächlich, dass er sich in der Vergangenheit in psychiatrischer Behandlung befunden habe. Die ausführliche Exploration durch D1 im Jahr 2007 habe aber keine Anhaltspunkte für die verzerrte Realitätswahrnehmung oder der Symptomatik einer Schizophrenie erbracht. Es habe ausreichend Gelegenheit für den Beschuldigten gegeben Kontakt zu suchen, ohne die Mutter zu involvieren. Darüber hinaus beschrieben Betroffene in vergleichbaren Ermittlungs- und Strafverfahren nicht selten, dass sich Eltern für Kontaktaufnahmen durch bekannte Täter wenig interessiert zeigten, oft abwesend seien und ein Täter innerfamilär recht frei agieren könne, auch wenn dies oft irritierend für Außenstehende wirke.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 29. September 2020 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 zu verurteilen, ihm Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente, aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Mit Beschluss vom 5. Oktober 2021 hat der Senat den Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG) ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 29. September 2020, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Aufhebung des Bescheides vom 23. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 12. September 2018 abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 23. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Beklagte und ihm folgend das SG haben die Gewährung von Beschädigtenversorgung zu Recht abgelehnt, da sich auch der Senat nicht vom Vorliegen eines schädigenden Ereignisses überzeugen konnte.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit MdE bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176, § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (vgl. BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 4/93 –, BSGE 77, 7, <8 f.> und – 9 RVg 7/93 –, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8.
August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).

Nach diesen Maßstäben ist ein schädigendes Ereignis nicht wenigstens glaubhaft gemacht. Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass es sich bei den Schilderungen des Klägers um ein erlebnisbasiertes Vorbringen gehandelt hat.

Bereits die Zeitangaben des Klägers lassen sich mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht in Einklang bringen. Der Kläger hat gegenüber der Polizei mehrfach betont, dass die Übergriffe Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er Jahre begonnen haben sollen, jedoch erst nach dem Tod des Vaters. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben sodann, dass der Suizid des Vaters erst am 10./11. November 1981 stattgefunden hat, sodass ein Beginn der Übergriffe Ende der 70er Jahre ebenso unplausibel ist, wie die weitere Angabe, dass es 1978 gewesen sein solle. Der Verweis auf die Einschulung mit sechs Jahren vermag hieran nichts zu ändern. Selbst wenn der Vater vor seinem Suizid ein halbes Jahr in Australien gewesen sein sollte, führt dies ist zeitlicher Hinsicht zu keinen relevanten Änderungen.

Dem vorgelegten Schreiben der ehemaligen Lehrerin des Klägers lässt sich zwar entnehmen, dass diese seine Veränderung bemerkt haben will. Indessen hat sie ausdrücklich ausgeführt, dass sie diesen zwar befragt, jedoch keine weiteren Informationen erhalten hat. Dies korrespondiert mit seinen Angaben, sich niemandem offenbart zu haben. Weitere Ermittlungen sind insoweit nicht angezeigt gewesen, da es sich als reine Mutmaßung des Klägers erweist, dass die Lehrerin auf weitere Nachfrage weitere Angaben machen könne. Derartige Ausforschungsbeweise sind vom Senat nicht zu erheben. Im Übrigen hat D1, dessen Gutachten für die DRV der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), überaus schlüssig und nachvollziehbar herausgearbeitet, dass der Suizid des Vaters die Kindheits- und Jugendentwicklung des Klägers belastet hat, sodass in medizinischer Hinsicht nachvollziehbar und zeitlich passend erklärt ist, wie es zu den Veränderungen des Klägers in der Grundschule kam.

Hinsichtlich der behaupteten Taten beschreibt der Kläger selbst, sich nur an „Lichtblitze“ erinnern zu können und keine vollständigen Bilder vor Augen zu haben. Wie er sich vor diesem Hintergrund dennoch sicher sein will, dass der Beschuldigte nur bei ihm zu Hause war, wenn er alleine war, erschließt sich nicht. Das SG hat zutreffend darauf hingewiesen, dass jedenfalls die Geschwister etwas hätten mitbekommen müssen, selbst wenn die Mutter bei der Arbeit gewesen sein sollte. Die Angaben zu der Beschäftigung der Mutter erweisen sich zudem als uneinheitlich. Während bei D1 angegeben worden ist, dass diese in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet habe, soll sie nach dem jetzigen Vorbringen nachmittags in einem Nachtklub geputzt und dort abends gekocht haben. Weiter hat der Kläger gegenüber D1 angegeben, eine psychotherapeutische Behandlung deshalb abzulehnen, weil er von seiner Mutter und seinem stationär psychiatrisch behandelnden Halbonkel über die Vorgänge in der Psychiatrie informiert sei, wobei letzteres die familiäre Vorbelastung ebenso unterstreicht wie der Suizid des Vaters und eines Bruders.

Wenn der Kläger grundsätzlich alleine zu Hause gewesen sein will, wenn der Beschuldigte gekommen ist, erschließt sich nicht, wieso sich ein weiterer Junge bei ihm zu Hause aufgehalten haben soll, an dessen Namen sich der Kläger nicht erinnern können will und in welcher Beziehung dieser zu dem Beschuldigten gestanden haben soll. Schon deshalb ist es nicht glaubhaft, dass der Kläger gezwungen worden sein soll, diesen oral zu befriedigen.

Wenn der Beschuldigte, wie der Kläger behauptet, nach dem Tod des Vaters seine Hilfe angeboten hat, wie andere Leute aus dem Ort auch, ist es unschlüssig, dass die Mutter keinen Kontakt zu ihm gehabt haben soll. Dies auch deshalb, da der Kläger von dem Beschuldigten nach seinen Angaben regelmäßig frisiert worden ist, wobei offen bleibt, weshalb den Geschwistern nicht ebenfalls die Haare geschnitten worden sein sollen, sodass diese auch Kontakt zu dem Beschuldigten gehabt hätten.

Soweit der Kläger angibt, sich nicht an die Häufigkeit der behaupteten Übergriffe erinnern zu können, lässt sich dies nicht damit vereinbaren, dass er angegeben hat, durch die Zahlungen des Beschuldigten für die Fotos (jeweils 5 DM) für einen Grundschüler über viel Geld verfügt zu haben, was wiederum – ebenso nicht glaubhaft – aber niemandem aufgefallen sein soll. In diesem Zusammenhang lässt sich weiterhin nicht nachvollziehen, dass der Beschuldigte mit der Drohung Druck auf ihn ausgeübt haben soll, dass es sonst der Mutter schlecht gehe. Welches Druckmittel insofern überhaupt bestanden haben soll, ist nicht erkennbar, wenn die Mutter zu dem Beschuldigten überhaupt keinen Kontakt gehabt hat.

Auf die Angaben gegenüber der Polizei zu einer vermeintlichen Medikamenteneinnahme kommt es daher, wie schon vom SG dargelegt, nicht an. Es kann deshalb dahinstehen, dass sich den Protokollen keineswegs entnehmen lässt, dass ein Heuschnupfenmittel zu einer besseren Geruchswahrnehmung geführt haben soll, sodass er den Uringeruch habe wahrnehmen können. Abgesehen davon, dass die Angabe der Einnahme eines Heuschnupfenmittels die Ermittlungsbehörden kaum veranlasst haben dürfte, die Angaben des Klägers deshalb anzuzweifeln, kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Erinnerung des Klägers Ende Oktober/Anfang November wieder aufgekommen sein soll, was zeitlich gegen eine relevante Belastung durch Heuschnupfen spricht, selbst wenn dieser chronisch sein soll.

Letztlich hat der Kläger im Berufungsverfahren selbst einräumen müssen, dass sein Widerspruchs- und Klagevortrag, nie in psychiatrischer Behandlung gestanden zu haben, schlicht falsch gewesen ist. Im Übrigen war dieser – auch schon vor der Beziehung der Verwaltungsakte der DRV durch das SG – deshalb nicht nachvollziehbar, da der Kläger selbst gegenüber der Polizei angegeben hat, seit 10 Jahren wegen psychischer Probleme berentet zu sein, woraus deutlich wird, dass ihm der tatsächliche Sachverhalt bekannt gewesen ist. Schon deshalb kommt es auf die Behandlungsdaten der Krankenkasse, entgegen dem klägerischen Vorbringen, nicht an. Dem Gutachten des D1 lässt sich weiter entnehmen, dass der Kläger in der Vergangenheit sehr wohl mit Antidepressiva behandelt worden ist, die nicht die erwünschte Wirkung gezeigt haben sollen. Daneben lässt sich dem ärztlichen Befundbericht zum Rentenantrag des A entnehmen, dass wegen rezidivierenden Depressionen, Angst und depressiver Störung gemischt und sozialer Phobie stützende Gespräche geführt worden sind, also therapeutische Maßnahmen durchgeführt wurden und D1 hat diagnostisch eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung mit neurasthenischen und schizoiden Tendenzen sowie eine Dysthymie und rezidivierende depressive Episoden beschrieben.

Letztlich lässt sich den Angaben des Klägers entnehmen, dass er sein Einkommen auch über Medikamentenstudien gesichert hat, die keinen Niederschlag in den Unterlagen der Krankenkasse finden dürften.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Rechtskraft
Aus
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