Auch wenn ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution willentlich aufgibt, liegt keine freiwillige Aufgabe einer Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU vor, die zu einem Fortfall des Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU und einem Leistungsausschuss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II führt. Eine Arbeit in der Prostitution ist stets unzumutbar im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II und kann wegen dieser Unzumutbarkeit jederzeit aufgegeben werden, ohne dass es sich um eine freiwillige Aufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU handelt.
v
GSW Sozialgericht Berlin |
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verkündet am
…
als Urkundsbeamter/in der Geschäftsstelle |
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
1. …,
2. …,
3. …,
- Kläger -
Proz.-Bev.:
zu 1-3: Rechtsanwältin ..
gegen
Jobcenter Berlin Lichtenberg,
Gotlindestr. 93, 10365 Berlin,
- Beklagter -
hat die 134. Kammer des Sozialgerichts Berlin auf die mündliche Verhandlung am 15. Juni 2022 durch den Richter am Sozialgericht … sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Frau … und Frau … für Recht erkannt:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 17.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2020, des Bescheids vom 08.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.02.2021, des Bescheids vom 01.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.06.2021 sowie des Bescheids vom 26.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2021 verurteilt, den Klägern für den Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in vier verbundenen Verfahren über die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022. Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Klägerin zu 1. aus ihrer bis Juli 2019 ausgeübten selbständigen Tätigkeit als Prostituierte für den streitgegenständlichen Zeitraum ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht herleiten kann, so dass die Kläger nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind.
Die im Jahre 1990 geborene Klägerin zu 1. (im Folgenden: Klägerin) sowie ihre beiden in den Jahren 2008 und 2020 geborenen Söhne, die Kläger zu 2. und 3., sind bulgarische Staatsangehörige. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben seit dem 25.03.2014 ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, war jedoch seither nicht durchgehend in Deutschland behördlich gemeldet. Wegen der Einzelheiten wird auf die Auskunft des Berliner Landesamts für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten in der Verwaltungsakte verwiesen. Die Klägerin war ferner nach eigenen Angaben seit April 2014 bis Juli 2019 selbständig als Prostituierte tätig. Seit dem Jahr 2017 verfügte die Klägerin über eine eigene Steuernummer. Sie erhielt für das Jahr 2017 einen Einkommensteuerbescheid, in dem das zuständige Finanzamt von einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 3.240 Euro ausging, für das Jahr 2018 einen Einkommensteuerbescheid, in dem das zuständige Finanzamt von einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 3.960 Euro ausging sowie für das Jahr 2019 einen Einkommensteuerbescheid, in dem das zuständige Finanzamt von einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 1.030 Euro ausging. Seit Februar 2019 bezog die Klägerin ergänzende Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter Berlin Mitte.
Im Juli 2019 gab die Klägerin ihre Tätigkeit als Prostituierte auf, weil sie mit dem Kläger zu 3. schwanger war und weil sie die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Am 01.03.2020 zogen die Klägerin und der Kläger zu 2. in eine Wohnung im C-Weg .., in … Berlin, ein. Am ….2020 wurde der Kläger zu 3. geboren. Die Kosten der Unterkunft und Heizung für die Wohnung der Kläger beliefen sich laut Mietvertrag auf 799,16 Euro. Allerdings erhielt die Klägerin einen einkommensorientierten Zuschuss nach den Wohnungsbauförderungsbestimmungen 2015, der die Grundmiete um 145,30 Euro reduzierte. Die Kosten der Unterkunft und Heizung beliefen sich daher im streitgegenständlichen Zeitraum seit Oktober 2020 bis einschließlich November 2021 zunächst nur auf insgesamt nur 653,86 Euro pro Monat. Mit Schreiben des Vermieters vom 21.09.2021 erhielt die Klägerin eine Nebenkostenabrechnung des Vermieters für das Mietverhältnis der Wohnung. Daraus ergab sich für den Zeitraum März 2020 bis einschließlich Dezember 2020 eine Nachforderung des Vermieters in Höhe von 1.642,40 Euro. Die Nachforderung musste die Klägerin zusammen mit der Mietzahlung für den Monat Dezember 2021 an den Vermieter entrichten. Aufgrund der Nebenkostenabrechnung erhöhten sich die Vorauszahlungen der Kläger für Betriebskosten und Heizkosten. Die Kosten der Unterkunft und Heizung beliefen sich daher ab Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022 auf insgesamt 836,90 Euro pro Monat.
Die Klägerin bezog nach der Geburt des Klägers zu 3. für den Zeitraum vom September 2020 bis Juni 2021 Elterngeld in Höhe von 300 Euro pro Monat. Ferner erhielt die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum für die Kläger zu 2. und 3. Kindergeld in gesetzlicher Höhe. Weiteres Einkommen erzielten die Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht.
Der Beklagte gewährte den Klägern zunächst für die Zeit bis einschließlich September 2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 17.09.2020 lehnte der Beklagte die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II jedoch für die Zeit ab Oktober 2020 ab. Die Klägerin sei von Leistungen ausgeschlossen, da sie kein anderes Aufenthaltsrecht als das zur Arbeitssuche habe. Insbesondere verfüge die Klägerin nicht über ein Aufenthaltsrecht als Selbständige, da sich nicht mehr arbeite. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den genannten Bescheid verwiesen. Gegen den Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein. Sie verfüge über ein Aufenthaltsrecht als Selbständige. Dies dauere fort, da sie die selbständige Tätigkeit unfreiwillig habe aufgeben müssen. Der Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.2020 als unbegründet zurück. Bei der Entscheidung der Klägerin sich beruflich neu orientieren und die Prostitution aufgeben zu wollen, handele es sich um eine bewusste und freiwillige Entscheidung. Es läge daher keine unfreiwillige Arbeitsaufgabe vor. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den genannten Widerspruchsbescheid verwiesen.
Am 27.11.2020 haben die Kläger im hiesigen Verfahren Klage vor dem SG Berlin erhoben und verfolgen ihr Begehren auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II weiter.
Die Kläger haben in der Folgezeit drei weitere Anträge auf Leistungen nach dem SGB II gestellt, die der Beklagte jeweils abgelehnt hat, da die Kläger kein Aufenthaltsrecht hätten. Gegen die drei Ablehnungsbescheide haben die Kläger – nach erfolglosen Widerspruchsverfahren – in drei weitere Verfahren Klage vor dem SG Berlin erhoben.
Im Einzelnen hat der Beklagte den Leistungsantrag der Kläger vom 28.12.2020 mit Bescheid vom 08.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.02.2021 für die Zeit ab Februar 2021 abgelehnt; hiergegen haben die Kläger am 05.03.2021 im Verfahren S 134 AS 1631/21 Klage vor dem SG Berlin erhoben. Ferner hat der Beklagte den Leistungsantrag der Kläger vom 27.05.2021 mit Bescheid vom 01.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.06.2021 für die Zeit ab Juni 2021 abgelehnt; hiergegen haben die Kläger im Verfahren 134 AS 4291/21 Klage vor dem SG Berlin erhoben. Schließlich hat der Beklagte den Leistungsantrag der Kläger vom 13.10.2021 mit Bescheid vom 26.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2021 für den Zeitraum ab Dezember 2021 abgelehnt; hiergegen haben die Kläger am 24.11.2021 im Verfahren S 134 AS 6986/21 Klage vor dem SG Berlin erhoben. Parallel zu den insgesamt vier Hauptsacheverfahren, haben die Kläger vier Eilrechtsschutzverfahren vor dem SG Berlin betrieben, in denen das SG Berlin den Beklagten jeweils rechtskräftig zur vorläufigen Gewährung von Leistungen verpflichtet hat.
Mit Beschluss vom 02.02.2022 hat das Gericht die genannten drei Hauptsacheverfahren zum hiesigen Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung und Verhandlung hinzuverbunden.
In den vier verbundenen Verfahren begehren die Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022.
Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15.06.2022 zu ihrer Tätigkeit als Prostituierte sowie den Gründen für die Aufgabe der Tätigkeit befragt. Die Klägerin hat insbesondere mitgeteilt, dass sie im Jahr 2018 überwiegend in Bordellen und in den Jahren 2017 und 2019 überwiegend auf einem Berliner Straßenstrich als Prostituierte gearbeitet habe. Die Klägerin hat ferner eingehend geschildert, dass sie die Tätigkeit als Prostituierte im Juli 2019 nicht länger ertragen konnte und daher aufgab. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom 15.06.2022 verwiesen.
Die Kläger sind der Auffassung, die Klägerin habe durch ihre Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (im Folgenden: FreizügG/EU) erworben. Dieses Aufenthaltsrecht bestehe nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fort, da die Klägerin ihre Tätigkeit unfreiwillig aufgegeben habe. Sie habe die Tätigkeit zum einen wegen der Schwangerschaft mit dem Kläger zu 3. aufgegeben, da sie im Sinne des Mutterschutzes nicht weiter in der Prostitution tätig sein wollte. Ferner habe die Klägerin auch nicht mehr als Prostituierte arbeiten wollen, weil sie das für sich als nicht mehr zumutbar empfand.
Die Kläger beantragten zuletzt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 17.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2020, des Bescheids vom 08.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.02.2021, des Bescheids vom 01.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.06.2021 sowie des Bescheids vom 26.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2021 zu verurteilen, den Klägern für den Zeitraum von 01.10.2020 bis zum 31.05.2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klagen abzuweisen.
Ein Aufenthaltsrecht aufgrund der selbständigen Tätigkeit der Klägerin als Prostituierte bestehe nicht fort. Die Klägerin habe ihre selbständige Tätigkeit bewusst und freiwillig beendet. Sie habe die Tätigkeit als Prostituierte nicht länger ausüben und sich beruflich neu orientieren wollen. Die Arbeitsaufgabe sei daher freiwillig erfolgt. Zudem setze das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts voraus, dass die Unfreiwilligkeit der Arbeitsaufgabe durch die Bundesagentur für Arbeit bescheinigt werde. Auch eine solche Bescheinigung habe nicht vorgelegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten des Beklagten, die der Kammer vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe
I. Die Klagen in den vier verbundenen Verfahren sind in vollem Umfang erfolgreich. Die Kläger haben für den streitgegenständlichen Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022 dem Grunde nach Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
1. Streitgegenstände des Verfahrens S 134 AS 8396/20 sind der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 17.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2020 sowie der Anspruch der Kläger auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Januar 2021. Streitgegenstände des verbundenen Verfahrens 134 AS 1631/21 sind der Ablehnungsbescheid vom 08.01.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.02.2021 sowie der Anspruch der Kläger auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von Februar 2021 bis einschließlich Mai 2021. Streitgegenstände des verbundenen Verfahrens S 134 AS 4291/21 sind der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 01.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.06.2021 sowie der Anspruch der Kläger auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von Juni 2021 bis November 2021. Streitgegenstände des verbundenen Verfahrens S 134 AS 6986/21 sind der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 26.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2021 sowie der Anspruch der Kläger auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum von Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022.
2. Die gem. § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen in den vier verbundenen Verfahren sind zulässig und begründet:
Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig und verletzten die Kläger in ihren Rechten, da die Kläger für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022 dem Grunde nach einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 7, 19 ff. SGB II haben.
Das Gericht hat dabei von seiner Befugnis nach § 130 Abs. 1 SGG Gebrauch gemacht, nur zur Leistung dem Grunde nach zu verurteilen, da zwischen den Beteiligten schon das Bestehen des Anspruchs dem Grunde nach umstritten war. Der Erlass eines Grundurteils setzt insofern nur voraus, dass alle Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach gegeben sind und mit Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der Höhe nach ein Geldbetrag zu zahlen ist (vgl. BSG v. 28.11.2018 – B 4 AS 46/17 R, juris Rn. 11 sowie Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Aufl. 2020, § 130 Rn. 2c m.w.N.). Dies ist nach Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Fall anzunehmen. Grund und Höhe des Anspruchs sind so umfassend aufgeklärt, dass für jeden Monat des streitgegenständlichen Zeitraums mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung als „Null“ ausgegangen werden kann.
a. Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die Kläger nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (vorliegend anwendbar in der Fassung vom 30.11.2019 für den Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Dezember 2020 sowie in der Fassung vom 09.12.2020 für den Zeitraum von Januar 2021 bis einschließlich Mai 2022) von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Danach sind insbesondere Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Die Klägerin hat jedenfalls durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierten in den Jahren 2017 bis Juli 2019 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU erlangt (dazu unter aa.), das nach der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fortdauert (dazu unter bb. bis dd.):
aa. Nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU haben niedergelassene selbständige erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörige das Recht auf Einreise und Aufenthalt.
Die Klägerin ist als bulgarische Staatsangehörige eine Unionsbürgerin im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und damit Unionsbürgerin im Sinne von § 2 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU.
Die Klägerin war ferner jedenfalls im Zeitraum von 2017 bis Juli 2019 als Selbständige i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU tätig. Eine Tätigkeit als Selbständiger ist eine wirtschaftliche Erwerbstätigkeit, die eigenverantwortlich und auf eigenes Risiko ausgeübt wird. Die Tätigkeit muss entgeltlich erbracht werden und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen. Notwendig ist eine ernsthafte Gewinnerzielungsabsicht. Wie bei Arbeitnehmern scheiden unwesentliche bzw. vollkommen untergeordnete Erwerbstätigkeiten aus. Eine tatsächlich existenzsichernde Tätigkeit ist indes nicht erforderlich (so zutreffend Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., Stand: 29.11.2021, § 7 Rn. 103 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Vorliegend war die Klägerin jedenfalls im Zeitraum von Januar 2017 bis Juli 2019 eigenverantwortlich und auf eigenes Risiko als Prostituierte tätig; Anhaltpunkte für eine abhängige Beschäftigung bestehen nicht. Es handelt sich um eine entgeltliche Tätigkeit, die die Klägerin im genannten Zeitraum mit Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt hat. Die Klägerin hat durch die Vorlage von Steuerbescheiden für den genannten Zeitraum sowie durch ihre Erklärungen in der mündlichen Verhandlung am 15.06.2022 belegt, dass es sich bei der Tätigkeit im genannten Zeitraum nicht um eine nur unwesentliche bzw. vollkommen untergeordnete Erwerbstätigkeit handelte. Die Klägerin hat in den Jahren 2017 bis 2019 typischerweise mehrmals pro Woche für mehrere Stunden von nachmittags bis abends gearbeitet. Sie hat dadurch – ausweislich der von ihr eingereichten Steuerunterlagen – im Jahr 2017 zumindest durchschnittlich ca. 270 Euro pro Monat, im Jahr 2018 zumindest durchschnittlich ca. 330 Euro pro Monat und im ersten Halbjahr 2019 durchschnittlich ca. 170 Euro pro Monat erwirtschaftet. Eine Tätigkeit in diesem Umfang ist nach Auffassung des Gerichts nicht so unwesentlich oder untergeordnet, dass sie zu vernachlässigen wäre. Das Gericht geht insofern davon aus, dass die Grundsätze der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundessozialgerichts (BSG) zum Vorliegen einer unwesentlichen Erwerbstätigkeit von abhängig Beschäftigten auf selbständig Tätige entsprechend angewendet werden können. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH hat das BSG eine abhängige Tätigkeit mit einer Entlohnung von monatlich 100 Euro als die Arbeitnehmereigenschaft begründend angesehen (BSG v. 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R, juris Rn. 3 und 18). Das LSG Sachsen hat im Anschluss daran eine Tätigkeit von fünf Stunden im Monat mit einer Entlohnung von monatlich 100 Euro als die Arbeitnehmereigenschaft begründend angesehen (LSG Sachsen v. 31.1.2013 – L 7 AS 964/12 B ER, juris Rn. 30); das LSG Berlin Brandenburg hat eine Tätigkeit im Umfang von fünf Wochenstunden bei einem monatlichen Entgelt von 180 Euro ausreichen lassen (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 27.02.2017 – L 18 AS 2884/16, juris Rn. 18). Das Gericht sieht keinen Grund von der wiedergegebenen Rechtsprechung abzuweichen und strengere Maßstäbe für das Vorliegen einer nicht nur unwesentlichen selbständigen Tätigkeit anzuwenden.
Ferner unterliegt es – spätestens nach der Legalisierung der Prostitution durch das Gesetz zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz – ProstSchutzG vom 21.10.2016, BGBl. I S. 2372) – keinem Zweifel, dass auch die selbständige Tätigkeit als Prostituierte dem Grunde nach eine selbständige Tätigkeit im Sinne § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sein kann, die ein Aufenthaltsrecht vermittelt (so zutreffend das Hessisches Landessozialgericht v. 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER, juris Rn. 28 mit weiteren Nachweisen). Der Annahme einer niedergelassenen selbständigen Tätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB II steht nicht entgegen, dass die Klägerin die selbständige Tätigkeit nicht durchgehend in einer festen Betriebsstätte ausgeübt hat, sondern in den Jahren 2017 und 2019 überwiegend auf dem Straßenstrich tätig war. Das Erfordernis einer festen Einrichtung im Aufnahmestaat dient in erster Linie der Abgrenzung der Niederlassungs- von der Dienstleistungsfreiheit und ist deshalb von untergeordneter Bedeutung, wenn die Tätigkeit ihrer Art nach nicht in einer festen Betriebsstätte ausgeübt wird, wie das bei der Straßenprostitution der Fall ist. Es ist insofern hinreichend, wenn die Tätigkeit über Jahre ausschließlich im Inland ausgeübt wird und sich die Betroffene im Inland angesiedelt hat (so zutreffend Hessisches Landessozialgericht, Beschluss v. 21.08.2020 – L 6 AS 383/20 B ER, juris Rn. 29 mit weiteren Nachweisen).
Die Klägerin hat somit durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte in den Jahren 2017 bis Juli 2017 ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 i.V.m Abs. 1 FreizügG/EU erworben.
bb. Das Aufenthaltsrecht der Klägerin aufgrund ihrer selbständigen Tätigkeit bestand im streitgegenständlichen Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich Mai 2022 nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU fort. Danach bleibt das Freizügigkeitsrecht für selbständig Erwerbstätige bei Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einen Jahr Tätigkeit unberührt.
Das Gericht ist zunächst davon überzeugt, dass die Klägerin ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte jedenfalls in den Jahren von 2017 bis Juli 2019 ohne wesentliche Unterbrechungen und damit mehr als ein Jahr lang ausgeübt hat. Dies schließt das Gericht aus den Steuerbescheiden der Klägerin für die Jahren 2017 bis 2019 sowie der detaillierten und glaubhaften Erklärung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15.06.2022. Das Gericht geht insofern davon aus, dass die Klägerin in den Jahren 2017 und 2018 jeweils nur vorübergehend besuchsweise in Bulgarien war, um sich von ihrer Tätigkeit als Prostituierten zu erholen. Trotz der urlaubsähnlichen Unterbrechungen ist von einer durchgehenden selbständigen Tätigkeit als Prostituierte auszugehen.
Das Gericht geht – anders als der Beklagte – ferner davon aus, dass die Klägerin die mehr als einjährige Tätigkeit als Prostituierte im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU infolge von Umständen aufgegeben hat, auf die sie als Selbständige keinen Einfluss hatte.
Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, liegt eine unfreiwillige Aufgabe der selbständigen Tätigkeit in diesem Sinne vor, wenn die Selbständigkeit aufgrund von Umständen aufgegeben wird, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt es insofern nicht darauf an, ob die Beendigung der Tätigkeit auf einer bewussten und willentlichen Entscheidung beruht; dies wird bei der Beendigung einer selbständigen Tätigkeit in aller Regel der Fall sein. Maßgeblich ist vielmehr, ob die selbständig tätige Person die Beendigung der selbständigen Tätigkeit zu vertreten hat oder ob die Beendigung auf Umständen beruht, die die Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es für den Selbständigen unmöglich oder unzumutbar machen, seine Tätigkeit fortzuführen (vgl. Nr. 2.3.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU vom 03.02.2016 sowie Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 33. Edition, Stand 01.10.2021 mit weiteren Nachweisen).
Vorliegend ist das Gericht überzeugt, dass die Klägerin die Gründe für die Beendigung ihrer selbständigen Tätigkeit als Prostituierte nicht zu vertreten hat. Die Beendigung ihrer Tätigkeit beruhte vielmehr auf den objektiv unzumutbaren Umständen der prekären Armutsprostitution, die die Klägerin in den Jahren 2017 bis Juni 2019 ausgeübt hat. Das Gericht hält es für nicht weniger als offensichtlich, dass es objektiv keinem Menschen zugemutet werden kann, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15.06.2022 geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren.
Aber auch unabhängig von den konkreten Umständen der Ausübung der Prostitution im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht der Auffassung, dass die willentliche Beendigung der Prostitution generell keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ist, die einen Fortfall des Aufenthaltsrechts und damit der Sozialleistungsberechtigung nach sich zieht:
Eine Tätigkeit in der Prostitution ist nicht mit einer gewöhnlichen Erwerbstätigkeit vergleichbar. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berührt die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der betroffenen Personen in besonders starker Weise. Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die Garantie der Menschenwürde legt gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG der gesamten "staatliche Gewalt" Schutzpflichten auf, also neben der Gesetzgebung, auch der Rechtsprechung und der vollziehenden Gewalt. Auch der Beklagte ist somit zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet.
Aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde folgt zunächst, dass der Staat keine Arbeitsvermittlung in die Prostitution vornehmen darf. Eine Arbeitsvermittlung in die Prostitution, die mit der entgeltlichen Vornahme sexueller Handlungen oder anderer Dienstleistungen mit eindeutig sexuellem Bezug verbunden ist, beraubt den Anbietenden, auch wenn er nicht zur Leistung verpflichtet ist, seiner Subjektqualität und der Freiheit in seiner Intimsphäre und ist deshalb mit dem Schutz aus Art. 1 Abs. 1 GG und auch Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar (so zutreffend BSG, v. 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R, juris Rn. 23).
Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folgt zudem, dass eine Arbeit in der Prostitution im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II als unzumutbar anzusehen ist und von der betreffenden Person nicht ausgeübt werden muss, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern. Es würde gegen die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde verstoßen, wenn der Staat Hilfebedürftige dazu zwingt, sexuelle Dienstleistungen erbringen zu müssen, um Einkommen zur Verringerung oder Beendigung ihrer Hilfebedürftigkeit zu erzielen (so zutreffend Böttiger in: Eicher, SGB II, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 88 und 93 mit weiteren Nachweisen). Eine im Sinne von § 10 Abs. 1 SGB II unzumutbare Tätigkeit darf die betreffende Person aber wegen der Unzumutbarkeit jederzeit aufgeben, ohne dass dies eine freiwillige Arbeitsaufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU darstellen würde. Beendet ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er oder sie die Tätigkeit als nicht mehr zumutbar empfindet, beruht die Aufgabe der Tätigkeit vielmehr auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die die Person nicht zu vertreten hat.
Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt hat. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, wird nicht deshalb zumutbar, weil die Person die Arbeit zeitweise ertragen hat. Die Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde gilt objektiv und ist unabhängig von einem etwaigen Verzicht einzelner Arbeitssuchender auf die entsprechende Schutzwirkung (so zutreffend BSG v. 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R, juris Rn. 25).
Im Ergebnis folgt daher aus der Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde, dass der Staat die weitere Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger nicht daran knüpfen darf, dass eine Tätigkeit in der Prostitution weiterhin ausgeübt werden muss. Anderenfalls würden Menschen wegen entfallender Sozialleistungen mittelbar gezwungen, weiterhin gegen ihren Willen in der Prostitution arbeiten zu müssen, statt sich aus diesem Gewerbe lösen zu können.
cc. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist eine Bescheinigung der Unfreiwilligkeit der Arbeitsaufgabe durch die Bundesagentur für Arbeit bei einem Selbständigen generell nicht erforderlich. Insofern ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU, dass eine solche Bescheinigung nur bei der Arbeitslosigkeit eines Arbeitnehmers, nicht aber bei der Arbeitsaufgabe durch einen Selbständigen erforderlich ist (so auch LSG Bayern, Urteil v. 26.02.2019 – L 11 AS 899/18, juris Rn. 32; ebenso Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 2).
dd. Eine zeitliche Befristung des fortwirkenden Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU sieht das Gesetz nicht vor; eine solche Befristung ergibt sich auch aus anderen Erwägungen nicht. Das Gericht verweist insofern in vollem Umfang auf die ausführliche und zutreffende Begründung des Bayerischen Landessozialgerichts in seinem Urteil vom 26.02.2019 im Verfahren L 11 AS 899/18 (juris Rn. 23 ff.).
Insgesamt ist daher für den streitgegenständlichen Zeitraum von einem fortwirkenden Aufenthaltsrecht der Klägerin gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 FreizügG/EU auszugehen. Die Kläger zu 2. und 3., die in den Jahre 2008 und 2020 geborenen Söhne der Klägerin, sind als Familienangehörige nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 c) FreizügG/EU (Verwandte in gerader absteigender Linie unter 21 Jahre) ebenfalls nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt, da sie zusammen mit ihrer Mutter, der Klägerin, leben und insofern ein Aufenthaltsrecht von der Klägerin ableiten können.
b Die Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage der §§ 7 Abs. 1 und Abs. 2, 8 ff., 19 ff. SGB II sind im Übrigen erfüllt:
Die Klägerin hat einen Anspruch als erwerbsfähige Leistungsberechtigte nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie ist im Jahr 1990 geboren und gehört daher zum Kreis der Berechtigten im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Sie hatte im streitgegenständlichen Zeitraum ferner gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und war erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II in Verbindung mit § 8 SGB II. Anderweitige bindende Feststellungen liegen für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht vor.
Die Kläger zu 2. und 3. haben einen Anspruch auf Leistungen nach § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II, § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II, da sie mit der Klägerin in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II gehören zur Bedarfsgemeinschaft auch die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder eines erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, wenn das Kind das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit es die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen kann. Die Kläger zu 2. und 3. sind die Kinder der Klägerin, unter 25. Jahre alt, nicht verheiratet und leben im Haushalt ihrer Mutter.
Die Kläger waren ferner während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums von Oktober 2020 bis einschließlich Main 2022 hilfebedürftig im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II, da sie ihren Lebensunterhalt nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen oder Vermögen sichern konnten:
Für die Klägerin war durchgehend der Regelbedarf für Alleinstehende gem. § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II, für die Kläger zu 2. und 3. waren die Regelbedarfe gem. § 23 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, ferner für die Klägerin ein Mehrbedarf wegen Alleinerziehung nach § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II. Für die Kläger waren ferner laufende Bedarfe für Kosten der Unterkunft und Heizung gem. § 22 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen, die nach dem Kopfteilsprinzip zu gleichen Teilen auf die Kläger aufzuteilen waren. Es sind keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, aus denen der Beklagte nicht verpflichtet war, die laufenden Kosten der Unterkunft und Heizung für die Wohnung der Kläger in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, die sich im Zeitraum von Oktober 2020 bis einschließlich November 2021 auf insgesamt 653,86 Euro und im Zeitraum von Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022 auf insgesamt 836,90 Euro pro Monat beliefen. Zusätzlich fielen im Monat Dezember 2021 weitere Kosten der Unterkunft und Heizung aufgrund der Nebenkostennachforderung des Vermieters in Höhe von 1.642,20 Euro an. Eine Nebenkostennachforderung stellt einen zusätzlichen Bedarf gem. § 22 Abs. 1 SGB II dar, der im Monat der Fälligkeit zu dem regulären, monatlichen Unterkunfts- und Heizkostenbedarf hinzutritt (vgl. BSG v. 22.03.2010, B 4 AS 62/09 R, juris Rn. 16 sowie v. 06.04.2011, B 4 AS 12/10 R, juris Rn. 14 ff.).
Die sich daraus ergebenden monatlichen Bedarfe (in der Größenordnung von insgesamt 1.799,38 Euro im Monat Oktober 2020 bis zu 2.043,54 Euro im Monat Mai 2022) konnten die Kläger in keinem Monat auch nur annähernd durch das von ihnen erzielte Einkommen decken, so dass die Kläger in jedem Monat des streitgegenständlichen Zeitraums hilfebedürftig waren. Die Klägerin bezog nach der Geburt des Klägers zu 3. für den Zeitraum vom September 2020 bis Juni 2021 Elterngeld in Höhe von 300 Euro pro Monat. Ferner erhielt die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum für die Kläger zu 2. und 3. Kindergeld in gesetzlicher Höhe (von zusammen 408 Euro im Monat Oktober 2022 bis zusammen 438 Euro im Monat Mai 2022). Über weiteres anrechenbares Einkommen oder Vermögen verfügten die Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nach Überzeugung des Gerichts nicht, wie sich insbesondere aus den von der Klägerin eingereichten Kontoauszügen und ihren Erläuterungen im Klageverfahren und in der mündlichen Verhandlung ergibt. Daraus folgt mit der für den Erlass eines Grundurteils hinreichenden Sicherheit für jeden Monat des streitgegenständlichen Zeitraums die Hilfebedürftigkeit der Kläger.
II. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.