L 5 P 78/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 9 P 3/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 P 78/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13.07.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Im Streit stehen höhere Leistungen der sozialen Pflegeversicherung.

Bei der 1967 geborenen Klägerin ist seit 2007 eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz im Sinne des § 45a Elftes Buches Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung (a.F.) anerkannt. Auf der Grundlage dieser Feststellung erfolgte zum 01.01.2017 nach § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 lit a) SGB XI eine Überleitung in den Pflegegrad 2. Die Klägerin bezieht eine Rente wegen Erwerbsminderung. In der Zeit von April 2016 bis November 2018 war sie ohne festen Wohnsitz. Nach Aktenlage hat sie einen Grad der Behinderung (GdB) von 90 mit den Merkzeichen „B“ und „G“ inne.

Eingehend am 28.12.2016 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine „Neufestsetzung“ ihres „Pflegegrades“. Durch belastende Umstände wie beispielsweise ihre Wohnungssituation habe sich ihr Gesundheitszustand drastisch verschlechtert.  

Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nordrhein (MDK). Die Pflegefachkraft N untersuchte die Klägerin im März 2017 in deren häuslicher Umgebung. Die Klägerin erwies sich als umfassend orientiert. Sie machte umfassende Angaben zu ihrer Biografie und Krankheitsgeschichte. Anamnestisch gab die Klägerin in der Untersuchungssituation an, ihre Stimmung sei depressiv, ihr Kurzzeitgedächtnis lückenhaft. Sie leide an Ängsten, könne nicht mit der U-Bahn fahren und den Aufzug nicht nutzen. Das Haus verlasse sie nur in Begleitung, nachts gar nicht. Außerhalb des Hauses sei sie desorientiert. Derzeit wohne sie in einem Hotelzimmer mit Dusche und WC. Pflegeperson sei ein Bekannter, der namentlich nicht genannt werden wolle. Der Gutachter nahm Einsicht in ein orthopädisches Gutachten des Dr. S vom 22.03.2016 und ein nervenärztliches Gutachten des Dr. K vom 22.08.2011. Er stellte fest, dass die Klägerin an Alltags- und Umweltgeschehen wenig interessiert sei. Sie sei im Antrieb gemindert und benötige Tagesstrukturierung. Arztbesuche fänden nicht mindestens wöchentlich statt. Als pflegebegründende Diagnosen bezeichnete der Gutachter eine rezidivierende depressive Störung und eine Coxarthrose. Weiter bestünden bei der Klägerin eine Angststörung, eine Hüftdysplasie und sowie eine Wirbelsäulenfehlstellung. Die Alltagskompetenz der Klägerin sei weiterhin erheblich eingeschränkt. Es bestehe im Bereich der Körperpflege Hilfebedarf beim Duschen (1x täglich Teilübernahme, 3 Minuten), beim Kämmen (2x täglich Anleitung, 1 Minute), Rasieren (2x täglich Anleitung, 2 Minuten), d.h. insgesamt 6 Minuten Hilfebedarf. Im Bereich der Ernährung bestehe kein Hilfebedarf. Im Bereich Mobilität bestehe ein Hilfebedarf beim Ankleiden (1x täglich Teilübernahme, 2 Minuten), Entkleiden (1x täglich Teilübernahme, 1 Minute) und Stehen (2x täglich Teilübernahme, 2 Minuten), insgesamt 5 Minuten. Bei einem Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege von insgesamt 11 Minuten pro Tag sowie bei einem pauschalen Zeitaufwand im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 45 Minuten pro Tag im Wochendurchschnitt seien die Mindestkriterien der Pflegestufe I nicht erfüllt.

Gestützt auf diese sozialmedizinische Einschätzung lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 03.04.2017 ab.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, neben ihren Bewegungseinschränkungen seien vor allem auch ihre psychischen Beeinträchtigungen nicht auseichend beachtet worden. Sie leide an Ängsten und Orientierungsstörungen. Sie könne z.B. nicht allein U-Bahn fahren oder Ärzte aufsuchen. Sie begehre Leistungen nach einem Pflegegrad von mehr als 2.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.11.2018 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen einer Pflegestufe I hätten sich nicht feststellen lassen.

Hiergegen hat die Klägerin, eingehend am 21.12.2018, persönlich bei dem Sozialgericht Klage erhoben. Das Verfahren wurde unter dem Aktenzeichen S 9 P 4/19 SG Köln erfasst. Am 28.12.2018 hat der Bevollmächtigte der Klägerin ebenfalls Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 20.11.2018 erhoben. Das Verfahren wurde unter dem Aktenzeichen S 9 P 3/19 SG Köln erfasst und ist Gegenstand des hiesigen Berufungsverfahrens. Das Verfahren S 9 P 4/19 SG Köln - also das zeitlich früher eingegangene Verfahren - hat die Klägerin am 22.05.2019 zurückgenommen.

Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin im Wesentlichen ausgeführt, der MDK habe ihren Hilfebedarf nicht hinreichend festgestellt.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 zu verurteilen, ihr ab dem 01.12.2016 Pflegeleistungen nach dem Pflegegrad 1 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass neben der anerkannten erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz die Voraussetzungen einer Einstufung in die Pflegestufe I nicht gegeben seien.

In der Zeit vom 20.03.2019 bis zum 13.05.2019 ist die Klägerin in der Uniklinik M – Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie – stationär wegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradig, und einer generalisierten Angststörung stationär behandelt worden.

In einem Erörterungstermin am 22.05.2019 hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass nach seiner Rechtsauffassung Ansprüche der Klägerin ausschließlich unter Zugrundelegung des bis zum 31.12.2016 geltenden Rechts zu prüfen seien. Es hat die Stellung eines neuen Antrags nach dem ab dem 01.01.2017 geltenden Recht angeregt.

Anschließend hat das Sozialgericht ein an dem bis zum 31.12.2016 geltenden Recht orientiertes Gutachten der Sachverständigen Dr. B, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin, Psychotherapie eingeholt.

Diese hat die Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung im August 2019 untersucht. Die Klägerin hat anamnestisch berichtet, sie sei einmal im Quartal bei ihrem Hausarzt, Dr. F, in Behandlung. Sie verfüge an Hilfsmitteln über einen Rollator, einen Gehstock, ein Elektromobil und Schuheinlagen. Sie wohne allein in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Zur Wohnungstür seien vier Stufen zu überwinden. Eine Badewanne sei vorhanden. Einen ersten Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung habe sie 2009 gestellt. Ab 2010 habe sich ihre Mobilität verschlechtert. Seit 2013 verfüge sie über Gehstöcke, seit 2014 über einen Rollator und seit 2016 über ein Elektromobil. Sie leide an einer angeborenen Hüftdysplasie, an Skoliose, an Senk-Spreizfüßen und einer Muskelatrophie der Beine. Sie habe Schmerzen in den Hüftgelenken, im Rücken und in den Schultern mit einhergehenden Kopfschmerzen. An Medikamenten nehme sie Johanniskraut und andere pflanzliche Mittel ein. Ihre Körperwäsche nehme sie am Waschbecken vor. Einmal in der Woche helfe ihr jemand beim Duschen in der Badewanne. Bei Stress schwitze sie viel, dann müsse sie sich mehrmals am Tag waschen. An manchen Tagen, wenn sie sich schwach fühle, sei sie wie gelähmt und bleibe im Bett. Sie ziehe sich noch selbst an und aus, aber nur den Oberkörper. Frühstück und Abendessen bereite sie selbst zu, mittags bestelle sie sich etwas oder gehe in der Nähe eine Kleinigkeit essen. Sie leide an Harninkontinenz, verstärkt bei Stress. Sie nutze normale Vorlagen, die sie zwei bis dreimal am Tag wechsele. Zu den Einkäufen gehe sie „meistens nicht mit“, zu Ärzten und Behörden werde sie gefahren. Sie leide seit Jahren an Ängsten, vor allem an Phobien. Diese beträfen Aufzüge und geschlossene Räume. Sie vermeide Menschenansammlungen, sei in fremden Gegenden in der Orientierung beeinträchtigt und unsicher. Sie neige auch zu Autoaggression dergestalt, dass sie sich gegen den Kopf schlage.

Hinsichtlich der körperlichen Untersuchung hat die Sachverständige beschrieben, dass die Klägerin langsam gehe, bei der Drehung leicht unsicher sei und mit den Händen nicht die Füße erreiche. Die Hände seien funktionsfähig, Nacken- und Schürzengriff durchführbar. Hinsichtlich des Nervensystems und der Psyche hat die Sachverständige ausgeführt, die Klägerin könne biografische und aktuelle Fragen sicher beantworten. Der Antrieb sei „augenscheinlich“ leicht gemindert, es seien keine Hinweise auf Einschränkungen des Bewusstseins, der Orientierung, des Gedächtnisses oder der Konzentration gegeben.

Die Sachverständige hat sodann an pflegebegründenden Diagnosen eine depressive Störung mit Antriebsstörung, sowie eine Gang- und Standunsicherheit, ausreichend durch Hilfsmittel kompensiert, beschrieben.

Im Assessment zur Feststellung der erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenzen hat die Sachverständige eine Störung der höheren Hirnfunktionen (Beeinträchtigung des Gedächtnisses, herabgesetztes Urteilsvermögen), die zu Problemen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen geführt hat, bejaht.

Infolge der Depression und Antriebsminderung könne von intermittierenden Störungen der mentalen Fähigkeiten ausgegangen werden. Dies führe zu Einbußen bei der Bewältigung von sozialen Alltagsleistungen.

Hieraus hat die Sachverständige einen täglichen Grundpflegebedarf von 11 Minuten abgeleitet. Dieser setze sich im Bereich der Körperpflege zusammen aus 6x wöchentlich Teilwäsche Unterkörper (Teilübernahme, 3 Minuten täglich), einmal wöchentlich Duschen (Teilübernahme, 2 Minuten täglich) und einmal täglich Kämmen (Teilübernahme, 1 Minute täglich), insgesamt 6 Minuten täglich. Hilfebedarf bei der Ernährung bestehe nicht. Im Bereich Mobilität bestehe ein Hilfebedarf beim Ankleiden (1x täglich Teilübernahme, 3 Minuten), Entkleiden (1x täglich Teilübernahme, 1 Minute) und Stehen (2x wöchentlich Teilübernahme, 1 Minute), insgesamt 5 Minuten. Die Klägerin sei nach wie vor in ihren Alltagskompetenzen erheblich eingeschränkt. Sie erfülle aber seit Antragstellung nicht die Voraussetzungen der Pflegestufe 1. Zu empfehlen sei die Installation eines Badewannenlifters.

Die Klägerin hat sich gegen die Feststellungen der Sachverständigen Dr. B gewandt. Sie hat im Wesentlichen ausgeführt, ihr Vortrag sei unbeachtet geblieben, dass sie bei Stress viel schwitze und sich dann mehrmals am Tag wasche. Im Übrigen müsse sie mehrmals in der Woche baden. Dass sie sich nach Einschätzung der Sachverständigen selbständig mit Hilfsmitteln bewegen könne, widerspreche dem Umstand, dass sie Verkehrsmittel nur in Begleitung nutzen könne. Aus ihren ständigen Schmerzen resultiere ein erhöhter Pflegebedarf. Sie habe einen Hilfebedarf beim Be- und Entkleiden des gesamten Unterkörpers. Auch das Wechseln der Vorlagen und das Schlagen gegen den Kopf seien unberücksichtigt geblieben. In dem von der Sachverständigen angesetzten Zeitraum sei sie nicht in der Lage zu duschen. Schon der Einstieg in die Badewanne sei zeitaufwändiger als bei einer Duschtasse. In dem 2009 vom MDK gefertigten Gutachten seien Hilfebedarfe auch im Bereich der Ernährung und beim Aufstehen/Zubettgehen festgestellt worden. Da sich ihr Gesundheitszustand seither erheblich verschlechtert habe, sei in jedem Fall ein höherer Pflegebedarf festzustellen.

In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 16.11.2019 ist die Sachverständige Dr. B bei ihrer Auffassung verblieben. Auf den Inhalt der Stellungnahme wird verwiesen.        

Am 28.10.2019 hat die Klägerin einen neuen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung gestellt. Die Klägerin ist daraufhin am 27.11.2019 erneut durch den MDK (Pflegefachkraft U) unter Ansatz des seit dem 01.01.2017 geltenden Begutachtungsinstruments untersucht worden.  

Im Modul 1 – Mobilität – hat die Gutachterin 2,5 gewichtete Punkte angesetzt, im Modul 3 – Verhaltensweisen und psychische Problemlagen - 11,25 gewichtete Punkte (höherer Punktwert aus den Modulen 2 und 3), im Modul 4 – Selbstversorgung – 10 gewichtete Punkte, im Modul 5 – Bewältigung von und Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen 0 gewichtete Punkte und im Modul 6 – Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte – 7,5 gewichtete Punkte. Bei einem Gesamtwert der gewichteten Punkte von 31,25 ist die Gutachterin zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin ein Pflegegrad 2 festzustellen sei.

Den erneuten Antrag der Klägerin hat die Beklagte mit Bescheid vom 28.11.2019 abgelehnt. Der Bescheid blieb unangefochten.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 13.07.2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

„Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, denn die Bescheide sind rechtmäßig. Die Versicherte hat keinen Anspruch auf Pflegeleistungen nach Pflegestufe I entsprechend der bis 31.12.2016 geltenden Rechtslage.

Gemäß § 140 Abs. 1 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI) erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit in der am 31.12.2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Daher erfolgt die Überprüfung der Voraussetzungen zur Bewilligung von Pflegeleistungen vorliegend ausschließlich auf der bis 31.12.2016 geltenden Rechtslage, da der Antrag auf Pflegeleistungen am 26.12.2016 gestellt wurde. Die ab 01.01.2017 geltende Rechtslage ist im vorliegenden Verfahren nicht zu berücksichtigen.

Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI in der hier noch einschlägigen, bis 31.12.2016 geltenden Fassung, sind gemäß § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. Für die Gewährung von Leistungen sind pflegebedürftige Personen einer von drei Pflegestufen zuzuordnen (§15 Abs. 1 SGB XI).

Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.

Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen in diesem Sinne sind gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI

-  im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,

- im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung

-  im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,

-  im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen

Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt

- in der Pflegestufe I mindestens 90 min betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 min entfallen,

- in der Pflegestufe II mindestens 3 Std. betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 2 Std. entfallen,

- in der Pflegestufe III mindestens 5 Std. betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 4 Std. entfallen.

Dies bedeutet, dass die Grundpflege gegenüber der hauswirtschaftlichen Versorgung eindeutig im Vordergrund stehen muss.

Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Voraussetzungen einer Einstufung in eine Pflegestufe nicht gegeben sind.

Die gerichtlich bestellte Sachverständige Frau Dr. B kommt in dem nach ambulanter Untersuchung der Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung erstellten Gutachten vom 28.08.2019 zu folgenden Ergebnissen:

An pflegebegründenden Diagnosen liege vor eine depressive Störung mit Antriebsminderung sowie eine Gang- und Standunsicherheit, ausreichend durch Hilfsmittel kompensiert bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und der Hüften.

Die Klägerin sei in der Lage, sich selbst das Gesicht, die Hände, den vorderen Oberkörper, die Oberarme, die Unterarme sowie den Intimbereich und die Oberschenkel zu waschen. Rücken, Unterschenkel, Füße und Haare Waschen müsse übernommen werden. Die Zahnreinigung erfolge selbständig. Sie könne sich die Haare kämmen, eine Erledigungskontrolle sollte hier aber erfolgen. Das Wasserlassen und die Inkontinenzversorgung erfolgten selbständig. Das Richten der Bekleidung nach den Toilettengängen bedürfe keiner Hilfestellungen.

Die Klägerin benötige keine personelle Hilfe bei der mundgerechten Vorbereitung der Lebensmittel. Die Nahrungsaufnahme könne ebenfalls selbständig erfolgen.

Die Klägerin benötige Hilfestellungen beim An- und Entkleiden von Schuhen und Strümpfen als auch dem Einfädeln in die Hosenbeine. Den Kleiderwechsel des Oberkörpers könne sie selbständig vornehmen. Das Gehen sei selbständig mit Hilfsmitteln möglich, einmal wöchentlich sei ihr bei der Benutzung der Badewanne zu helfen.

Die Klägerin sei mit Begleitung verkehrssicher. Öffentliche Verkehrsmittel könnten bei stufenfreiem Eintritt und mit personeller Hilfe benutzt werden. Eine nächtliche Versorgung müsse nicht erfolgen.

Insgesamt sei von einem durchschnittlichen täglichen Zeitaufwand von 56 Minuten auszugehen. Dabei entfielen 11 Minuten auf die Grundpflege und 45 Minuten auf die hauswirtschaftliche Versorgung.

In ihrer Stellungnahme vom 16.11.2019 führt die Sachverständige bezogen auf die Einwände der Klägerin ergänzend aus:

Das An- und Entkleiden des Unterkörpers bestehe aus Teilschritten, von denen die Klägerin bei freiem möglichem Stehen und intakter Feinmotorik und Kraftentfaltung der Hände und daher in einzelnen Bereichen nicht eingeschränkt sei (hochziehen der Hose und schließen/öffnen derselben). Auch bei häufigem Schwitzen genüge eine einfache Oberkörperwäsche am Waschbecken, wie die Klägerin bei der Begutachtung auch selbst mitgeteilt habe. Eine Fortbewegung auf ebener Strecke sei der Klägerin mit Hilfsmitteln möglich. Bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel stelle sich die Situation anders dar, denn hier seien oft Stufen zu überwinden. Dies stehe auch im Einklang mit der Aussage der Klägerin, dass sie ohne Begleitung einkaufe und gelegentlich in der Nähe essen gehe. Der Transfer in und aus der Badewanne mit Hilfe sei aus gutachterlicher Sicht durchaus in 1 Minute zu bewältigen. Bei einem Zeitaufwand in der pflegerischen Versorgung von 11 Minuten täglich ergebe sich ein Aufwand von 77 Minuten in der Woche. Der hauswirtschaftliche Aufwand sei nach den anzuwendenden Pflegebegutachtungsrichtlinien nicht zu berücksichtigen. Schmerzen als solche erhöhten nicht den Pflegebedarf. Nach den Begutachtungsrichtlinien, die bis 31.12.2016 gegolten hätten, seien autoaggressive Tendenzen nicht zu berücksichtigen. Ein Hilfebedarf bei vorliegender Stressinkontinenz bestehe nicht. Als Hilfsmittel nutze die Klägerin Vorlagen, die sie ohne Hilfe wechseln könne. Aus der pflegerelevanten Anamnese ergäben sich keine Einschränkungen hinsichtlich der Bewältigung von Alltagsleistungen. Eine alleinige Diagnose führe nicht unmittelbar zu pflege relevanten Folgen. Bei der Reinigung des Unterkörpers am Waschbecken sei zu berücksichtigen, dass der Zeitaufwand wegen des Waschbeckens höher sei als beim Duschen in der Badewanne. Die Zeitansätze für An- und Entkleiden entsprächen den bestehenden Einschränkungen. Hier sei der Transfer in und aus der Badewanne berücksichtigt. Weitere Transferhilfen seien nicht erforderlich. Der durch sie angesetzte Wert entspreche den bestehenden Einschränkungen. Aus dem Gutachten ergebe sich, dass die Klägerin sich selbst die Zähne putze und auch noch selbst koche. Die weitergehende Feststellung, dass bei der Klägerin ein Hilfebedarf bei der Nahrungsaufnahme bestehe, sei vor diesem Hintergrund schlicht falsch. Aus dem Gutachten ergebe sich, dass die Klägerin sich vom Boden sitzend in den Stand erheben könne. Hieraus sei zu schlussfolgern, dass sie keine Hilfen beim Aufstehen/und Zubettgehen benötige. Der angerechnete pflegerische Zeitaufwand sei falsch.

Diesen überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen schließt sich die Kammer in vollem Umfang an. Danach steht fest, dass die Klägerin nach der bis 31.12.2016 geltenden Rechtslage keine pflegestufen relevanten Leistungen der sozialen Pflegeversicherung beanspruchen kann.“

Gegen das ihr am 23.07.2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 31.07.2020 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen erneut darauf verwiesen, dass ihre Pflegebedürftigkeit bereits seit 2008 unzureichend eingeschätzt werde. Ihr Gesundheitszustand habe sich seither kontinuierlich verschlechtert. Neben ihren psychischen Beeinträchtigungen seien ihre körperlichen Erkrankungen einschließlich ihrer chronischen Schmerzen nur unzureichend erfasst. Sie habe kontinuierlich darauf hingewiesen, dass ihre Leistungsfähigkeit Schwankungen unterworfen und z.B. von der jeweiligen Schmerzintensität abhängig sei. Schmerzfreie Intervalle würden dabei immer seltener.

Im September 2020 hat ein Beratungseinsatz der Beklagten bei der Klägerin stattgefunden. Der dort angeratene weitere Höherstufungsantrag vom 21.10.2020 ist am 13.04.2021 ebenfalls bestandskräftig abgelehnt worden.

Im Erörterungstermin vom 07.04.2022 hat die Klägerin ihr Begehren mit Blick auf die Wirkungen des erneuten Antrags vom 28.10.2019 beschränkt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13.07.2020 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 zu verurteilen, ihr in der Zeit vom 28.12.2016 bis zum 31.12.2016 Leistungen zumindest nach einer Pflegestufe I neben der bereits anerkannten erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz und darüber hinaus ab dem 01.01.2017 bis zum 27.10.2019 Leistungen zumindest nach einem Pflegegrad 3 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.  

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Prozessakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

a)

Es bestehen bereits erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der Klage. Die Klägerin hat die - von ihr persönlich am 21.12.2018 erhobene - zeitlich erste Klage S 9 P 4/19 SG Köln gegen den Bescheid vom 03.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 am 22.05.2019 zurückgenommen. Die am 28.12.2018 und damit zeitlich später durch den Bevollmächtigten erhobene Klage S 9 P 3/19 SG Köln, die Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist, war damit zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig, § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Durch die Rücknahme der erstgenannten Klage ist sodann zwar die Sperrwirkung des § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG entfallen. Die mit der Klagerücknahme eingetretene Bestandskraft des angefochtenen Bescheides kann allerdings in dem vorliegenden Verfahren nicht mehr beseitigt werden. Ein bestandskräftiger Bescheid ist nicht statthafter Gegenstand einer Klage, § 77 SGG. Die Klägerin wäre auf ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zu verweisen (vgl. BSG, Urteil vom 09.12.2016 – B 8 SO 1/15 R, Rn. 16 –, juris).

b)

Selbst wenn man den vorgenannten Erwägungen nicht folgen würde, wäre die Berufung der Klägerin erfolglos. Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 13.07.2020 die Klage zurecht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 03.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2018 ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen.  

Bei einem Antrag, der noch bis zum 31.12.2016 gestellt wurde, ist zunächst zu prüfen, ob ein Leistungsanspruch noch bis zu diesem Zeitpunkt entstanden ist (siehe nachfolgend unter aa)). Die Feststellung einer Pflegestufe ist sodann ggf. nach § 140 SGB XI überzuleiten. Ist ein Anspruch bis zum 31.12.2016 nicht festzustellen, so ist ab dem 01.01.2017 unter Anwendung des dann geltenden Rechts auf den alten Antrag hin zu prüfen, ob ein Anspruch nach neuem Recht besteht (siehe nachfolgend unter bb)). Der Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist dabei ggf. auf die Zeit bis zur Stellung eines Neu- bzw. Höherstufungsantrags begrenzt, wenn dieser Antrag beschieden wurde (siehe BSG Urteil vom 17.02.2022 - B 3 P 6/20 R).

Dass die Beklagte und ihr folgend das Sozialgericht den Sachverhalt lediglich in Anwendung des bis zum 31.12.2016 geltenden Rechts beurteilt hat, hindert den Senat nicht an der umfassenderen Prüfung.  

Die Klägerin hat am 28.10.2019 einen Höherstufungsantrag gestellt, der von der Beklagten mit Bescheid vom 28.11.2019 abschlägig beschieden worden ist. Der Streitgegenstand ist daher auf die Zeit vom 28.12.2016 bis zum 27.10.2019 begrenzt. Die Klägerin hat ihr Klagebegehren in der Berufungsinstanz sachdienlich hierauf beschränkt.

aa)

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen nach zumindest einer Pflegestufe I nach dem bis zum 31.12.2016 geltenden Recht neben der bereits anerkannten erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz.

Der Senat weist insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Den Feststellungen der Sachverständigen Dr. B ist die Klägerin auch mit ihrem Berufungsvorbringen nicht überzeugend entgegengetreten. Die von der Klägerin angeführten psychischen Beeinträchtigungen finden im Wesentlichen erst im ab dem 01.01.2017 geltenden Recht Berücksichtigung. Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die Sachverständige die im Dezember 2016 vorliegenden körperlichen Beeinträchtigungen der Klägerin nicht ausreichend gewertet hätte, finden sich nicht. Der Senat nimmt insoweit insbesondere Bezug auf die ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. B vom 16.11.2019. Die Klägerin hat im Übrigen selbst wiederholt vorgetragen, ihr Gesundheitszustand verschlechtere sich kontinuierlich. Es ist daher nicht ersichtlich, dass verglichen mit der Untersuchung im August 2019 im Dezember 2016 ein höherer zeitlicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege vorgelegen haben könnte.

bb)

Auch nach dem ab dem 01.01.2017 geltenden Recht kann die Klägerin keine höheren als Leistungen beanspruchen als nach einem Pflegegrad 2.

aaa)

Die Überleitung der bereits anerkannten erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz in den Pflegegrad 2 ist nach § 140 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 lit a) SGB XI zutreffend erfolgt. Eine daneben überzuleitende Pflegestufe bestand nach den unter aa) genannten Ausführungen nicht.

bbb)

Die Klägerin kann ab dem 01.01.2017 auch originär keine Leistungen nach einem höheren Pflegegrad als dem übergeleiteten Pflegegrad 2 beanspruchen.

Nach § 14 Abs. 1 SGB XI in der seit dem 01.01.2017 gül­tigen Fassung sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI solche Personen, die gesund­heitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen kön­nen.

Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für sechs Monate, und mit min­destens der im § 15 SGB XI festgelegten Schwere bestehen. Maßgeblich sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten die in den 6 folgenden Bereichen genannten pflege­fachlich begründeten Kriterien:

  1. Mobilität
  2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
  3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
  4. Selbstversorgung
  5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
  6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

 

Nach § 15 SGB XI erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Pflegegrad, welcher mit Hilfe eines pflege­fachlich begründeten Begutachtungsinstrumentes ermittelt wird. Dieses ist in 6 Module gegliedert, die den 6 Bereichen in § 14 Abs. 2 SGB XI entsprechen. In jedem Modul wer­den die jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten gegliedert. Jedem Punktebe­reich in einem Modul werden unter Berücksichtigung der in ihm zum Ausdruck kommen­den Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sowie der Gewichtung der Module nach § 15 Abs. 2 SGB XI gewichteten Punkte zugeordnet. Mobili­tät wird mit 10 % gewichtet, kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltens­weisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 %, Selbstversorgung mit 40 %, Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anfor­derungen und Belastungen mit 20 % und Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kon­takte mit 15 %. Zur Ermittlung des Pflegegrades sind nach § 15 Abs. 3 SGB XI die bei der Begutachtung festgestellten Einzelpunkte in jedem Modul zu addieren und dem Punktebe­reich und den sich daraus gewichteten Punkten zuzuordnen. Den Modulen 2 und 3 ist ein gemeinsamer gewichteter Punkt zuzuordnen, der aus den höchsten gewichteten Punkten entweder des Moduls 2 oder des Moduls 3 besteht. Aus den gewichteten Punkten aller Module sind durch Addition Gesamtpunkte zu bilden.

Nach § 15 Abs. 3 Ziffer 2 SGB XI liegt der Pflegegrad 3 bei erheblichen Beeinträchtigun­gen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten von 47,5 bis unter 70 gewichteten Punkten vor.

Den erforderlichen Wert von zumindest 47,5 gewichteten Punkten erreicht die Klägerin nicht.

Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme liegen bei der Klägerin in der Zeit vom 01.01.2017 bis zum 27.10.2019 zur Überzeugung des Senats allenfalls 31,25 gewichtete Gesamtpunkte vor. Dies entspricht dem Pflegegrad 2 (27 bis unter 47,5 gewichtete Punkte).

Der Senat stützt diese Feststellung auf das Gutachten des MDK (Pflegefachkraft U) vom 27.11.2019 in Zusammenschau mit dem Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen Dr. B vom 28.08.2019 nebst ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 16.11.2019.

Die Gutachterin U hat schlüssig und nachvollziehbar dargestellt, dass die Klägerin neben den körperlichen Einschränkungen aufgrund von Arthrose bei Hüftdysplasie und Rückenbeschwerden insbesondere aufgrund einer wiederkehrenden depressiven Störung der Unterstützung bedarf.

Im Modul 1 – Mobilität – hat die Gutachterin das Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs und das Treppensteigen als nur noch überwiegend selbständig erachtet (2 Einzelpunkte - 2,5 gewichtete Punkte). Im Modul 2 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten - hat sie die Fähigkeit der Klägerin, sich an wesentliche Ereignisse zu erinnern sowie die Fähigkeit der Beteiligung an einem Gespräch als größtenteils vorhanden erachtet (2 Einzelpunkte – 3,75 gewichtete Punkte). Im Modul 3 – Verhaltensweisen und psychische Problemlagen – hat die Gutachterin eine tägliche Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage beschrieben (5 Einzelpunkte - 11,25 gewichtete Punkte) und sodann, wie gesetzlich geregelt, den höheren Punktwert aus den Modulen 2 und 3 in Ansatz gebracht. Im Modul 4 – Selbstversorgung – hat die Gutachterin das Waschen des vorderen Oberkörpers, der Körperpflege im Bereich des Kopfes, das Waschen des Intimbereichs, das Duschen und Baden einschließlich des Haare Waschens, das An- und Auskleiden des Oberkörpers sowie das An- und Auskleiden des Unterkörpers als jeweils nur noch überwiegend selbständig angesehen (6 Einzelpunkte - 10 gewichtete Punkte). Im Modul 5 – Bewältigung von und Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen hat die Gutachterin zwei Arztbesuche im Monat beschrieben. Hieraus haben sich 0 Einzelpunkte und damit 0 gewichtete Punkte ergeben. Im Modul 6 – Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte – hat die Gutachterin die Gestaltung des Tagesablaufs und die Anpassung an Veränderungen, das Sichbeschäftigen, die Vornahme von in die Zukunft gerichteten Planungen, sowie die Kontaktaufnahme zu Personen außerhalb des direkten Umfeldes jeweils als nur noch überwiegend selbständig erachtet (4 Einzelpunkte - 7,5 gewichtete Punkte).

Diese Feststellungen finden im Wesentlichen ihre Bestätigung durch das Ergebnis der Begutachtung durch die gerichtliche Sachverständige Dr. B im August 2019.

Diese hat hinsichtlich der körperlichen Beschwerden der Klägerin zum einen eine durch Hilfsmittel kompensierte Gang- und Standunsicherheit beschrieben und zum anderen die Klägerin nicht mehr in der Lage gesehen, in sitzender Position mit den Händen die Füße zu erreichen.

Hierdurch lassen sich die durch den MDK im Modul 1 beschriebenen Einschränkungen der Mobilität sowie die im Modul 4 bezeichneten Einschränkungen beim Waschen und Be- bzw. Entkleiden des Unterkörpers begründen. Die ebenfalls im Gutachten des MDK beschriebenen Einschränkungen hinsichtlich des Oberkörpers sind hingegen für den Senat nicht überzeugend. Denn die Sachverständige Dr. von Löwenstein hat eine wesentliche Beeinträchtigung der Funktionen der oberen Extremitäten nicht festgestellt. Der Händedruck der Klägerin war mittelkräftig, der Pinzettengriff darstellbar, ebenso wie der vollständige Nacken- und Schürzengriff.

Mit Blick auf die psychischen Beeinträchtigungen hat auch die gerichtliche Sachverständige Dr. B eine wiederkehrende depressive Störung mit Antriebsminderung festgestellt. Vor dem Hintergrund der stationären Behandlung der Klägerin vom 20.03.2019 bis zum 13.05.2019 in der Uniklinik M – Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie – mag die Feststellung einer täglichen Antriebsstörung durch den MDK im November 2019 zutreffen, auch wenn hierfür im psychischen Befund weder bei der Untersuchung durch Dr. B im August 2019 noch bei derjenigen durch den MDK im November 2019 nachvollziehbare Anhaltspunkte benannt werden.

Anhaltspunkte für die in dem Bericht der Uniklinik vom 13.05.2019 ebenfalls benannte generalisierte Angststörung finden sich in den genannten Untersuchungen hingegen gar nicht. Eine solche lässt sich damit jedenfalls nicht mit der erforderlichen zumindest sechsmonatigen Dauer nachzeichnen.

Die Klägerin berichtet lediglich anamnestisch von spezifischen angstbesetzten Situationen (Aufzug, ÖPNV, Menschenmenge). Die Klägerin war und ist nicht in fachpsychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung. Eine dem vorgetragenen Leidensdruck entsprechende psychopharmakologische Behandlung findet nicht statt. Der behandelnde Hausarzt erbringt ausweislich der von der Klägerin selbst beigebrachten Patientenquittung stützende Gespräche bei psychosomatischen Erkrankungen. Eine Angststörung wurde durch ihn nicht diagnostiziert. Die aus der vorgenannten Dokumentation ersichtliche Verdichtung der o.g. Gespräche ab Oktober 2019 liegt außerhalb des streitigen Zeitraums und hat ohnehin allenfalls Indizwirkung. Die von der Uniklinik empfohlene Verhaltenstherapie hat die Klägerin nicht in Angriff genommen. Ob tatsächlich kein Verhaltenstherapeut vorhanden ist, den die Klägerin ohne Nutzung eines Aufzugs erreichen könnte, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Dass die Klägerin tatsächlich krankheitsbedingt nicht zur Nutzung von Aufzügen in der Lage ist, ist ohnehin nicht nachgewiesen. Gleiches gilt für das angebliche autoaggressive Verhalten der Klägerin.

Selbst wenn die Klägerin aber an einer dauerhaften Angststörung - sei sie nun spezifisch oder generalisiert - leiden würde, die personellen Hilfebedarf zeitigt, so könnte sie in dem hierfür maßgeblichen Modul 3 bis zu der dortigen Höchstgrenze von 15 gewichteten Punkten lediglich weitere 3,75 gewichtete Punkte erzielen. Gleiches gilt für eine etwaige Autoaggression der Klägerin, sofern diese überhaupt einen personellen Hilfebedarf zeitigen würde.

Mit weiteren 3,75 gewichteten Punkten erreicht die Klägerin aber selbst dann nicht die erforderlichen 47,5 gewichteten Punkte, wenn man mit der Sachverständigen U trotz der oben beschriebenen Zweifel im Modul 4 10 gewichtete Punkte ansetzt.

Es gibt auch keinen Anhalt dafür, dass weitere gewichtete Punkte aus den übrigen Modulen hinzuzurechnen wären.

Im Gutachten des MDK aus November 2019 werden neben den zwei Arztbesuchen monatlich anamnestisch physikalische Therapiekontakte zweimal wöchentlich mit Praxisbesuch beschrieben. Die Gutachterin U hat diese in die Bewertung nicht einbezogen, da prognostisch keine längerfristige Verordnung stattfinden würde. Diese Prognose erweist sich auch im Nachhinein als zutreffend, da die Klägerin nach ihrem eigenen Vortrag im Erörterungstermin des Senats am 07.04.2022 entsprechende Therapiemaßnahmen nachfolgend nicht regelmäßig wahrgenommen hat.

Im Übrigen hat bereits das Sozialgericht ausgeführt, warum sich eine Vielzahl der von der Klägerin vorgebrachten weiteren Beeinträchtigungen nicht oder nicht in dem angegebenen Umfang als Unterstützungsbedarf auslösend berücksichtigen lassen. Dies gilt insbesondere für die Berücksichtigung der vorgetragenen chronischen Schmerzen. Insoweit hat die Sachverständige Dr. B zutreffend darauf hingewiesen, dass sich aus deren Vorliegen für sich genommen noch kein personeller Hilfebedarf ergibt. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass die Klägerin eine ihr angeratene operative Versorgung der Hüften bislang nicht durchgeführt hat. Dies lässt einen besonderen Leidensdruck zumindest nicht erkennen.

Dass in dem streitigen Zeitraum statt der 31,25 gewichteten Punkte vor der Untersuchung durch Dr. B im August 2019 ein Punktwert von mindestens 47,5 gewichteten Punkten anzusetzen wäre, ist nicht ersichtlich. Die von dem Gutachter des MDK N im März 2017 eingesehenen Gutachten des Dr. S vom 22.03.2016 und des Dr. K vom 22.08.2011 wurden vor dem hier streitigen Zeitraum gefertigt und boten dem Gutachter keinen Anhalt für eine der Klägerin günstigere Bewertung. Aus dem stationären Aufenthalt der Klägerin in der Uniklinik lässt sich nach den o.g. Erwägungen ein pflegegradrelevanter weiterer Punktwert ebenfalls nicht ableiten. Im Übrigen hat die Klägerin selbst ausgeführt, ihr Gesundheitszustand habe sich kontinuierlich verschlechtert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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