Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2018 wird aufgehoben, soweit der Beklagte verurteilt wurde, Mehrbedarfe in Höhe von mehr als 10% des jeweils geltenden Regelbedarfs zu gewähren. Die Berufung wird im Übrigen zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht der Sache nach ein Mehrbedarf für die Zeiträume vom 1. April 2015 bis zum 31. März 2016 sowie vom 1. Oktober 2016 bis zum 30. September 2017.
Die Klägerin bezieht laufend Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Sie beantragte unter dem 5. März 2015 höhere Leistungen wegen eines Ernährungsmehrbedarfs aufgrund einer Laktoseintoleranz.
Der Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 2. Juni 2016 (VV Bl. 956) ab. Ein Mehrbedarf könne nach den aktuellen Empfehlungen des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge nicht angenommen werden.
Die Klägerin erhob Widerspruch (VV Bl. 1060). Sie legte ein Attest ihrer behandelnden Gynäkologin Dr. G vom 31. Mai 2016 ein (VV Bl. 1073), wonach sie aufgrund einer nachgewiesenen Laktoseintoleranz, einer deutlichen Insulinresistenz und ausgeprägtem Vitaminmangel Mehrkosten für eine aufwändigere Ernährung (eiweißreich, Vitamin-Ersatz, laktosefreie Nahrungsmittel) zu tragen habe.
Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 7. September 2016 (GA Bl. d), abgeändert durch Bescheid vom 26. November 2016, unter anderem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum Januar 2017 bis September 2017. Ein Betrag für einen Mehrbedarf wurde dabei nicht zugesprochen.
Er wies den Widerspruchgegen den Bescheid vom 2. Juni 2016 mit Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 2016 zurück (VV Bl. 1204).
Dagegen hat die Klägerin am 11. November 2016 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben (Aktenzeichen: S 179 AS 15887/16).
Den weiteren Widerspruch gegen den Bescheid vom 7. September 2016 hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. November 2016 zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 27. Dezember 2016 ebenfalls Klage erhoben (Az. S 37 As 18167/16).
Die Klägerin hat eine Reihe von ärztlichen Attesten eingereicht, unter anderem eine Bescheinigung der Charité, Zentrum für innere Medizin mit Gastroenterologie und Nephrologie vom 21. Oktober 2016, wonach die Klägerin an kombinierter Laktose- und Fruktose-Intoleranz, Diabetes Mellitus Typ II, Schilddrüsenunterfunktion und PTOS leide.
Mit Beschluss vom 15. Juni 2018 hat das SG die beiden Verfahren verbunden.
Es hat Befundberichte eingeholt, auf die ergänzend verwiesen wird.
Die Klägerin hat vorgebracht, auch an Hyperandrogenämie, einer rezidivierenden Eisenmangelanämie, Vitamin B12–Mangel und Vitamin D-Mangel zu leiden.
Sie hat erstinstanzlich beantragt, ihr für die genannten Zeiträume einen angemessenen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5, Abs. 6 SGB II mindestens in Höhe von 10% des Regelbedarfs zu gewähren.
Mit Urteil vom 15. Juni 2018 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 2. Juni 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 2016 sowie des Bescheides vom 7. September 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. November 2016 verurteilt, der Klägerin für die Zeiträume 1. April 2015 bis zum 31. März 2016 sowie vom 1. Oktober 2016 bis 30. September 2017 unter Abänderung der hierzu ergangenen Bewilligungs- und Änderungsbescheide einen angemessenen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5, Abs. 6 SGB II in Höhe von 15% des jeweils geltenden Regelbedarfs zu gewähren. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, der Klägerin stehe aufgrund Ihrer Laktose-Intoleranz ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II zu. Entsprechende Mehrkosten folgten aus einem in einem anderen Verfahren in Auftrag gegebenen Gutachten zum finanziellen Mehrbedarf gegenüber einer Durchschnittsernährung. Des Weiteren habe die Klägerin einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II für die von ihr benötigten Nahrungsergänzungsmittel, welche die Krankenkasse nicht übernehme. In der Summe sei eine monatliche Belastung anzunehmen, die einen Gesamtbedarf von 15% des Regelbedarfes ausfülle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten vom 11. Juli 2018. Zu deren Begründung beruft er sich auf den Beschluss des hiesigen Gerichts vom 24. Mai 2017 (L 5 AS 1895/16), wonach nur spezielle Besonderheiten einer Laktose-Intoleranz zu einer kostenaufwändigeren Ernährung führten. Ein Mehrbedarf § 21 Abs. 6 SGB II müsse bereits ausscheiden, weil die Mehrbedarfe § 21 Abs. 2 bis 5 SGB II nicht im Rahmen der Härtefallregelung aufgestockt werden könnten. Die Empfehlung für eine Vollkost sowie ein Vitamin-B12-Mangel führe überdies nicht zu einem Mehrbedarf.
Der Beklagte hat eine Stellungnahme des zuständigen Gesundheitsamtes beim Bezirksamt Lichtenberg von Berlin vom 31. Oktober 2018 (GA Bl. 221) eingereicht.
Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenfachärztin S des Gesundheitsamts – Beratungsstelle für Behinderte, chronisch Kranke, krebs- und aidskranke Menschen – gelangt in ihrer gutachterlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Falle einer Multimorbidität und Nebenwirkungen aufgrund Neuroleptika-Verordnungen ein komplexes Modell der Stoffwechselsteuerung zu beachten sei. Die Neuroleptika-Gaben verursachten ein metabolisches Syndrom mit Stoffwechselentgleisungen, auch des Leberstoffwechsels. Auch der Hirsutismus müsse als unerwünschte Wirkung der Neuroleptikatherapie angesehen werden. Empfohlen werde, da die Klägerin an einer Erkrankung leide, welche eine kostenaufwändigere Ernährung mit einem hohen Eiweißanteil notwendig mache, ein Mehrbedarf von 10% des Regelsatzes.
Ergänzend hat sie unter dem 16. Mai 2019 ausgeführt, auch der Zeitraum vom 10. Oktober 2017 bis zum 30. September 2018 sei von ihr in diesem Sinne einbezogen und gewürdigt worden. In ihrer weiteren Stellungnahme vom 26. November 2019 (GA Bl. 291) führt die Gutachterin schließlich aus, dass das Krankenbild der Klägerin nach Erkenntnissen im eigenen Hause auch schon 2015 so bestanden habe.
Im Erörterungstermin vor dem Senat am 8. Oktober 2021 hat die Klägerin erklärt, die Klage zurückzunehmen bzw. klarzustellen, dass kein Mehrbedarf von mehr als 10% des Regelsatzes beantragt worden sei.
Der Beklagte ist der Auffassung, aufgrund der Stellungnahme des Gesundheitsamtes sei ein Mehrbedarf zwar ab Oktober 2018 für zwei Jahre geboten, jedoch nicht für den hier streitgegenständlichen Zeitraum in den Jahren 2015 bis 2017.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat darauf hingewiesen, bereits seit Jahren erkrankt zu sein, nicht erst im Oktober 2018.
Auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze und die im Verwaltungsvorgang sowie in den Gerichtsakten enthaltenen ärztlichen Befundberichte, Atteste und gutachterliche Stellungnahmen wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Es konnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter alleine nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden. Beide Beteiligten haben sich mit einer solchen Vorgehensweise im Erörterungstermin am 8. Oktober 2021 einverstanden erklärt. Gesichtspunkte, von der Ermächtigung kein Gebrauch zu machen, sind nicht ersichtlich.
Nachdem die Klägerin klargestellt hat, in der Sache keinen Mehrbedarf zu begehren, der 10% des Regelsatzes übersteigt, bleibt der Berufung Erfolg versagt.
Im Hinblick auf die Klarstellung war der erstinstanzliche Tenor vorsorglich anzupassen.
Formaler Streitgegenstand ist das Begehren der Klägerin, im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung der von ihr geltend gemachten Mehrbedarfe zu erhalten, denn die Gewährung eines Mehrbedarfes kann nicht in zulässiger Weise zum isolierten Streitgegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht werden (vgl. Bundessozialgericht -BSG, Urteil vom 4. Juli 2014 – B 14 AS 30/13 R – Rdnr. 12 mit weiteren Nachweisen). Zwischen den Beteiligten besteht allerdings nur Streit, ob zum Leistungsanspruch auch ein Mehrbedarf gehört.
Zu Recht hat das SG den Beklagten verpflichtet, der Klägerin für die streitgegenständlichen Zeiträume einen Mehrbedarf zu gewähren, der mit 10% des Regelsatzes zu bemessen ist.
Der Senat hat darauf verzichtet, den erstinstanzlichen Tenor zur Gänze neu zu fassen. Angesichts der vom Beklagten mit Schriftsatz vom 16. September 2021 eingereichten Berechnung ergibt sich der der Klägerin zu gewährende Betrag in Euro pro Monat ohne Weiteres. Auf den Schriftsatz wird ergänzend Bezug genommen.
Zwischen den Beteiligten steht außer Streit, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum die allgemeinen Voraussetzungen für einen Leistungsbezug als erwerbsfähige, hilfsbedürftige und leistungsberechtigte Person nach §§ 7 bis 9 SGB II erfüllt hat.
Für den streitgegenständlichen Zeitraum kann die Klägerin zwar keinen Mehrbedarf speziell für eine laktosefreie Ernährung beanspruchen. Es ist jedoch von einem Mehrbedarf für eiweißreiche Kost sowie notwendige Nahrungsergänzungsmittel auszugehen.
Ihr stehen deshalb für den streitgegenständlichen Zeitraum weitere Leistungen als Mehrbedarf für kostenaufwändigere Ernährung (§ 21 Abs. 5 SGB II) zu:
Ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II setzt medizinische Gründe voraus welche ursächlich zu einer kostenaufwändigen Ernährung führen, ohne dass es auf deren Einhaltung ankommt sowie Kenntnis der betreffenden Person von dem medizinisch bedingten besonderen Ernährungsbedürfnis (vgl. BSG, Urteil vom 20. Februar 2014 – B 14 AS 65/12 R – Rdnr. 16 ff mit weiteren Nachweisen).
Medizinische Gründe liegen vor.
Bereits die Behandlerin Dr. W bescheinigt am 14. November 2017 für die Zeit ab Februar 2015 die Notwendigkeit einer kohlenhydratarmen aber eiweißreichen Ernährung aufgrund der Diagnosen Laktose- und Fruktose-Intoleranz, Insulinresistenz, Vitamin D/B12 Mangel, Eisenmangel, einer, Adipositas sowie PCOS und Eisenmangel.
Dies deckt sich der Sache mit den sachverständigen Aussagen der Fachärztin S, dass die Klägerin als Folge der von ihr einzunehmenden Neuroleptika an Stoffwechsel- und hier Hormonspiegelumstellungen leidet, welche zwar aus Sicht der Gutachterin nicht die Notwendigkeit einer Einnahme (nicht verschreibungspflichtiger) Medikamente bedingen, jedoch eine erhöhte Eiweißkost erfordern. In der Stellungnahme der Fachärztin S vom 16. Mai 2019 ist ausgeführt, dass die Behandlung mit Neuroleptika und die daraus folgenden Wirkungen schon vor dem gegenwärtigen Zeitraum von erheblicher Bedeutung gewesen ist. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 12. Juni 2019 hat die Gutachterin klargestellt, dass ihr bei ihrer Stellungnahme vom 31. Oktober 2018 nicht bekannt gewesen sei, dass die Problematik auch einen vorgelagerten Zeitraum betreffe. Eindeutig sind ist schließlich ihre jüngste Äußerung. Der von ihr dort angegebene Zeitraum ab 2015 deckt sich vollständig mit den hier streitgegenständlichen Bewilligungszeiträumen.
Weiterer medizinscher Ermittlungsbedarf ist nicht ersichtlich. Es ist nicht vorgetragen oder ersichtlich, dass der heutige Gesundheitszustand der Klägerin noch verlässlichere Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen ihrem Gesundheitszustand bzw. Krankheiten und dem Bedarf an kostenaufwändigerer Ernährung im streitgegenständlichen Zeitraum ergeben könnte als die Auswertung der zeitnäher getroffenen ärztlichen Atteste und Stellungnahmen.
Die Klägerin hatte auch Kenntnis von der Erforderlichkeit einer besonderen Ernährung, wie bereits aus der Antragstellung im März 2015 zu schließen ist.
Soweit die Gutachterin den Mehrbedarf auf 10% der Regelbedarfsstufe 1 beziffert, hält dies der Senat angesichts der von den Beteiligten in das Verfahren eingeführten „Empfehlungen des deutschen Vereins zur Gewährung des Mehrbedarfs bei Kostenaufwendiger Ernährung gemäß § 30 Abs. 5 SGB XII (letzte Fassung vom 16. September 2020), der für Zöliakie 20% angibt sowie 10% bei krankheitsassoziierter Mangelernährung, für nachvollziehbar und überzeugend.
Dass in den Empfehlungen Laktoseintoleranz und Fruktosemalabsorption unter die Krankheiten eingestuft sind, für welche keine kostenintensiver Ernährungsform erforderlich sei, steht dem nicht entgegen. Denn wie ausgeführt resultieren die Hormon- und Stoffwechselstörungen, unter welchen die Klägerin leidet, primär aus der Notwendigkeit zur Einnahme von Neuroleptika. Auf die Laktose- und Fruktoseintoleranz kommt es für den erhöhten Ernährungsaufwand nicht mit Relevanz an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.