Zur Bewertung eines MCS im Schwerbehindertenrecht.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. April 2018 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) sowie um ihren Anspruch auf Feststellung der Merkzeichen G, B und RF nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX).
Bei der Klägerin war mit zuletzt bindend gewordenem Bescheid vom 10. März 2015 ein GdB von 70 festgestellt worden. Dem hatten als Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegen:
- Lungenfunktionseinschränkung, Allergien und Überempfindlichkeit gegenüber Chemikalien, Bronchialasthma, Reizhusten, multiple chemische Überempfindlichkeit (Einzel-GdB 50),
- depressive Störung (Einzel-GdB 30),
- Funktionsbehinderung Wirbelsäule, Bandscheibenschäden, chronisches Schmerzsyndrom (Einzel-GdB 20).
Im April 2015 beantragte die Klägerin, die bei ihr vorliegende Behinderung neu festzustellen und ihr einen höheren GdB sowie die Merkzeichen G, B und RF zuzuerkennen.
Das beklagte Land lehnte den Neufeststellungsantrag der Klägerin nach Ermittlung und Beteiligung seines ärztlichen Dienstes mit Bescheid vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2015 ab.
Im Dezember 2015 ist Klage erhoben worden.
Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte des Arztes H. sowie der Neurologin, Psychiaterin und Homöopathin Dr. I. beigezogen. Hierzu hat das beklagte Land Stellungnahmen seines medizinischen Dienstes (Dr. J.) vorgelegt. Diese hat unter anderem darauf hingewiesen, den Ausführungen von Dr. I. und dem Arzt H. könne aus schulmedizinischer Sicht nicht gefolgt werden.
Das SG hat die Klage ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 19. April 2018 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, an rein körperlichen Befunden habe sich bei der Klägerin nichts nachweisen lassen, was zu einer höheren Bewertung des GdB führe. Die Ausführungen der behandelnden Ärzte der Klägerin seien schulmedizinisch nicht nachzuvollziehen.
Gegen das am 12. Juni 2018 zugestellte Urteil ist am 26. Juni 2018 Berufung eingelegt worden. Zur deren Begründung macht die Klägerin zusammenfassend im Wesentlichen geltend, die bei ihr vorliegende MCS führe zu ganz erheblichen Beeinträchtigungen in ihrer Fähigkeit am sozialen Leben teilzuhaben. Diesen Einschränkungen würden schon die Regelungen in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) nicht gerecht, da sie den derzeitigen medizinisch–wissenschaftlichen Stand nicht mehr korrekt wiedergäben. Ergänzend hat sich die Klägerin wiederholt auf weitere Stellungnahmen der sie behandelnden Ärzte (H., Dr. I.) sowie auf das vom Senat eingeholte Gutachten von Professor Dr. K. gestützt. Zudem hat die Klägerin ausführliche handschriftliche Aufzeichnungen über ihre Beschwerden vorgelegt.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zunächst ein Gutachten des Orthopäden und Rheumatologen Dr. L. vom 2. Februar 2019 veranlasst. Dieser ist aufgrund der ausführlichen Untersuchung der Klägerin am 1. Februar 2019 auf seinem Fachgebiet unter anderem zu folgenden Einschätzungen gelangt: Im Hinblick auf die Halswirbelsäule der Klägerin liege eine gewisse Beweglichkeitseinschränkung vor. Bei der Untersuchung der Klägerin habe er allerdings eine muskuläre Gegenspannung festgestellt. Wesentliche Funktionseinschränkungen der Rumpfwirbelsäule seien aktuell nicht zu objektivieren. Es liege eine Minderempfindung des rechten Beines der Klägerin vor. Diese folge indessen nicht den anatomischen Grenzen des Nervensystems. Hinsichtlich der rechten oberen Extremität habe es in der Vergangenheit Hinweise auf Nervenprobleme gegeben. Die Klägerin klage auch jetzt noch über derartige Probleme. Die oberen Extremitäten der Klägerin seien passiv frei beweglich. Hinsichtlich der unteren Extremitäten seien ebenfalls – trotz Angabe von Schmerzen – keine wesentlichen funktionellen Beeinträchtigungen zu erkennen. Auch auf rheumatologischem Fachgebiet habe sich nichts Spezifisches feststellen lassen. Die immunologischen Laborparameter seien unauffällig getestet worden. Eine Borreliose sei bei der Klägerin aus seiner Sicht nicht wirklich nachgewiesen. Insoweit komme es auf die Durchführung einer Untersuchung des Liquors an, was die Klägerin aber nicht habe durchführen lassen. Nach der einschlägigen S3 Leitlinie genügten die von der Klägerin vorgelegten Untersuchungen nicht dem wissenschaftlichen Konsens. Klassische klinische Symptome einer Borreliose seien im Fall der Klägerin in den vorliegenden Unterlagen nie dokumentiert worden. Auch Allergien seien bei der Klägerin nie schulmedizinisch belegt worden. Bei einer Testung seien schwere Atemwegsbeschwerden durch eine allergenfreie Testflüssigkeit ausgelöst worden. Auch für das von der Klägerin in den Mittelpunkt gestellte MCS lägen aus seiner Sicht keine harten Befunde vor. In der medizinischen M. sei dies in der Vergangenheit ausdrücklich ausgeschlossen worden. Dort sei man von einer bronchialen Überempfindlichkeit ausgegangen. Ein Immundefekt bzw. eine Belastung mit Schwermetallen sei bei der Klägerin nicht nachgewiesen. Die neurologischen Ausfälle, die die Klägerin immer wieder berichte, habe er während der Untersuchung der Klägerin nicht feststellen können. Abschließend ist der Sachverständige dazu gelangt, bei der Klägerin liege eine Fibromyalgie vor, die mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten sei. Einschränkungen der Halswirbelsäule, am Knie und an der rechten Schulter seien jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.
Der Senat hat auf Anregung der Klägerin den Allgemeinmediziner Prof. Dr. K. mit der Erstattung eines weiteren Gutachtens (vom 30. August 2019) beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten nach längerer Erklärung der hier umstrittenen und anderer Erkrankungen zunächst auf mutmaßliche Belastungen der Klägerin durch Umweltchemikalien in ihrer Jugend in der ehemaligen DDR eingegangen. Er hat weiter darauf hingewiesen, es könne auch sein, dass es anlässlich der Entfernung von Amalgamfüllungen der Klägerin in den neunziger Jahren zu einer erneuten Belastung gekommen sei. Anlässlich der Untersuchung der Wirbelsäule der Klägerin hat Professor Dr. K. keine Auffälligkeiten festgestellt. Die Gliedmaßen der Klägerin seien in allen großen Gelenken altersentsprechend beweglich. Es liege eine etwas reduzierte Drehfähigkeit der Halswirbelsäule vor. Daneben lägen aber neurologische Auffälligkeiten vor. Koordinationstestungen seien pathologisch gewesen. Der Klägerin sei kein freier Gang über mehrere Meter möglich gewesen. Professor Dr. K. hat die Klägerin mehreren Fragebogentests unterzogen, die von ihm selbst entworfen worden sind. Sodann hat Professor Dr. K. ausgeführt, die von ihm erhobene Anamnese und die Untersuchung machten das Vorliegen einer MCS wahrscheinlich. Eine laborchemische Untersuchung sei nicht zielführend. Er gehe davon aus, dass in der Kindheit der Klägerin eine Intoxikation erfolgt sei. Diagnostisch sei vom Vorliegen einer MCS sowie eines Chronique Fatigue Syndrom (CFS) auszugehen. Zudem liege eine Polyneuropathie vor. Allein für die Diagnosen MCS und CFS müsse hier ein GdB von 100 festgestellt werden. Professor Dr. K. bejahte auch das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens B. In dem dem Gutachten beigegebenen Literaturverzeichnis hat Professor Dr. K. auf zahlreiche eigene Veröffentlichungen hingewiesen.
Der sodann weiter beauftragte Neurologe und Psychiater N. hat es unter dem 30. Juni 2020 abgelehnt, ein Gutachten zu erstatten, da das streitgegenständliche MCS eher am Rande seiner Qualifikation liege.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
- das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. April 2018 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2015 aufzuheben,
- das beklagte Land zu verurteilen, bei ihr ab April 2015 zumindest einen GdB von 80 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen G, B und RF festzustellen.
Das beklagte Land beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht es sich auf seine angefochtenen Bescheide, die erstinstanzliche Entscheidung sowie auf zahlreiche Stellungnahmen seines medizinischen Dienstes (Dr. O.) sowie auf das Ergebnis der ergänzenden Aufklärung durch den Senat. Das beklagte Land ist insbesondere der Auffassung, soweit der Sachverständige Dr. L. bei der Klägerin ein Fibromyalgiesyndrom diagnostiziert habe, sei dies aus versorgungsmedizinischer Sicht stets als eine psychische Erkrankung einzuordnen. In funktioneller Sicht handele es sich um eine Schmerzerkrankung, die psychisch bedingt sei. Sofern – wie dies hier der Fall sei – keine gravierenden Beeinträchtigungen im Bewegungsapparat objektiviert werden könnten – wie sich auch aus dem Gutachten von Professor Dr. K. ergebe –, könne eine derartige Erkrankung allenfalls mit einem GdB von 20 bewertet werden. Aus versorgungsmedizinischer Sicht sei auch die bei der Klägerin immer wieder diagnostizierte MCS dem psychiatrischen Funktionssystem zuzuordnen. Ein hyperreagibles Bronchialsystem könne hier allenfalls mit einem GdB von 10 bewertet werden. Echte Beeinträchtigungen der Lungenfunktion seien nicht belegt. Die von dem Sachverständigen Professor Dr. K. erhobenen neurologischen Befunde seien versorgungsmedizinisch nicht verwertbar. Eine Kraftprüfung fehle vollständig. Zudem habe sich der Sachverständige nicht kritisch mit den neurologischen Vorbefunden auseinandergesetzt. Der bei der Klägerin festgestellte GdB von 70 sei wahrscheinlich stark überhöht.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet in Anwendung von § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des beklagten Landes vom 5. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat in Anwendung von § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit den Vorschriften des SGB IX keinen Anspruch gegen das beklagte Land, ihr einen höheren GdB zuzuerkennen. Sie hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der von ihr begehrten Nachteilsausgleiche G, B und RF.
Nach § 48 SGB X wird ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – wie hier die Feststellung im Schwerbehindertenrecht - mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im Bereich des Schwerbehindertenrechts ist dies der Fall, wenn sich im festzustellenden GdB eine Änderung um 10 ergibt oder wenn die Voraussetzungen für die Feststellung von Merkzeichen nunmehr vorliegen oder entfallen sind.
Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Dabei werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe und damit die zur Durchführung des § 30 Abs. 1 BVG auf der Grundlage von § 30 Abs. 17 BVG ergangene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) gelten dabei entsprechend. Maßgeblich für die Feststellung des GdB ist danach die auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft erstellte Anlage zu § 2 der VersMedV „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (im Folgenden: VMG).
Der der Klägerin zustehende GdB hat sich nicht um zumindest 10 geändert. Der Senat konnte sich zunächst nicht die Überzeugung bilden, dass die bei der Klägerin im Mittelpunkt der Beschwerden stehende MCS-Erkrankung einen höheren GdB bedingt.
Nach Teil B 18.4 der VMG sind die Fibromyalgie und ähnliche Syndrome (z.B. MCS) jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen (ständige Rechtsprechung des Senats vgl. zuletzt etwa Urteile vom 26. März 2014, L 10 SB 161/12 und vom 14. Dezember 2017, L 10 SB 61/16). Damit ist die MCS-Erkrankung systematisch den Bewertungsmaßstäben für Erkrankungen der Haltungs- und Bewegungsorgane sowie rheumatischen Krankheiten zugeordnet, womit der Verordnungsgeber der Einschätzung – und der Forderung der Mehrheit der MCS-Patienten – gefolgt ist, dass es sich bei der MCS als umweltmedizinische Erkrankung jedenfalls nicht um eine psychische Störung handelt. Dem entspricht, dass in der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) die MCS im Diagnosenthesaurus (alphabetisches Verzeichnis) der Schlüsselnummer T 78.4 zugeordnet worden ist, was sich wiederum im systematischen Verzeichnis des ICD 10 in dem Kapitel „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen“ findet. Auch in dem ICD-10-Katalog ist diese Erkrankung damit nicht bei den psychischen Krankheiten eingruppiert (solche finden sich vielmehr in Kapitel 5 Gliederung F 00 bis F 99 <psychische und Verhaltensstörungen>). Nach der systematischen Einordnung in der Anlage (Teil B 18.4) ist der GdB im Hinblick auf eine MCS-Erkrankung damit allein nach den funktionellen Auswirkungen an den Haltungs- und Bewegungsorganen zu beurteilen (Bewegungsbehinderung, Minderbelastbarkeit, Versteifungen, Gelenkschwellungen, Kontrakturen, Atrophien, oder ähnliches).
Vor dem Hintergrund des Schwerbehindertenrechts kommt es nicht darauf an, durch welche Ursachen die Erkrankung verursacht wird. Ob MCS eine durch Umwelteinflüsse veranlasste Erkrankung – wie die Klägerin meint – oder eine psychiatrische Erkrankung – wie der medizinische Dienst des beklagten Landes meint – ist (zur medizinischen Lehrmeinung insoweit vergleiche etwa Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., Seite 174 f; Triebig/Kentner/Schiele, Arbeitsmedizin, 4. Aufl., Seite 947 ff; Widder/Gaidzik, Neurowissenschaftliche Begutachtung, 3. Aufl. Seite 468), ist für die Entscheidung schwerbehindertenrechtlicher Verfahren daher ohne Belang. Vor diesem Hintergrund können die verschiedenen Hypothesen zur Entstehung der Erkrankung der Klägerin (einerseits Dr. I., die mehrfach von einer Eröffnung der Hirn/Liquor Schranke durch einen von der Klägerin erlittenen Autounfall als Ursache spricht; oder Herr H., der zuletzt eine genetische Verursachung der Erkrankung und früher eine Schwermetallbelastung vermutet hat und andererseits Professor Dr. K., der Umweltbelastungen in der Jugend der Klägerin vermutet) im vorliegenden Verfahren dahinstehen.
Aus den vorliegenden medizinischen Befunden ergibt sich zunächst kein Anhaltspunkt dafür, dass die Klägerin aufgrund der MCS-Erkrankung an funktionellen Auswirkungen auf die Haltungs- und Bewegungsorganen leidet. Auch die Sachverständigen Dr. L. und Prof. Dr. K. haben in ihren Gutachten vom 2. Februar 2019 und vom 30. August 2019 festgehalten, alle Extremitäten der Klägerin seien frei beweglich gewesen (vergleiche etwa Seite 10 des Gutachtens von Prof. Dr. K.). Auch die grob neurologische Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. L. ist unauffällig geblieben (vergleiche etwa Seite 11 f des Gutachtens für die oberen Extremitäten und Seite 12-14 für die unteren Extremitäten). Soweit Prof. Dr. K. hier auf Seite 17 seines Gutachtens ansatzweise neurologische Beeinträchtigungen dokumentiert, sind diese in keiner Weise näher beschrieben und in ihrer beeinträchtigenden Funktion auf die Klägerin ausgeführt. Angesichts der ausführlichen Dokumentation durch Dr. L. vermag sich der Senat daher nicht von derartigen Einschränkungen zu überzeugen. Gleiches gilt für die ausführliche Dokumentation des Gangbildes durch Dr. L. einerseits und die völlig andere aber nur summarische Beschreibung durch Prof. Dr. K.. Funktionelle Auswirkungen der Erkrankung an den Haltungs- und Bewegungsorganen liegen damit nicht vor, sodass der Einzel-GdB für die MCS-Erkrankung jedenfalls nicht höher zu beurteilen wäre.
Die Klägerin hat allerdings durchgängig berichtet, bei Kontakt mit geringsten Mengen von Chemikalien oder Duftstoffen an folgenden Beschwerden zu leiden: Husten, asthmoide Beschwerden, Bewusstseinseintrübung, sie fühle sich „zu nichts mehr in der Lage“, „wie gelähmt“, Denkblockaden, völlige Hilflosigkeit. Begebe sie sich in eine unbelastete Umgebung, klängen die stärksten Symptome wieder ab. Es blieben jedoch eine große Erschöpfung und diffuse Schmerzen. Handelt es sich also bei den Beschwerden, die durch die MCS-Erkrankung bedingt sind, vornehmlich um vegetative Symptome, denen kein bzw. primär kein organischer Befund zugrunde liegt, ist der GdB damit in Analogie zu Teil B 3.7 der Anlage zu beurteilen. Ob es sich bei der MCS tatsächlich um (k)eine psychische Erkrankung handelt, ist dabei unerheblich. Sicher ist, dass die MCS-Erkrankung eine komplexe Symptomatik darstellt, die somatische Anomalien, physische aber auch psychische Folgen nach sich zieht. Bestehen – wie vorliegend – keine physischen funktionellen Einschränkungen aufgrund der Erkrankung, verbleibt für die Beurteilung des GdB allein die Möglichkeit der Berücksichtigung der somatischen und psychischen Beschwerden.
Nach Teil B 3.7 der Anlage sind leichtere psychovegetative und psychische Störungen mit einem GdB von 0 bis 20 und stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheiten) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten rechtfertigen einen GdB von 50 – 70 und solche mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einen GdB von 80 – 100.
Die Klägerin ist aufgrund ihrer MCS-Erkrankung an der Ausübung ihres Berufes gehindert und mittlerweile berentet; sie trägt vor, sie könne Veranstaltungen und Geschäfte oft nicht aufsuchen sowie Putz- und Waschmittel sowie Kosmetika nicht verwenden. Damit könnte es sich bei der Erkrankung der Klägerin womöglich um eine schwere Störung handeln, die mit mittelgradigen oder sogar schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten einhergeht und damit mit einem Einzel-GdB von 50 bis 100 zu bewerten wäre. Dem hat das beklagte Land ja auch dadurch Rechnung getragen, dass es die Funktionsstörung insgesamt mit einem GdB von 70 festgestellt hat. Damit ist die Klägerin nach den Maßstäben von Abschnitt B 3.7 der VMG im Bereich einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Dass schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten im Sinne dieses Abschnitts der VMG vorliegen, die die Feststellung eines GdB von 80 rechtfertigen könnten, kann der Senat nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht feststellen.
Der Sachverhalt – wie er vom Senat aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen und der beiden Sachverständigengutachten festgestellt worden ist – weist viele Widersprüchlichkeiten sowie Unklarheiten auf und gibt Anlass zu Zweifeln an der Erheblichkeit der vorgetragenen Beschwerden und/oder Anfälle.
So ist u.a. nicht nachvollziehbar geblieben, aufgrund der Einwirkung welcher konkreten Stoffe/Chemikalien bei der Klägerin welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen objektiv/tatsächlich auftreten, mit welcher Erheblichkeit dies geschieht, ob und ggf. welche Medikamente im Notfall verabreicht werden und wie oft in der Vergangenheit lebensbedrohliche oder ernsthafte Zwischenfälle vorgekommen sind. Objektive Feststellungen hierzu finden sich in den dem Senat vorliegenden Unterlagen nicht.
Der vorliegende Rechtsstreit erfordert die Herausarbeitung und Benennung von Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und deren Subsumtion unter die Vorgaben der VersMedV. Hierfür sind spezielle Kenntnisse über Ursache, Verlauf, Behandlung oder andere Einzelheiten der MCS-Erkrankung nicht erforderlich. Für die Beurteilung des GdB verbleibt allein die Möglichkeit der Berücksichtigung der somatischen und psychischen Beschwerden und hierdurch hervorgerufener Funktionsbeeinträchtigungen.
Der Senat kann sich für seine Entscheidungsfindung auch nicht auf die GdB-Einschätzung in dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 30. August 2019 beziehen. Dieses Gutachten ist insoweit unbrauchbar, weil es sich allein auf die Angaben der Klägerin stützt. Der Sachverständige hat – bis auf eine Seite (S.17) seines Gutachtens – keine eigenen Befunde erhoben und die Angaben der Klägerin nicht kritisch hinterfragt. Er hat sodann die aus den Akten ersichtliche Diagnose MCS übernommen und die von der Klägerin vielfältig vorgebrachten Einschränkungen ungeprüft mit einem GdB von 100 bemessen. Eine allein von den Angaben der Klägerin ausgehende Bewertung des Ausmaßes der Beeinträchtigung kann jedoch nicht Grundlage einer nachvollziehbaren GdB-Bewertung sein. Da eine Entscheidung über Bestehen und Ausmaß von Funktionsbeeinträchtigungen nicht in erster Linie auf die subjektiven Angaben eines naturgemäß am Ausgang des Verfahrens interessierten Antragstellers/Klägers gestützt werden kann, bedarf es insoweit einer möglichst umfassenden Objektivierung, zumindest aber einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Vorgebrachten. Dazu sind u.a. Beobachtungen während der Untersuchung zu berücksichtigen. Eine Objektivierung oder kritische Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Beschwerden der Klägerin ist dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. aber nicht zu entnehmen. Dies gilt vor allem unter Berücksichtigung der Befunde, die der Sachverständige Dr. L. ein halbes Jahr zuvor ausgesprochen sorgfältig und detailliert erhoben hat und die teilweise in diametralem Widerspruch zu den Ausführungen von Prof. Dr. K. stehen. Zumindest eine Auseinandersetzung mit diesen abweichenden Befunden wäre für eine sorgfältige sachverständige Bearbeitung erforderlich gewesen.
Weitere Funktionsstörungen, die einen Einzel-GdB von mehr als 10 und damit eine Erhöhung des bereits festgestellten GdB rechtfertigen könnten, sind für den Senat nicht ersichtlich. Auch insoweit bezieht sich der Senat auf das überzeugende Gutachten von Dr. L.. Dieser hat Funktionsbeeinträchtigungen an der Halswirbelsäule, dem Knie und der rechten Schulter der Klägerin jeweils mit einem Teil-GdB von 10 eingeschätzt. Dieser Einschätzung hat die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 20. März 2019 auch ausdrücklich zugestimmt. Der Senat sieht daher insoweit auch keinen Anlass für weitere Ausführungen.
Der Senat kann sich insbesondere nicht die Überzeugung bilden, die Klägerin leide unter diversen viralen Infektionen (unter anderem Borreliose), wie dies von ihrem behandelnden Arzt H. in seiner Berichterstattung mehrfach dargestellt wurde. Insoweit hat Dr. L. unter zutreffendem Hinweis auf die einschlägige S3 Richtlinie der medizinischen Fachgesellschaften überzeugend ausgeführt, das von Herrn H. verwendete Nachweisverfahren, werde von den einschlägigen Fachgesellschaften nicht als überzeugend angesehen. Herr H. hat auch in seinem Bericht vom 8. September 2020 (Blatt 560 der Gerichtsakte) diese Diagnosen nicht mehr erwähnt.
Als Teil der bei der Klägerin diagnostizierten MCS sieht der Senat die in der Vergangenheit bei der Klägerin festgestellte bronchiale Hyperreagibilität. Insbesondere der Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde P., bei dem die Klägerin offenbar jedenfalls noch in den Jahren 2012 bis 2014 in Behandlung war (vergleiche dazu Befundberichte vom 2. Februar und 8. Juni 2012 sowie die Bescheinigung vom 27. Januar 2014 im Verwaltungsvorgang des beklagten Landes), hat diese Funktionsstörung objektiviert. Er hat die vorliegende Störung mit einem Teil GdB von zuletzt 20 bewertet. Demgegenüber war eine Lungenfunktionsuntersuchung bei der Klägerin in der dermatologischen Klinik der Universitätsmedizin Q. Anfang 2013 ohne pathologischen Befund (vergleiche insoweit den Bericht vom 21. Februar 2013). Die insoweit vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen sieht der Senat in der Bewertung der MCS mit abgebildet.
Auf der Grundlage der vorgenannten Erkrankungen ist damit ein Gesamt-GdB in Höhe von mehr als 70 nach wie vor nicht festzustellen.
Aus denselben Gründen konnte der Senat die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „B“ und „RF“ bei der Klägerin nicht feststellen.
Im Hinblick auf das Merkzeichen „RF“ steht fest, dass die Klägerin wegen ihrer Behinderung nicht ständig an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gehindert ist. Unter dem Begriff "öffentliche Veranstaltung" ist die Gesamtheit der Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen (BSG, Urteil vom 10. August 1993 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2). Ein ständiger Ausschluss von diesen Veranstaltungen liegt erst vor, wenn die Schwerbehinderte allgemein und umfassend vom Besuch ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtheit solcher öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen kann. Es ist eine enge Auslegung dieser Anspruchsvoraussetzungen geboten; praktisch muss eine Bindung an das Haus bestehen (BSG, Urteil vom 12. Februar 1997, 9 RVs 2/96, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17; Urteil vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, SozR 3-3870 § 48 Nr. 2; Urteil vom 11. September 1991, 9a/9a RVs 15/89, SozR 3-3870 § 4 Nr. 2).
Bei der Klägerin liegt womöglich eine starke Beeinträchtigung aufgrund ihrer Chemikalien-Unverträglichkeit vor, die es ihr erschwert, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Sie ist aber wegen ihrer Leiden nicht ständig daran gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Sie hat selbst eingeräumt, das Haus gemeinsam mit anderen Personen verlassen zu können, um Einkäufe zu erledigen und Ärzte aufzusuchen. Eine Bindung an das Haus bestand und besteht damit nicht.
Die Voraussetzungen der Feststellung des Merkzeichens „G“ erfüllt derjenige, der im Sinn von § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Nach § 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Das Gesetz fordert in §§ 228 Abs. 1 Satz 1, 229 Abs. 1 Satz 1 SGB IX eine doppelte Kausalität: Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein, und diese Behinderung muss sein Gehvermögen einschränken. Die Regelungen des Teil D Nr. 1 der VMG beschreiben dazu Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G" als erfüllt anzusehen sind und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen können. Die Vorgaben der VMG zeigen auf, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, ein Behinderter sei infolge einer Einschränkung des Gehvermögens „in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt".
Das menschliche Gehvermögen ist keine statische Messgröße, sondern wird von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur und Gehtempo und -rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die VMG all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 1998, Az.: B 9 SB 13/97 R; Urteil vom 13. August 1997, Az.: 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens liegt bei der Klägerin nicht vor. Zwar erscheint es möglich, dass die Klägerin – sofern sie mit für sie unverträglichen Chemikalien in Kontakt kommt – aufgrund von Reaktionen (z.B. ein Gefühl von Lähmung und Hilflosigkeit) tatsächlich außerstande ist, die üblicherweise im Ortsverkehr zurückgelegte Strecke von 2 km in 30 Minuten zurückzulegen. Dieses Unvermögen zum Ortswechsel ist aber nicht Folge einer behinderungsbedingten Einschränkung ihres Gehvermögens. Die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ liegen damit nicht vor.
Entsprechend kommt die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ in Anwendung von §§ 228 Abs. 1, 229 Abs. 2 SGB IX nicht in Betracht, weil es an der Erfüllung der Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ fehlt. Eine Prüfung der Frage, ob die Klägerin bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf Hilfe angewiesen ist, ist daher entbehrlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.
Anlass die Revision in Anwendung von § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen besteht nicht.