Das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 03.11.2010 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur Beweiserhebung und Entscheidung an das Sozialgericht Dortmund zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts Dortmund Vorbehalten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Behinderungsgrad der Klägerin. Die am 00.00.1950 geborene Klägerin ist italienische Staatsangehörige und hat in der Bundesrepublik als Gastarbeiterin gearbeitet. Sie lebt in Deutschland, spricht aber nicht die deutsche Sprache. Sie wendet sich in erster Linie gegen die Herabsetzung des bei ihr nach den Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes festgestellten Grades der Behinderung von 50 auf 30; sie ist darüber hinaus der Auffassung, dass ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als bisher, nämlich von 60 vorliegt.
Das Versorgungsamt E hatte mit Bescheid vom 29.07.2005 bei der Klägerin einen GdB von 50 wegen folgender Gesundheitsstörung festgestellt:
- Seelisches Leiden mit körperlichen Auswirkungen (Einzel-GdB von 30)
- LWS-Syndrom, Bandscheibenvorfall, HWS-Syndrom (Einzel-GdB von 20)
- Bronchitiden, schlafbezogene Atemregulationsstörung (Einzel-GdB von 20)
- Haarausfall (Einzel-GdB von 10)
- Knieoperation rechts, Senkspreizfüße (Einzel-GdB von 10)
- Fettstoffwechselstörung, Übergewicht (Einzel-GdB von 10)
In einem im August 2007 eingeleiteten Nachprüfungsverfahren holte das Versorgungsamt E einen Befundbericht von dem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie C vom 24.09.2007 ein (Tag der letzten Behandlung 20.02.2003; Bl. 82 der Verwaltungsakte) ferner einen Bericht des Psychologen K vom 08.11.2007 (Tag der letzen Behandlung 27.09.2007; Bl. 84 der Verwaltungsakte). Der ärztliche Dienst des Versorgungsamts hielt eine persönliche Begutachtung für erforderlich und veranlasste am 26.06.2008 eine ambulante Untersuchung durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie L in N. Diese begutachtete die Klägerin am 26.06.2008, einen Dolmetscher zog sie hierbei nicht hinzu.
L gab in ihrem Gutachten Folgendes zur Klägerin an:
"verheiratet, 4 Kinder; alle inzwischen selbst verheiratet, 11 Enkelkinder. Ehemann schon länger Rentner, seit Arbeitsunfall. Stehe morgens gegen 10:00 Uhr auf, trinke Kaffee, sehe Fern, gehe einkaufen oder zum Arzt, passe mal auf die Enkel auf. Habe ab und zu Langeweile, könne nicht arbeiten, seit drei Jahren Rentnerin aufgrund diverser Operationen."
Unter der Rubrik spezielle Anamnese heißt es weiter:
"Keine Lust, irgendetwas zu tun. Habe mal Schmerzen. Wenn Wetter besser, gehe sie in den Garten Blumen pflanzen. Dann sei auch die Laune besser. Bein tue weh. "Meine Bandscheibe." Habe Herzryhthmusstörungen. Dann mein Knie, dreimal operiert." Sei zuckerkrank. "Die Nerven sind zu ende. Ich bin hierher 20 km gefahren und muss jetzt wieder 20 km fahren. Ich habe Platzangst, z. B. beim Autobahnfahren."
Als psychischer Befund ist ausgeführt
"In allen Ebenen voll orientiert. Kognitiv klar strukturiert, kompetent. Sehr beschwerdeorientiert. Mit sehr klarer fester Stimme wurde formuliert. "Ich kann nichts mehr." Klagsam und leidend, dabei kein Hinweis auf tiefer gehende depressive Verstimmung. Ein spezifisches Beschwerdebild wurde nicht dargestellt. Es imponierte eine sehr diffuse Klagsamkeit mit Antriebslosigkeit, Demotiviation und eingeschränkter Belastbarkeit. ”
Nach Auswertung dieses Gutachtens durch den versorgungsärztlichen Dienst und einer schriftlichen Anhörung der Klägerin stellte der nunmehr zuständig gewordene Beklagte mit Bescheid vom 03.02.2009 einen GdB von 30 fest, weil - so der Beklagte - eine wesentliche Besserung hinsichtlich des seelischen Leidens der Klägerin mit körperlichen Auswirkungen eingetreten sei.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch mit dem Antrag auf Feststellung eines GdB von 60 wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 22.07.2009 mit der Begründung zurück, dass die Behinderung der Klägerin mit einem GdB von 30 hinreichend gewürdigt sei.
Wegen dieser Entscheidung hat die Klägerin am 12.08.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben. Zur Begründung führte sie mit Schriftsatz vom 04.12.2009 an, dass der Beklagte außer Acht gelassen habe, dass die bei ihr bestehenden Leiden nach wie vor vorlägen und nach ihrem Zusammenwirken einen Grad der Behinderung von mindestens 50 wie bisher, bzw. sogar einen von 60 rechtfertigen würden.
Mit Beweisanordnung vom 21.12.2009 beauftragte das SG den Arzt für Innere Medizin und Diplompsychologen R mit der Erstattung eines schriftlichen Gutachtens zu den bei der Klägerin seit dem 03.02.2009 bestehenden Gesundheitsstörungen und ihren Auswirkungen. Nach Hinweis der Klägerin, dass sie an Platzangst leide und nur eine Autofahrt von maximal einer viertel Stunde ertrage, so dass es ihr nicht möglich sei, von ihrem Wohnort in A mit dem Pkw nach B zur Begutachtung zu
reisen und daher um einen für sie mit der Bahn erreichbaren Begutachtungstermin ab
11:00 Uhr morgens bitte, beraumte das Sozialgericht für den 03.11.2010 - auf Antrag der Klägerin unter Ladung eines Dolmetschers für die italienische Sprache - Termin an.
Im Termin hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten folgendes zu Protokoll erklärt:
"Das erkennende Gericht hat eine Beweisanordnung erlassen und diese Beweisanordnung ist auch zurecht ergangen. Die Sache bedarf noch Ermittlungen."
Nach Zwischenberatung der Kammer und dem Hinweis, dass diese keine weitere Ermittlungstätigkeit für notwendig oder gar sachgerecht erachte, hat das SG die o.g. Beweisanordnung aufgehoben.
Der Bevollmächtigte der Klägerin hat sodann beantragt,
- die angegriffenden Bescheide aufzuheben
- bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 60 festzustellen
- die außergerichtlichen Kosten der Klägerin der Beklagten aufzuerlegen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 03.11.2010 als unbegründet abgewiesen und dazu ausgeführt:
"Die Klage ist zulässig aber nicht begründet, da die Klägerin durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert ist. Der beklagte Kreis hat den GdB zurecht wegen Eintritts einer wesentlichen Änderung im Sinne einer Besserung von 50 auf 30 herabgesetzt.
Nach § 48 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, wenn und soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisses, die bei seinem Erlass Vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist Eine Änderung kann sich insbesondere durch Veränderung des Gesundheitszustandes und daraus resultierenden abweichenden Funktionsbeeinträchtigungen ergeben. Die Änderung ist wesentlich, wenn sie eine Erhöhung oder eine Herabsetzung des GdBs um wenigsten 10 rechtfertigt. Im Gesundheitszustand der Klägerin ist im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 29.07.2005 zugrunde gelegen haben, insoweit eine Änderung im Sinne einer Besserung eingetreten, weil die Funktionsbeeinträchtigungen der seelischen Leiden sich gebessert haben. Das seelische Leiden ist nunmehr mit einem GdB von 20 ausreichend bewertet. Grundlage für den Bescheid aus 2005 war der Entlassungsbericht der Reha-Klinik S über die stationäre Behandlung in dem Zeitraum vom 17.07.2003 bis zum 07.08.2003. In dem vorgenannten Reha- Entlassungsbericht war als erste und damit führende Diagnose eine somatoforme Schmerzstörung ausgewiesen. Als familiäre Belastung war die Erkrankung des Ehemannes angeführt. Hinsichtlich des Aufnahmebefundes zur Psyche ist angeführt:
"Die Patientin wirkt sehr depressiv." Eine ambulante Psychotherapie wurde für notwendig erachtet.
Im Änderungsantrag vom 10.03.2005 hatte die Klägerin noch die Behandlung beim Psychologen K angeführt. Die letzte Behandlung fand dort jedoch am 27.09.2004 statt. Im Fragebogen für die Nachprüfung gab die Klägerin kein Behandlungsverhältnis bezüglich Depressionen an (Bl. 72 Verwaltungsakte) dafür jedoch ein ständiges Behandlungsverhältnis zu Dr. U in D. Das von der Klägerin im Widerspruchsverfahren am 09.12.2008 Blatt 97 angeführte Behandlungsverhältnis zu Dr. F ist nicht geeignet, die Feststellung der Fachärztin für Neurologie und Psychotherapie L in Zweifel zu ziehen. In dem von den Dres. F eingeholten Befundbericht vom 02.01.2009 belegt gerade, dass 2007 kein psychischer Befund bzw. keine Behandlung wegen Depressionen stattgefunden hat. Erstmals am 16.05.2008 wird als Diagnose depressiv verstimmt angeführt. Die Behandlungsfrequenz weist ausweislich des oben bezeichneten Befundberichtes (Blatt 98 Verwaltungsakte) einen dreimonatigen Rhythmus aus. Die Behandlungsfrequenz als auch der ausgewiesene psychische Befund belegen die Besserung des seelischen Leidens im Verhältnis zu den Ausführungen des ehemals behandelnden Psychologen K (Blatt 84 Verwaltungsakte). Das seelische Leiden ist mit einem GdB von 20 ausreichend bewertet. Die Klägerin verfügt über einen strukturierten Tagesablauf, ein harmonisches Ehe- und Familienleben und ist auch in ihren sozialen Kontakten insbesondere zu den Enkelkindern nicht eingeschränkt.
Das Wirbelsäulensyndrom ist ebenfalls mit einem GdB von 20 entsprechend mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt und geringen funtionellen Auswirkungen in den übrigen Wirbelsäulenabschnitten gemäß den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen Teil B Ziff. 19.9 ausreichend bewertet. Ein höherer GdB lässt sich aufgrund der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen in den mitgeteilten klinischen Befunden aus den Befundberichten und der ambulanten Untersuchung bei Frau L sowie aus den Aktivitäten der Klägerin (Haushalt, Gartenarbeit, Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr) nicht herleiten. Das Schlafapnoe-Syndrom mit Notwendigkeit einer kontinuierlichen nasalen Überdruckbeatmung ist nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen Teil B Ziff. 8.7 ebenfalls zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet. Ergänzend insoweit wird auf den Befundbericht des behandelnden Facharztes für Lungen- und Bronchialheilkunde von Dr. U (Bl. 76 Verwaltungsakte) verwiesen. Die weiteren internistischen Erkrankungen sind im Hinblick auf die in den Befundberichten beschriebenen Funktionseinschränkungen bzw. Behandlungsumfang mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 ausreichend bewertet Zu dieser Auffassung gelangte das Gericht in Auswertung des gesamten Akteninhaltes insbesondere der Versorgungsärztlichen Stellungnahmen und des Gutachtens von Frau L vom 24.04.2008.
Die Gesamtheit der Beeinträchtigung rechtfertigt nach Auffassung des Gerichtes keinen höheren Gesamt-GdB als 30. Die Bildung des Gesamt-GdB bemisst sich nach Teil A Ziff. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB dürfen die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nach Ziff. 3 a nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Für die Bildung des Gesamt-GdB ist insbesondere von Bedeutung, ob einzelne Funktionsbeeinträchtigungen voneinander unabhängig sind und damit verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, sich überschneiden, sich aufeinander nachteilig auswirken oder sich die Funktionsbeeinträchtigung eines Leidens durch das hinzutreten eines anderen Leidens nicht verstärkt (Ziff.3 d aa, bb, cc und dd). Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hält die Kammer einen Gesamt-GdB von 30 für angemessen und ausreichend. Führendes Leiden ist die seelische Erkrankung mit einem GdB von 20 daneben besteht eine Funktionsstörung der Wirbelsäule mit einem GdB von 20 und das Schla fapnoe mit einem GdB von 20. Die Kammer hielt den GdB von 20 für die Wirbelsäule für eher großzügig. Aus diesem Grund war es nicht angezeigt, den bereits festgestellten GdB von 30 auf 40 zu erhöhen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der weiteren Beeinträchtigungen mit einem GdB von jeweils 10."
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin, die ihr erstinstanzliches
Begehren unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens im vollen Umfang aufrecht hält.
Sie beantragt,
- das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Dortmund aufzuheben,
- die angegriffenen Bescheide des Beklagten und der Widerspruchsbehörde aufzuheben,
- den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 60 (in Worten: sechzig) festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
Berufungszurückweisung.
Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil.
Beide Beteiligten haben unter Verzicht auf die Ladungsfrist einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zugestimmt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die bezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Die zulässige Berufung, über die der Berichterstatter gemäß §§ 155 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im Einverständnis der Beteiligten als Einzelricher entscheiden konnte, ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel i.S.d. Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Frehse in: Jansen, SGG, 2. Aufl. 2005, § 159 Rn. 6 m.w.N.). Die angefochtene Entscheidung des SG beruht hier auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn der erkennende Senat konnte ohne die Erhebung weiterer Erkenntnisse in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen, (hierzu unter II).
I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG, ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG siehe Urteile des Landessozialgericht (LSG) NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008 - L 2 KN 165/08 -). Hier liegen mehrere solcher wesentlicher Entscheidungsmängel vor: Zum einen hat das SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gem. §§ 103 und 106 SGG nicht genügt (hierzu unter 1.). Ferner hat SG das Beweisantragsrecht der Klägerin im Sinne des § 118 SGG verletzt. Gleichzeitig hat das SG damit gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gem. Art. 20 Grundgesetz (GG) und Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen (hierzu unter 2.)
Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil das SG sich, ausgehend von seiner zutreffenden Rechtsauffassung, dass es zur Aufhebung des ursprünglichen Bescheides gemäß § 48 SGB X der Feststellung einer wesentlichen Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin bedarf, zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Das Gericht ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Hiernach hat das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren die Amtsermittlung in eigener Verantwortung durchzuführen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen (vgl. Kolmetz in: Jansen, SGG, § 103 Rn. 3 ff. m.w.N.).
Das SG hätte angesichts der in Frage stehenden psychischen Erkrankung der Klägerin und der zwischen den Beteiligten streitigen Veränderung dieser Erkrankung zwingend ein Sachverständigengutachten auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet einholen müssen. Dies ist ausweislich der Gerichtsakten auch zunächst beabsichtigt gewesen. Die Aufhebung des ursprünglichen Beweisbeschlusses des Kammervorsitzenden durch die Kammer im Verhandlungstermin erfolgte zu Unrecht. Denn auch das von der Kammer zur Begründung ihrer Auffassung herangezogene Gutachten der von der Beklagten als Gutachterin gehörten Neurologin L ist unzureichend. Hier fehlte nämlich eine zuverlässige Übersetzung der Fragen und Antworten aus der italienischen Sprache. Ohne sprachlich sicherere Kommunikation ist insbesondere ein psychiatrisches Gutachten zu einer Gemütskrankheit (Depression) schlechthin unmöglich. Niemand kann sonst sicher sagen, ob die erhobene Krankengeschichte (Anamnese) und der festgestellte Befund (Diagnose) auf sprachlichen Brüchen oder Übersetzungsfehlern beruhen. Der hierüber urteilenden Kammer des SG Dortmund war ausweislich des zum Termin hinzugezogenen Dolmetschers auch bewusst, dass sich die Klägerin nicht hinreichend in Deutscher Sprache verständigen kann. Damit stand der Kammer der mangelnden Beweiswert des Gutachtens von Frau L vor Augen, so dass sie es nicht zur Grundlage ihrer Entscheidung machen durfte.
- Gleichzeitig verletzt dieser Aufklärungsmangel das Recht der Klägerin auf ein faires Verfahren, weil jedermann, der die Verhandlungssprache eines Gerichts nicht spricht, nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention sie in die Lage versetzt sein muss, sich mit der Hilfe eines unentgeltlich zu stellenden Dolmetschers gegenüber dem Gericht und den übrigen Verfahrensbeteiligten zu äußern(ständige Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, seit dem Urteil vom 23.10.1978 - juris ; Urteil vom 21.02.1984 - 8544/79 -). Das gilt auch für die Beweisaufnahme gemäß § 116, 118 SGG.
Des Weiterem hat die Kammer damit das Beweisantragsrecht der Klägerin gemäß §§ 118, 103 SGG iVm §§ 358 ff, 402 ff der Zivilprozessordnung. Danach nämlich hätte der von der Klägerin ausweislich des Terminprotokolls aufrecht erhaltene Beweisantrag auf Aufrechterhaltung des von der Kammervorsitzenden zunächst erlassenen Beweisbeschlusses nur abgewiesen und von dem damit beantragten Sachverständigengutachten abgesehen werden können, wenn dieses Beweismittel entweder per se ungeeignet bzw. unerreichbar wäre - was schon angesichts des ursprünglichen Beweisbeschlusses der Kammervorsitzenden ersichtlich nicht der Fall ist - oder aber wenn die Kammer die in das Wissen des Sachverständigen gestellten Tatsachen (hier: der von - der Klägerin angenommene gleichbleibende Gesundheitszustand) als wahr unterstellt werden konnte, ohne dass dies Einfluss auf die Entscheidung der Kammer haben konnte. Auch letzteres ist angesichts des von der Kammer - zu Recht - bzgl. der Voraussetzungen des § 48 SGB X und der danach festzustellenden wesentlichen Änderung in den (Gesunheits-)Verhältnissen ersichtlich nicht der Fall. Das Übergehen des klägerischen Beweisantrags stellt damit einen Fall der unzulässigen vorweggenommenen Beweiswürdigung dar und bedeutet einen (weiteren) erheblichen Verfahrensfehler der im Termin entscheidenden Kammer.
- Die aufgezeigten Verfahrensmangel sind auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das SG bei ordnungsgemäßer Beweisaufnahme und -Würdigung eine andere Entscheidung getroffen hätte. Das erkennende Gricht macht von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer baldigen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust andererseits im entschiedenen Sinne Gebrauch. Es überwiegen vorliegend die Schutzinteressen der (im Termin ausdrücklich auf die Möglichkeit der Zurückverweisung hingewiesenen) Beteiligten an einem ordnungsgemäßen Verfahren.
Das erkennende Gericht könnte daher gegenwärtig nicht selbst ohne weitere Beweiserhebung in Form von (zumindest einem) weiteren Sachverständigengutachten abschließend über den geltend gemachten Anspruch entscheiden. Hierbei handelt es sich um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG als ermessensgerecht gebieten (so auch LSG NRW im Urteil L 8 R 264/07 a.a.O.). Anderenfalls bestünde nicht zuletzt auch die Gefahr, dass die Sozialgerichte zu schlichten Durchlaufstationen degradiert werden. Es wurde ausgeblendet, dass § 159 SGG ein wesentliches Instrument der verfahrensmäßigen Qualitätssicherung ist. In der Rechtsprechung ist mit guten Gründen anerkannt, dass der Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung im Interesse der Rechtssuchenden gewissen Minimalanforderungen genügen muss (hierzu z.B. Bundesverwaltungsgericht <BVerwG>, Urteil vom 28.11.2002 - 2 C 25/01 Bundesfinanzhof <BFH>, Urteile vom 01.02.2001 - III R 11/98 - und 07.11.2000 - VII R 24/00 Bundessozialgerichrt <BSG>, Urteil vom 15.11.1988 - 4/11a RA 20/87 BGH, Urteil vom 21.12.1962 - I B 27/62 -; LSG NRW, Urteile vom 23.01.2002 - L 10 SB 150/01-, 05.09.2001 -L10SB 70/01 -, 20.02.2002 - L 10 V 41/01 - und 14.05.1998 - L 7 SB 146/97 -). Wird dem - wie hier - nicht Rechnung getragen und sprechen keine sonstigen besonderen Gründe der Verfahrensgerechtigkeit dagegen, ist mithin eine Zurückverweisung nach § 159 SGG geboten.
Die Kostenentscheidung bleibt dem SG Vorbehalten.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).