L 15 KR 221/22 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
15
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 29 KR 3031/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 15 KR 221/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Staatskasse gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 02.02.2022 wird zurückgewiesen.

Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe:

Die wegen der begehrten Herabsetzung der Vergütung um 1624,78 Euro auf 388,70 Euro gemäß § 4 Abs. 3 JVEG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Staatskasse, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat und über die der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache in der Besetzung durch drei Berufsrichter ohne ehrenamtliche Richter entscheidet (§ 4 Abs. 7 Satz 2 und 3 JVEG), ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die dem Sachverständigen und Beschwerdegegner für die Erstattung seines Gutachtens vom 30.09.2021 zustehende Vergütung zu Recht entsprechend der Rechnung vom 30.09.2021 auf 2013,48 Euro festgesetzt.

Nach Maßgabe von §§ 8, 9 Abs. 1 und 12 Abs. 1 Nr. 3 und 4 JVEG in der nach Maßgabe von § 24 Satz 1 JVEG wegen der im April 2021 erfolgten Beauftragung ab dem 01.01.2021 geltenden Fassung steht dem Beschwerdegegner die von ihm geltend gemachte Vergütung in Höhe von 2013,48 Euro zu. Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung den in jeder Hinsicht zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf sie Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Entgegen der Auffassung der beschwerdeführenden Staatskasse ist die Vergütung nicht nach § 8a Abs. 3 JVEG zu kürzen, weil der Beschwerdegegner nicht darauf hingewiesen hat, dass sein (voraussichtlicher) Vergütungsanspruch die Klageforderung (777,39 Euro zzgl. 2 Prozentpunkten Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 06.10.2016) erheblich übersteigt.

Steht die geltend gemachte Vergütung erheblich außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstands und hat der Berechtigte nicht rechtzeitig nach § 407a Abs. 4 Satz 2 ZPO auf diesen Umstand hingewiesen, bestimmt nach § 8a Abs. 3 JVEG das Gericht nach Anhörung der Beteiligten nach billigem Ermessen eine Vergütung, die in einem angemessenen Verhältnis zum Wert des Streitgegenstands steht. Nach § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt ZPO hat der Sachverständige, wenn voraussichtlich Kosten erwachsen, die erkennbar außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stehen, rechtzeitig hierauf hinzuweisen.

Die Voraussetzungen von § 8a Abs. 3 JVEG liegen nicht vor, weil der Beschwerdegegner nicht gemäß § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO verpflichtet war mitzuteilen, dass durch seine Beauftragung voraussichtlich Kosten anfallen werden, die außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stehen.

Es ist bereits zweifelhaft, ob § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt ZPO, auf den § 8a Abs. 3 JVEG Bezug nimmt (in Bezug auf § 407a Abs. 4 Satz 2 2. Alt. ZPO ist § 8a Abs. 4 JVEG einschlägig), im sozialgerichtlichen Verfahren überhaupt Anwendung findet. § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG verweist zwar auch auf § 407a ZPO. Diese Verweisung steht aber unter dem Vorbehalt, dass „dieses Gesetz“, d. h. das SGG, nichts anderes bestimmt. Wegen des im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 103 SGG geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes sind Vorschriften der ZPO, die mit dem Verhandlungs- oder Beibringungsgrundsatz zusammenhängen, nicht anwendbar (vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl. 2020, § 103 Rn. 1). § 407a Abs. 4 Satz 2 ZPO ist erkennbar Ausfluss des Beibringungsgrundsatzes, da die Beteiligten im Zivilprozess die Beweisführung des Gerichts durch Beweisanträge steuern müssen und können und dementsprechend auch auf eine Beweisaufnahme verzichten können, wenn die Kosten der Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stehen. Im sozialgerichtlichen Verfahren entscheidet jedoch das Gericht darüber, ob und in welchem Umfang es eine Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens durchgeführt, ohne dabei an Anträge der Beteiligten gebunden zu sein (§ 103 Satz 2 SGG). In nach Maßgabe von § 183 SGG gerichtskostenfreien Verfahren besteht zudem kein Anlass, die Beteiligten vor den unverhältnismäßigen Kosten einer von Amts wegen gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG angeordneten Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten zu bewahren, da die Kosten dieser Ermittlungen von Amts wegen ohnehin der Staatskasse zur Last fallen. In Bezug auf ein von Amts wegen eingeholtes Sachverständigengutachten in Verfahren nach § 183 SGG ist § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO deshalb nicht entsprechend anwendbar (so auch zutreffend Bayerisches LSG, Beschl. v. 17.12.2013 - L 15 SF 275/13 -, juris Rn. 96). Ob für ein nach § 109 SGG eingeholtes Sachverständigengutachten etwas anderes gilt, kann hier dahinstehen, zumal dieser Frage im Hinblick auf den bei Beweisaufnahmen nach § 109 SGG regelmäßig angeforderten Kostenvorschuss und die Regelung des § 8a Abs. 4 JVEG keine praktische Relevanz zukommen dürfte.

Da § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO gerade bezweckt, die Beteiligten vor unverhältnismäßigen Kosten zu schützen bzw. jedenfalls zu warnen und es ihnen zu ermöglichen, von der Beweisaufnahme abzusehen und sich gütlich zu einigen (vgl. BT-Drucks. 11/3621, S. 40), könnte man die Vorschrift in den nach Maßgabe von § 197a SGG gerichtskostenpflichtigen Verfahren demgegenüber für anwendbar halten. Denn die Vergütung des Sachverständigen nach dem JVEG gehört nach Ziffer 9005 der Anlage 1 zum GKG zu den Gerichtskosten, die nach Maßgabe von §§ 22 Abs. 1 Satz 1, 29 Nr. 1 GKG von den Beteiligten zu tragen sind, namentlich von dem Beteiligten, der das Verfahren verliert (§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO). Die Gefahr, Gerichtskosten tragen zu müssen, die den Wert des Streitgegenstandes erheblich übersteigen, könnte nach einem entsprechenden Hinweis des Sachverständigen die Bereitschaft der Beteiligten, sich zu einigen bzw. das Verfahren ohne Beweisaufnahme zu erledigen, fördern (diesen Gesichtspunkt hervorhebend, die Frage der Anwendbarkeit von § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO aber offen lassend Thüringer LSG, Beschl. v. 08.11.2018 – L 1 SF 145/18 B –, juris Rn. 15). Allerdings dürfte insoweit eher die Fürsorgepflicht des Gerichts gemäß § 106 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 7 SGG angesprochen sein. Die aus § 106 Abs. 1 SGG folgenden Pflichten kann das Sozialgericht nicht einem Sachverständigen übertragen.

Letztlich kann die Frage, ob § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO in nach Maßgabe von § 197a SGG gerichtskostenpflichtigen Verfahren überhaupt Anwendung findet, hier offenbleiben. Denn, selbst wenn die Vorschrift grundsätzlich anwendbar wäre, kommt sie in Fällen wie in dem beim Sozialgericht anhängig gewesenen Hauptsacheverfahren nicht zur Anwendung, weil ihr Zweck nicht einschlägig und sie deshalb teleologisch zu reduzieren ist.

Wie bereits ausgeführt, kann die Anwendung der Hinweispflicht des Sachverständigen gemäß § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO in gerichtskostenpflichtigen sozialgerichtlichen Verfahren nur dem Zweck dienen, die Beteiligten vor im Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes unverhältnismäßig hohen Gerichtskosten infolge der Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens dadurch zu bewahren, dass sie sich infolge des Hinweises zu einer gütlichen Einigung durchringen. Wenn in einem gerichtskostenpflichtigen sozialgerichtlichen Verfahren sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite professionelle oder sachkundig vertretene Beteiligte agieren, die mit den Gepflogenheiten eines sozialgerichtlichen Verfahrens, namentlich der häufig erfolgenden Beweisaufnahme durch Einholung medizinischer Sachverständigengutachten, vertraut sind und insbesondere wissen, welche Kosten für ein medizinisches Sachverständigengutachten gewöhnlich anfallen, bedarf es keines gesonderten Hinweises darauf, dass die Kosten der Beweisaufnahme außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stehen. Vielmehr wissen die Beteiligten spätestens ab der Ankündigung des Sozialgerichts, den Sachverhalt durch ein medizinisches Sachverständigengutachten aufklären zu wollen, spätestens aber ab Zugang der Beweisanordnung, welche Kosten auf sie zukommen können. Wenn sie sich dennoch nicht gütlich einigen, muss davon ausgegangen werden, dass die Beteiligten die Entstehung von Kosten, die außer Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes stehen, bewusst in Kauf nehmen. Die Warnfunktion des § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO geht deshalb in diesen Fällen ins Leere, wenn und soweit sich die vom Sachverständigen zu beanspruchende Vergütung im üblichen Rahmen bewegt, mit dem die Beteiligten nach ihren Erfahrungen mit sozialgerichtlichen Verfahren rechnen müssen. Würde man auch in diesen Fällen eine Hinweispflicht des Sachverständigen annehmen, würde diese zu einer reinen Formalität degradiert, die letztlich nur das Ziel hätte, über die Anwendung von § 8a Abs. 3 JVEG den Vergütungsanspruch des Sachverständigen kürzen zu können, wenn er die vollkommen überflüssige Hinweispflicht nicht erfüllt. § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO hat aber keinen Sanktionscharakter und dient nicht dazu, professionellen oder sachkundig vertretenen Beteiligten ein bewusst eingegangenes Kostenrisiko zu Lasten eines vom Gericht herangezogenen Sachverständigen abzunehmen oder abzumildern. Deshalb ist bei professionellen oder sachkundig vertretenen Beteiligten auf Kläger- und Beklagtenseite in gerichtskostenpflichtigen sozialgerichtlichen Verfahren § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO, seine grundsätzliche Anwendbarkeit unterstellt, teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass ein Sachverständiger nur dann auf im Verhältnis zum Wert des Streitgegenstandes unverhältnismäßige Kosten hinweisen muss, wenn und soweit er absehen kann, dass ein Vergütungsanspruch entsteht, der weit über die in entsprechenden sozialgerichtlichen Verfahren übliche Vergütung für medizinische Sachverständigengutachten hinausgeht.

Diese teleologische Reduktion greift insbesondere in Streitverfahren über die Abrechnung von Krankenhausleistungen ein. In diesen Verfahren steht auf der einen Seite eine Krankenkasse, d. h. ein rechtskundiger Sozialleistungsträger, und auf der anderen Seite ein Krankenhausträger, der selbst fachkundig und zudem in aller Regel durch Rechtsanwälte vertreten ist, die auf Krankenhausabrechnungsstreitigkeiten spezialisiert sind. Teilweise lassen sich sogar Krankenkassen durch entsprechende Rechtsanwälte vertreten. Diese Beteiligten verfügen über Erfahrungen aus zahlreichen gerichtskostenpflichtigen sozialgerichtlichen Verfahren. Sie wissen daher, dass in den entsprechenden Verfahren häufig auch medizinische Sachverständigengutachten über abrechnungsrelevante medizinische Fragen eingeholt werden, und kennen den üblichen Vergütungsrahmen der Sachverständigen. Wenn solche Beteiligte auch über vergleichsweise geringe Beträge entsprechende Streitverfahren führen, gehen sie die mit den entsprechenden Verfahren verbundenen Kostenrisiken bewusst ein, sei es, weil sie eine Entscheidung für eine Vielzahl vergleichbarer Abrechnungsfälle erstreben, sei es, weil es ihnen ungeachtet der wirtschaftlichen Relevanz und Sinnhaftigkeit der Klage um die Klärung der Richtigkeit der Abrechnung als solcher geht. Die Möglichkeit und die Sinnhaftigkeit einer gütlichen Einigung sind diesen Beteiligten selbstverständlich bekannt. Einigungsmöglichkeiten werden in Krankenhausabrechnungsstreitigkeiten regelmäßig schon im Vorfeld einer Klageerhebung ausgelotet. Die Erhebung einer Klage ist in diesen Fällen ein Zeichen dafür, dass die Beteiligten keine Möglichkeit einer gütlichen Einigung sehen. Der Zweck der Hinweispflicht aus § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO kann deshalb in Krankenhausabrechnungsstreitigkeiten nicht erfüllt werden, solange sich der Vergütungsanspruch des Sachverständigen im üblichen Rahmen bewegt (im Ergebnis ebenso, aber eher an der Norm des § 8a Abs. 3 JVEG ansetzend Thüringer LSG, Beschl. v. 08.11.2018 – L 1 SF 145/18 B –, juris Rn. 17 ff.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen musste der Beschwerdegegner nicht gemäß § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO darauf hinweisen, dass sein Vergütungsanspruch die Klageforderung und damit den Wert des Streitgegenstandes voraussichtlich erheblich übersteigen wird. Der Vergütungsanspruch des Beschwerdegegners bewegt sich vielmehr im Rahmen der üblichen Vergütung für medizinische Sachverständigengutachten im sozialgerichtlichen Verfahren im Allgemeinen und in Krankenhaus Abrechnungsstreitigkeiten im Besonderen. Mit einer solchen Vergütung mussten die Beteiligten rechnen. Dies gilt umso mehr, als die Beteiligten, worauf das Sozialgericht zutreffend hingewiesen hat, zahlreiche vergleichbare Streitverfahren, in denen ebenfalls entsprechende Sachverständigengutachten eingeholt wurden, geführt haben. Die Warnfunktion der Hinweispflicht nach § 407a Abs. 4 Satz 2 1. Alt. ZPO lief deshalb von vornherein leer, sodass eine Vergütungskürzung nach § 8a Abs. 3 JVEG ausscheidet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 4 Abs. 8 JVEG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG, § 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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