L 13 VG 6/22 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 42 VG 28/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 6/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.12.2021 aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen einen Aussetzungsbeschluss.

Der am 00.00.1954 geborene Kläger beantragte am 15.02.2016 die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen Misshandlungen während seiner Aufenthalte im Kinderheim U in A von 1959 bis 1961 sowie im K Haus in F von 1967 bis 1976 und machte folgende Angaben: „Kinderheim –U, A. Folter, Misshandlungen, Freiheitberaubung. Schwester S, Schw. E. K-Haus, F. Versuchskaninchen – Medikamente (Hervorhebung durch den Senat), Folter, Misshandlungen- Freiheitberaubung, Schläge, Ausbeutung. ½ Jahr Schneiderei, 2 Jahre Schreinerei, 2 Jahre Schreinerei, 48 Std. Woche Taschengeld“. Zudem wies er darauf hin, dass in den 1960er Jahren auf Veranlassung der Pharmaindustrie Medikamententests an den Heimkindern vorgenommen worden sein sollen.

Der Beklagte zog die Schwerbehindertenakte und die Rentenakte des Klägers, die Bewohnerakte des K Haus, Unterlagen des U-Heims und ärztliche Berichte bei und holte eine Sachverhaltsschilderung des Klägers ein.

Mit Bescheid vom 30.11.2017 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Er habe keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). In der Begründung führte der Beklagte u.a. aus, der Kläger habe Versorgung für die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung beantragt, die er nach seinen Angaben „zwischen 1959 und 1961 bzw. 1967 und 1976“ erlitten habe. Der Kläger sei zwar Opfer von Gewalttaten im Sinne des § 1 OEG geworden, es ließen sich jedoch keine dadurch verursachten gesundheitlichen Schädigungen nachweisen.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren zog der Beklagte weitere ärztliche Unterlagen bei und hörte den Kläger persönlich an. U.a. wies dieser darauf hin, er habe vom Nervenarzt T während der Unterbringung im K Haus Medikamente verordnet bekommen und sei zwei Jahre mit Medikamenten „zugedröhnt“ worden. Sodann wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.08.2019 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger am 13.09.2019 Klage zum Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhoben. Nach Durchführung eines Termins zur Erörterung des Sachverhalts hat das SG den Beklagten um Mitteilung gebeten, ob die vom Kläger geschilderte missbräuchliche Medikamentenverabreichung im K Haus vom angefochtenen Bescheid umfasst sei und auf die Ausführungen des Klägers im Antragsverfahren hingewiesen.

Der Beklagte hat daraufhin mitgeteilt, dass nach Rücksprache mit dem Fachreferat die behaupteten Medikamentenmissbräuche nicht von den streitgegenständlichen Bescheiden erfasst seien. Das SG hat den Beteiligten sodann seine Absicht mitgeteilt, das Verfahren auszusetzen, da der angeführte Medikamentenmissbrauch nicht von den streitgegenständlichen Bescheiden umfasst sei.

Der Kläger hat um Fortgang des Verfahrens gebeten.

Mit Beschluss vom 20.12.2021 hat das SG das Verfahren bis zur Feststellung des Beklagten, ob die vom Kläger angeführten Medikamentenmissbräuche während seines Aufenthaltes im K Haus als Taten im Sinne des OEG anzuerkennen sind, ausgesetzt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger stütze sein Klagebegehren insbesondere auf Geschehnisse im K Haus in F in den 1960er Jahren, speziell auch auf an ihm durchgeführte Medikamententests. Der Beklagte habe im gerichtlichen Verfahren klargestellt, dass die vom Kläger behaupteten Medikamentenmissbräuche nicht von den streitgegenständlichen Bescheiden erfasst seien.

Gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 23.12.2021 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 24.01.2022, einem Montag, Beschwerde erhoben. Die Aussetzung sei nicht nachvollziehbar. Der Beklagte habe bereits Zeit für Ermittlungen hinsichtlich etwaiger anderer Missbrauchstatbestände gehabt.

Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.

Der Beklagte hat beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er halte das Aussetzen des Verfahrens für sachdienlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

 

II.

Die Beschwerde hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Die Beschwerde gegen den Aussetzungsbeschluss ist nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. § 172 Abs. 2 SGG greift nicht ein, da die Entscheidung des Gerichts über die Aussetzung des Verfahrens keine prozessleitende Verfügung im Sinne dieser Regelung darstellt (allg. Meinung, vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 114 Rn. 9; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a.a.O., § 172 Rn. 3 m.w.N.). Sie wurde zudem fristgerecht eingelegt (§ 173 SGG).

Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach der allein denkbaren Regelung des § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG sind vorliegend nicht erfüllt.

Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei (§ 114 Abs. 2 Satz 1 SGG). Das Rechtsverhältnis muss vorgreiflich sein. Vorgreiflichkeit i.S.d. § 114 Abs. 2 Satz 1 SGG ist nicht nur dann zu bejahen, wenn das angerufene Gericht gehindert ist, über eine Vorfrage selbst zu entscheiden. Ausreichend ist vielmehr auch ein tatsächlicher Einfluss durch das andere Verfahren (vgl. Keller, a.a.O, § 114 Rn. 2). Das (Nicht-)Bestehen eines Rechtsverhältnisses muss für den vorliegenden Rechtsstreit präjudizielle Bedeutung haben (Landessozialgericht <LSG> Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.01.2018 – L 20 SO 467/17 B, juris Rn. 12 m.w.N.). Ausreichend ist dabei auch, dass das Rechtsverhältnis durch eine Verwaltungsbehörde festzustellen ist (Keller, a.a.O., § 114 Rn. 3a).

Eine derartige Vorgreiflichkeit ist vorliegend nicht erkennbar. Zwar geht das SG zu Recht davon aus, dass zulässiger Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung allein diejenigen behaupteten Gewalttaten sein können, mit denen sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung auseinandergesetzt hat. Der Beklagte hat mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 30.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2019 jedoch bereits eine im Klageverfahren überprüfbare Entscheidung zu dem vom Kläger als Schädigungshandlung geltend gemachten Medikamentenmissbrauch während seines Aufenthaltes im K Haus von 1967 bis 1976 getroffen.

Für die Auslegung von Verwaltungsakten gelten die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Auslegung von Willenserklärungen entsprechend. Bei der Frage, welchen Inhalt ein Verwaltungsakt hat, ist insofern der objektive Sinngehalt der Erklärung, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles objektiv verstehen musste, maßgeblich. Maßgeblich sind hierbei wiederum die im Verfügungssatz enthaltene Erklärung sowie die weiteren Willenserklärungen innerhalb der Entscheidungsbegründung. Abzustellen ist grundsätzlich auf den Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der in Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge den wirklichen Willen der Behörde erkennen kann. Auszugehen ist hierbei vom erklärten Willen der Behörde. Unklarheiten gehen dabei zulasten der Behörde, denn allein sie hat es in der Hand, den Erklärungsgehalt unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. Luthe in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, Stand: 07.10.2021, § 31 Rn. 26 m.w.N.). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Beklagte einen umfassenden Bescheid über alle aufgrund des Sachverhaltes in Frage kommenden Ansprüche erteilt hat (B. Schmidt, a.a.O., § 77 Rn. 5b, c).

Ausweislich des Verfügungssatzes des streitgegenständlichen Bescheides vom 30.11.2017 hat der Beklagte den Antrag des Klägers (insgesamt) abgelehnt und einen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG verneint. Aus den Gründen des Bescheides ergibt sich dabei, dass Gegenstand der Entscheidung der Antrag auf Versorgung für die Folgen einer gesundheitlichen Schädigung „zwischen 1959 und 1961 bzw. 1967 und 1976“ war. Dem Bescheid lässt sich hingegen nicht entnehmen, dass (nur) eine Entscheidung über bestimmte im Antragsverfahren geltend gemachte Schädigungshandlungen ergehen sollte (vgl. zur Möglichkeit einer Aufteilung nach Tatkomplexen Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R, juris Rn. 20 m.w.N.). Angesichts des bereits bei Antragstellung geltend gemachten Medikamentenmissbrauchs war dieser ausgehend vom Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten zweifelsfrei Gegenstand der ablehnenden Entscheidung des Beklagten.

Soweit der Beklagte mit Schreiben vom 27.09.2021 ausgeführt hat, die behaupteten Medikamentenmissbräuche seien nicht von den streitgegenständlichen Bescheiden erfasst, weist der Senat darauf hin, dass gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB X der Verwaltungsakt mit dem Inhalt wirksam wird, mit dem er bekannt gegeben wird. Inhaltlich reicht die Bindungswirkung eines Verwaltungsakts so weit, wie seine jeweilige Regelung im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X reicht. Entscheidend ist der aus dem Verwaltungsakt erkennbar erklärte Wille der Behörde, nicht was sie äußern wollte (Roos/Blüggel in: Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 39 Rn. 10 m.w.N.). Die mit der Bekanntgabe eintretende Regelungswirkung eines Verwaltungsakts kann nicht durch nachträgliche Erklärung abgeändert werden.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass es dem Beklagten auch im laufenden Klageverfahren selbstverständlich möglich ist, weitere Ermittlungen durchzuführen und deren Ergebnis zum Inhalt seines Beteiligtenvorbringens zu machen. Sollte sich im Rahmen dieser Ermittlungen ein etwaiger Anspruch des Klägers ergeben, wäre ein entsprechender Bescheid nach § 96 SGG in das Klageverfahren einzubeziehen.

Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da das Beschwerdeverfahren gegen den Aussetzungsbeschluss kostenrechtlich als Zwischenstreit im noch anhängigen Rechtsstreit zu behandeln ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.06.2021 – L 1 KR 275/21 B, juris Rn. 19 m.w.N.; Hessisches LSG, Beschluss vom 18.11.2019 – L 6 AS 478/19 B, juris Rn. 14 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.01.2018 – L 20 SO 467/17 B, juris Rn. 16; Bayerisches LSG, Beschluss vom 10.01.2017 – L 13 R 517/16 B, juris Rn. 18; Keller, a.a.O., § 114 Rn. 9 m.w.N.; a.A. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.01.2022 – L 3 U 202/21 B, juris Rn. 22 ff.).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
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