Versicherungsbeiträge für private Rentenversicherungen sind nicht gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 3 lit b) SGB II vom Einkommen eines von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreiten Leistungsberechtigten abzusetzen, soweit sie den Betrag übersteigen, den der Leistungsberechtigte bei bestehender Versicherungspflicht zu zahlen hätte, der jeweils aktuelle Mindestbeitrag ist bei geringfügig Beschäftigten stets anzuerkennen.
GSW Sozialgericht Berlin |
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verkündet am
…, Justizbeschäftigte
als Urkundsbeamter/in der Geschäftsstelle |
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
1. …,
2. …,
- Kläger -
gegen
Jobcenter Berlin Pankow,
-Rechtsstelle-
Storkower Str. 133, 10407 Berlin,
- Beklagter -
hat die 123. Kammer des Sozialgerichts Berlin auf die mündliche Verhandlung am 8. Juni 2022 durch den Richter … sowie die ehrenamtlichen Richter Herrn … und Herrn … für Recht erkannt:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die Bewilligungsbescheide zweier streitgegenständlicher Bewilligungszeiträume in der Gestalt der jeweiligen Widerspruchsbescheide des Beklagten und begehren in der Sache die Anerkennung von Beiträgen für zwei private Rentenversicherungen.
Der Kläger zu 1 erzielte in den streitgegenständlichen Bewilligungszeiträumen ein Bruttoeinkommen in Höhe von 450,00 Euro aus einer geringfügigen Beschäftigung. Für die Monate Oktober bis Dezember 2019 führte seine Arbeitgeberin für ihn Rentenversicherungsbeiträge in Höhe von 16,20 Euro monatlich ab. Aufgrund eines Antrags des Klägers zu 1 auf Befreiung von der Rentenversicherungspflicht stellte die Arbeitgeberin die Beitragsabführung ab Januar 2020 ein.
Der Kläger zu 1 zahlte monatlich 159,78 Euro für eine private Rentenversicherung bei der H. Lebensversicherung AG mit einer Rentenanwartschaft ab dem 01.04.2041 in Höhe von 247,82 Euro sowie monatlich 62,40 Euro für eine private Rentenversicherung bei der P. Lebensversicherung AG mit einer Rentenanwartschaft ab dem 01.12.2040 in Höhe von 132,26 Euro. Beide Versicherungen sind kapitalbildend, sodass der Kläger zu 1 von erwirtschafteten Erträgen und Überschussbeteiligungen profitiert. Ferner handelte es sich bei beiden Versicherungen nicht um nach § 82 Einkommensteuergesetz (EStG) geförderte Altersvorsorgebeiträge (sog. Riester-Rente). Schließlich verfügt der Kläger zu 1 bei der Deutschen Rentenversicherung noch über eine Anwartschaft auf eine Altersrente ab dem 01.06.2042 in Höhe von monatlich 157,47 Euro.
Mit Bewilligungsbescheid vom 10.09.2019 in der Fassung mehrerer Änderungsbescheide bewilligte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 01.11.2019 bis 30.09.2020. Hierbei berücksichtigte der Beklagte die Beiträge für die privaten Rentenversicherungen des Klägers zu 1 nicht in voller Höhe.
Hiergegen erhoben die Kläger mit Schreiben vom 16.09.2019, 04.11.2019 und 08.12.2019 Widerspruch und führten zur Begründung u.a. aus, dass die Beiträge zweier privater Rentenversicherungen in voller Höhe als Absetzung vom Einkommen anzuerkennen wären. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2020 verwarf der Beklagte die Widersprüche der Kläger teilweise als unzulässig und wies diese im Übrigen als unbegründet zurück. Hinsichtlich der geltend gemachten Versicherungsbeiträge führte der Beklagte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass eine Berücksichtigung dem Grunde nach erst ab dem Zeitpunkt der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht in Betracht komme. Der Höhe nach seien zudem nur angemessene Beiträge anzuerkennen, wobei ein Vergleich zu den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung anzustellen und daher lediglich der Mindestbeitrag in Höhe von 83,70 Euro anzuerkennen sei. Darüberhinausgehende Versicherungsbeiträge seien unangemessen.
Mit Bewilligungsbescheid vom 11.06.2020 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 16.09.2020 sowie der endgültigen Festsetzung nebst Erstattung vom 11.02.2021 bewilligte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen für die Zeit vom 01.08.2020 bis 31.01.2021. Auch diesmal lehnte der Beklagte eine Anerkennung der geltend gemachten Versicherungsbeiträge über den Mindestbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung hinaus ab.
Hiergegen erhoben die Kläger mit Schreiben vom 08.07.2020 und 22.09.2020 Widerspruch mit im Wesentlichen gleicher Begründung wie zuvor. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.10.2020 verwarf der Beklagte die Widersprüche der Kläger teilweise als unzulässig und wies diese im Übrigen als unbegründet zurück.
Die Kläger sind der Ansicht, die streitgegenständlichen Versicherungsbeiträge seien gemäß § 11b Abs. 2 S. 2 SGB II nicht nur im Rahmen einer Pauschale von 100,00 Euro, sondern als angemessene Beiträge zur Altersvorsorge i.S.d. § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 lit. b) SGB II in voller Höhe vom Einkommen des Klägers zu 1 abzusetzen. Diese Beiträge seien zur Vermeidung einer Altersarmut angesichts der geringen gesetzlichen Rentenansprüche erforderlich. Soweit in der Literatur davon ausgegangen werde, dass nur ein mit der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbares Niveau angemessen sei, sei hiermit gerade nicht der geringe Mindestbeitrag, sondern vielmehr der deutlich höhere Regelbeitrag gemeint. Zudem vermindere der Kläger zu 1 durch seine private Vorsorge auch einen späteren Bezug von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Schließlich liege im Falle des Klägers auch ein Härtefall vor, da er unverschuldet in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sei.
Mit Beschluss vom 07.12.2021 hat das Gericht die Streitsachen S 123 AS 5165/20 und S 123 AS 7797/20 gemäß § 113 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die Kläger beantragen zuletzt,
- die Bescheide vom 11.09.2019, 23.10.2019 in der Fassung der Bescheide vom 20.11.2019, 23.11.2019, 21.04.2020, 07.05.2020 und 11.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 15.06.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Anrechnung eines Freibetrages in Höhe der tatsächlichen monatlichen Rentenversicherungsbeiträge für eine private Rentenversicherung zu bewilligen, und
- die Bescheide vom 11.06.2020 und 16.09.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.10.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Anrechnung eines Freibetrages in Höhe der tatsächlichen monatlichen Rentenversicherungsbeiträge für eine private Rentenversicherung zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist im Wesentlichen auf sein Vorbringen in den angefochtenen Widerspruchsbescheiden. Ergänzend ist er der Ansicht, dass die Höhe der künftigen gesetzlichen Rente bei der Frage der Angemessenheit der Beiträge zur privaten Altersvorsorge außer Betracht bleiben müsse. Dies ergebe sich auch aus einem Vergleich zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit geringen Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung, welche ebenfalls über die Absetzung ihrer Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung hinaus – mit Ausnahme der staatlich geförderten Riesterrente (§ 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II) – keine Möglichkeit zur Absetzung weiterer privater Altersvorsorgekosten haben. Zudem würde bei einer den Bedarf nicht deckenden Altersrente der Lebensunterhalt ergänzend nach den Vorschriften des SGB XII sichergestellt, sodass es einer quasi vorgelagerten Querfinanzierung der Verminderung eines künftigen Leistungsanspruchs nach dem SGB XII nicht bedürfe. Auf den Gesundheitszustand kommt es bei der Angemessenheitsprüfung schließlich nicht an.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten.
Entscheidungsgründe
I.
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
Die angegriffenen Bescheide beider streitgegenständlichen Bewilligungszeiträume sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten. Insbesondere waren die geltend gemachten Beiträge zweier privater Rentenversicherungen nicht vom Einkommen des Klägers zu 1 abzuziehen, soweit diese den Mindestbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung übersteigen.
Normativer Ausgangspunkt für die Berücksichtigung – nicht nach § 82 EStG geförderter – privater Altersvorsorgebeiträge ist § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 lit. b) SGB II, wonach Beiträge „zur Altersvorsorge von Personen, die von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sind“, vom Einkommen des Leistungsempfängers abzusetzen sind. Vorliegend war der Kläger zu 1 seit Januar 2020 auf eigenen Antrag von der Rentenversicherungspflicht befreit, sodass seine zwei privaten, nicht staatlich geförderten Rentenversicherungen dem Grunde nach angemessen sind.
Jedoch sind die geltend gemachten Altersvorsorgebeiträge nicht auch der Höhe nach angemessen, soweit sie den Mindestbeitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung übersteigen. Der Höhe nach angemessen i.S.d. § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 lit. b) SGB II sind allgemeiner Ansicht nach, solche Altersvorsorgebeiträge, die dem sozialen Schutzniveau der Alterssicherung im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechen (vgl. Geiger in Münder/Geier, SGB II, 7. Aufl., 2021, § 11b, Rn. 14; Schwabe in Gagel, SGB II / SGB III, 84. EL, 2021, Rn. 30; Schmidt in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl., 2021, § 11b, Rn. 20; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, 8. EL, 2022, § 11b, Rn. 162; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., 2022, § 11b, Rn. 26; ebenso Fachliche Weisungen BA zu §11-11b, Nr. 11.133). Hierbei ist entgegen der Ansicht des Klägers nicht auf den jeweils aktuellen Regelbeitrag abzustellen, sondern auf den Beitrag, den der Leistungsberechtigte bei bestehender Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen hätte, wobei aber einem geringfügig beschäftigten Leistungsberechtigten jedenfalls der jeweils aktuelle Mindestbeitrag anzuerkennen ist (zur Anerkennung des Mindestbeitrages als untere Grenze siehe auch Hengelhaupt in Hauck/Noftz, a.a.O., Rn. 162; Söhngen in Schlegel/Voelzke, a.a.O., Rn. 26). Denn nicht der Regelbeitrag (etwa für 2021: 611,94 Euro West / 579,39 Euro Ost) oder die gesetzliche Obergrenze des Versicherungsbeitrags (etwa für 2021: 1.320,60 Euro West / 1.246,20 Euro Ost), sondern der seit 2020 gültige Mindestbeitrag von 83,70 Euro bildet nach dem Willen des Gesetzgebers das ausreichende soziale Mindestschutzniveau der Alterssicherung für Erwerbstätige unterer Einkommensgruppen. Dieser Mindestbeitrag wäre zudem auch der Beitrag, den der Kläger zu 1 bei bestehender Versicherungspflicht für ein Einkommen von 450,00 Euro bei einem Beitragssatz von 18,6% entrichten würde, auch wenn der Arbeitgeberanteil bei geringfügiger Beschäftigung höher als bei Tätigkeiten mit höherem Einkommen liegt. Im Übrigen führt die einheitliche Anknüpfung an den Mindestbeitrag als untere Grenze und ergänzend die Heranziehung einer Vergleichsrechnung zur gesetzlichen Rentenversicherung auch zur Verwaltungsvereinfachung, ohne dass hierbei für den Leistungsberechtigten das gesetzgeberische Mindestschutzniveau unterschritten würde.
Soweit in der Literatur vertreten wird, dass über den fiktiven Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung hinaus im Einzelfall auch höhere Aufwendungen abzusetzen sein können, soweit dies der bisherigen Lebensführung entspricht und nur ein kurzzeitiger Leistungsbezug zu erwarten ist (Schwabe in Gagel, a.a.O.), bedarf dies im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Dass der Kläger zu 1 nur (noch) kurzfristig im Leistungsbezug stehen wird und eine Anpassung seiner Versicherungsbeiträge auf ein angemessenes, niedrigeres Niveau damit unbillig sein könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Ferner gilt die Unangemessenheit in Bezug auf die Höhe der geltend gemachten Versicherungsbeiträge im vorliegenden Fall insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass beide private Rentenversicherungen kapitalbildenden Charakter haben und ihre Absetzung damit im Grundsatz eigentlich ausgeschlossen wäre (BSG, Urt. v. 16.02.2012 – B 4 AS 89/11 R, juris, Rn. 28; vgl. ferner Schmidt in Eicher/Luik/Harich, a.a.O.; Söhngen in Schlegel/Voelzke, a.a.O., Rn. 25). Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Grundsicherung nicht zum Aufbau von Vermögen eingesetzt werden soll und auch sonst keine Absetzungen für die Bildung von Rücklagen möglich sind, sofern es sich nicht um eine staatlich geförderte Altersvorsorge handelt (BSG, a.a.O.; Eicher/Luik/Harich, a.a.O.). Die Absetzung der streitgegenständlichen Rentenversicherungen kommt daher schon dem Grunde nach allein aufgrund der freiwilligen Entscheidung des Klägers zu 1, sich von der Rentenversicherungspflicht zu befreien, und damit dem Eingreifen des § 11b Abs. 1 S. 1 NR. 3 lit. b) SGB II in Betracht. Würde der Kläger zu 1 jedoch nur einen Euro mehr verdienen, stünde ihm diese Befreiungsmöglichkeit nicht mehr offen. In diesem Falle wäre allein der entsprechende Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung einkommensmindernd zu berücksichtigen. Daher kann die Befreiung auch nicht dazu führen, dass dem Kläger nunmehr mittelbar ein kapitalgedeckter Vermögensaufbau durch Leistungen der Grundsicherung ermöglicht wird. Eine Ungleichbehandlung mit anderen Leistungsbeziehern oberhalb der 450,00 Euro-Grenze bzw. eine Privilegierung des Klägers zu 1 aufgrund seines freiwilligen Verzichts auf den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung wäre unbillig.
Schließlich ist zwar gerade bei Befreiung von der Versicherungspflicht eine gesteigerte Notwendigkeit für eine zusätzliche, private Altersvorsorge zur Verhinderung von Altersarmut anzuerkennen. Auch werden die vom Kläger derzeit erworbenen Rentenanwartschaften, inklusive der streitgegenständlichen privaten Rentenversicherungen, voraussichtlich nicht zur Vermeidung einer Altersarmut ausreichen. Insofern ist der klägerische Entschluss zur privaten Altersvorsorge durchaus begrüßenswert. Indes kann es nicht Aufgabe der Grundsicherung für Arbeitssuchende sein, Beiträge in einer Höhe zu finanzieren, die hinreichend wären, um eine spätere Hilfsbedürftigkeit auszuschließen (vgl. etwa zur Finanzierung von Lebensversicherungsbeiträgen BSG, Urt. v. 08.02.2007 – B 7a AL 2/06 R, juris, Rn. 23; ferner Hengelhaupt in Hauck/Noftz, a.a.O., Rn. 173). Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon aus welchen Gründen die spätere Hilfsbedürftigkeit voraussichtlich eintreten wird oder verstärkt werden könnte (etwa lange Erziehungs- oder Krankheitszeiten).
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Erfolg der Rechtsverfolgung.
Einer gesonderten Entscheidung über die Zulassung der Berufung bedurfte es – trotz nach Ansicht der Kammer bestehender grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache – nicht, da der monatliche Unterschiedsbetrag zwischen dem vom Beklagten anerkannten Mindestbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung und der begehrten Anerkennung der klägerischen Beiträge zur privaten Rentenversicherung für beide Bewilligungszeiträume jeweils die Wertgrenze von 750,00 Euro übersteigt (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG).