L 4 KR 95/22 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 19 KR 2552/21 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 95/22 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. ADHS bei Erwachsenen ist nicht generell oder regelhaft als schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V einzustufen.
2. Die Evidenz für eine Reduktion der ADHS-Kernsymptomatik durch Einsatz von Cannabinoiden ist derzeit bei weitgehend unklarem Nebenwirkungsprofil schwach.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 9. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.



Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt von seiner Krankenkasse im einstweiligen Rechtschutz die vorläufige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten als Arzneimittel zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Der 1972 geborene Antragsteller ist als Bezieher von Arbeitslosengeld II bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er leidet an ADHS sowie an depressiven Episoden. Am 4. August 2021 verordneten ihm die J wegen chronischer Schmerzen „THC privat“ in Form von Bediol 10 g und Bedrobinol 10 g für 10 Tage ab Ausstellungsdatum (Tagesmenge max. 4 × 0,25 g zur Inhalation/Applikation). Diese Verordnung reichte der Antragsteller am 6. August 2021 als „Musterrezept“ zusammen mit einem von den behandelnden Allgemeinmedizinern ausgefüllten Arztfragebogen zu Cannabinoiden bei der Antragsgegnerin ein. In dem Fragebogen gaben J unter dem 4. August 2021 an,
auf Empfehlung des Neurologen und Psychiaters solle dem Antragsteller entsprechend dem ausgestellten Rezept Cannabisblüten zur Behandlung von ADHS verordnet werden, um seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Alle Standardtherapien seien mit nur mäßigem Erfolg ausprobiert worden. Die Medikation mit Medikinet sei nach Nebenwirkungen wieder abgesetzt worden. Beim Antragsteller bestünden noch andere Erkrankungen, nämlich ein Restless-Legs-Syndrom sowie tachykarde Herzrhythmusstörungen. Literatur, aus der hervorgehe, dass durch die beabsichtigte Therapie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehe, sei nicht bekannt. Dem Arztfragebogen war ein Befundbericht des S vom 24. Juli 2021 (Diagnosen: mittelgradige depressive Episode, ADHS; Anamnese: sehr unruhig, hat sich schon sehr lange mit Cannabis in Selbsttherapie gegen die Unruhe behandelt; Therapie und Verlauf: Aus der berichtetem Anamnese seien keine Kontraindikationen gegen eine Therapie mit medizinischem Cannabis zu erkennen) sowie ein Befundbericht der B vom 16. Juni 2021 (Diagnose: schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden; es bestehe ein regelmäßiger Cannabiskonsum; alle Testergebnisse zeigten einen eindeutig positiven Befund für ADHS; Beginn einer medikamentösen Behandlung mit Medikinet adult) beigefügt.

Mit Bescheid vom 10. August 2021 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für das beantragte Arzneimittel Cannabisblüten ab. Die entsprechenden Fachgesellschaften hätten in ihrer Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ die Therapie mit Cannabinoiden nicht empfohlen. Zum aktuellen Zeitpunkt bestünden auch keine Hinweise darauf, dass Cannabinoide bei ADHS den Verlauf und die Ausprägung bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussten. Für Patienten, die eine Anamnese von Suchtmittelmissbrauch hätten, bestehe in den Fachinformationen cannabishaltiger Arzneimittel ein besonderer Warnhinweis, der vom behandelnden Arzt in seiner Therapieentscheidung zu bedenken sei.

Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein und stellte am 28. Oktober 2021 beim Sozialgericht (SG) Mannheim einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit welchem er die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die beantragte Therapie begehrte. Zur Begründung trug er vor, in seinem Fall werde mit der Cannabis-Therapie das Störungsbild ADHS mit zusätzlich starken Schlafstörungen behandelt. Aufgrund der Symptome starke innere Unruhe und Schlaflosigkeit handele es sich um ein schwerwiegendes Leiden, das erhebliche Auswirkungen auf seine Erwerbsbiografie sowie Lebensqualität habe. Die alternativen Medikamente Medikinet sowie Elvanse wirkten zwar erfolgreich gegen die ADHS Symptome, seien aber für ihn mit Kreislaufbeschwerden sowie weiteren gravierenden Nebenwirkungen verbunden und linderten auch nicht seine Schlafprobleme. Beide Medikamente dürften laut Beipackzettel bei Kreislaufproblemen nicht verordnet werden. Bei ihm bestehe eine erhebliche familiäre Vorbelastung durch Herzinfarkte der beiden Großväter sowie väterlicherseits. Seit der Antragstellung sei ihm das Medizinal-Cannabis auf Privatrezept verordnet worden. Dadurch habe die starke innere Unruhe und Schlaflosigkeit erfolgreich gelindert und die ADHS-Medikamente wieder abgesetzt werden können.
Verordnet würden inzwischen auch nur noch 20 g Cannabisblüten pro Monat. Die Antragsgegnerin habe bei ihrer Ablehnung den aktuellen Stand der Forschung nicht berücksichtigt. Die von ihr angeführte Leitlinie stamme aus dem Jahr 2018, während 2020 eine Studie („Cannabinoid and Terpenoid Doses are associated with Adult ADHD status of Medical Cannabis Patients"; Faculty of Biology, Technion - Israel Institute of Technology, Haifa, Israel) veröffentlich worden sei, die wissenschaftlich fundiert belege, dass durch die Gabe von Cannabis andere Medikamente zur ADHS-Behandlung oftmals nicht notwendig seien. Der Warnhinweis, auf den die Antragsgegnerin im Bescheid verwiesen habe, sei von J, der anerkannter Facharzt für Suchtmedizin sei, bereits berücksichtigt worden. Effektiver Rechtsschutz könne für ihn nur in einem Eilverfahren erreicht werden, da die gesetzliche Vorgabe des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) der Krankenkasse die Verweigerung der Kostenübernahme nur in begründeten Ausnahmefällen erlaube. Die Kosten für die Cannabistherapie beliefen sich auf 250 € pro Monat, was für ihn als Bezieher von Arbeitslosengeld II eine erhebliche Kostenbelastung darstelle.

Die Antragsgegnerin trat dem Antrag unter Vorlage des sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg (MD) vom 24. November 2021 entgegen. Darin führte K1-K2 nach Aktenlage aus, aus den Unterlagen zum Behandlungsverlauf könne nicht abgeleitet werden, dass es sich bei der ADHS des Antragstellers um eine schwerwiegende Erkrankung handle. Eine Erstvorstellung beim Psychiater zur Diagnosestellung und Therapieeinleitung sei danach erst im Juni 2021 erfolgt. Eine Beschwerdeschilderung liege nicht vor. Aus der medizinischen Literatur ergebe sich darüber hinaus keine Evidenz, dass Cannabinoide den Verlauf und die Ausgestaltung der ADHS bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussen könnten. Demgegenüber lägen auch Negativempfehlungen vor. Als allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapiealternativen könnten im Fall des Antragstellers auf weiter verfügbare leitliniengerechte psychopharmakologische sowie insbesondere psychotherapeutische Behandlungen verwiesen werden. Es liege zwar formal eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes vor, warum diese nicht zum Einsatz kommen könnten. Aus gutachterlicher Sicht sei die Begründung aber nicht nachvollziehbar, da keine Dokumentation von Therapie und Wirkung mit Dosisanpassung dargestellt werde, Medikamentennebenwirkungen nicht verifiziert worden seien und auch keine fachärztliche Reevaluation mit aktualisierter Symptomerhebung zur Klärung des Behandlungsbedarfs, auch im Hinblick auf Begleiterkrankungen erfolgt sei. Aus sozialmedizinischer Sicht seien bei dem Antragsteller die verfügbaren edukativen und soziotherapeutischen/psychotherapeutischen Optionen im Rahmen eines psychiatrischen multimodalen Gesamtkonzeptes umfassend zu nutzen. Die Etablierung einer Langzeit-Cannabistherapie bei als chronisch anzusehender Problematik, womöglich lebenslang, sei bei nicht absehbaren Folgeproblemen weder nach den in § 31 Abs. 6 SGB V genannten Voraussetzungen, noch nach den Expertenempfehlungen eine nachvollziehbare Therapieoption.

Mit Beschluss vom 9. Dezember 2021 lehnte das SG den Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Ein Anordnungsanspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten sei nicht glaubhaft gemacht.
Bei der gebotenen summarischen Prüfung könne nicht festgestellt werden, dass keine medikamentösen oder nichtmedikamentösen Therapiealternativen zur Behandlung der ADHS im Sinne von § 31 Abs. 6 Nr. 1a SGB V mehr zur Verfügung stünden. Aus dem Arztfragebogen der Praxis J ergäben sich keine Angaben zu bisherigen Behandlungen. Insbesondere sei nicht dokumentiert, wie lange alternative Behandlungen stattgefunden hätten oder welche konkreten Nebenwirkungen aufgetreten seien. Nach dem Bericht der B sei die Diagnose ADHS am 7. Mai 2021 erstmalig gestellt und eine Behandlung mit Medikinet adult begonnen worden. Bei der ersten Verschreibung von Medikinet habe bereits ein Cannabis-Konsum stattgefunden. S habe lediglich die Angaben des Klägers zur weiteren Behandlung mit Elvanse wiederholt. Die konkrete Behandlung, über welchen Zeitraum, in welcher Dosierung und alternative Therapien seien nicht dargelegt worden. Mit Medikinet adult stehe aber gerade eine alternative Therapie zur Verfügung. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Nr. 1b SGB V seien ebenfalls nicht erfüllt. Es fehle an der begründeten vertragsärztlichen Einschätzung des verordnenden J. Unabhängig von einer gewissen Einschätzungsprärogative/Therapiehoheit des behandelnden Vertragsarztes müsse die ärztliche Einschätzung nach dem Gesetzeswortlaut die zu erwartenden Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen darstellen. Hierzu müsse die Einschätzung den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht werde, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen könne. Sie müsse dabei in sich schlüssig und nachvollziehbar sein und nicht im Widerspruch zum Akteninhalt stehen. Diese Voraussetzungen erfülle keine der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen. Der Zeitraum zwischen der Diagnosestellung im Mai 2021 und dem Antrag bei der Antragsgegnerin im August 2021 erscheine auch zu kurz, um Behandlungsalternativen auszuprobieren. Weder S noch die B hätten eine Cannabis-Therapie empfohlen.

Gegen den ihm am 16. Dezember 2021 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 11. Januar 2022 beim SG Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2022 hat der Widerspruchsauschuss der Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers zurückgewiesen. Zur Begründung hat er sich im Wesentlichen auf das eingeholte Gutachten des MD gestützt. Danach bestünden bereits Zweifel daran, ob beim Antragsteller eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des Gesetzes vorliege. Jedenfalls sei nach Darstellung des Sachverständigen die Grunderkrankung gut alternativ therapierbar, weshalb kein Leistungsanspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabis bestehe. Am 25. März 2022 hat der Antragsteller hiergegen Klage beim SG erhoben (Az.
S 19 KR 612/22), zu deren Begründung er u.a. vorgetragen hat, er leide seit Kindheit unter ADHS und verwende seit 30 Jahren regelmäßig Cannabis zur Eigenbehandlung. Während der Zeit des Corona-Lockdowns habe ihm über einen langen Zeitraum Cannabis nicht zur Verfügung gestanden. Er habe daraufhin ausgeprägte ADHS-Symptome entwickelt, insbesondere eine ständige innere Unruhe, die es ihm nicht erlaube, einen klaren Gedanken zu fassen, eine Unfähigkeit, längere Zeit still zu sitzen, sowie eine ständige Müdigkeit aufgrund von Schlafstörungen. Er sei in dieser Zeit sehr leicht reizbar, ungeduldig und impulsiv gewesen. Als die Symptome unerträglich geworden seien, habe er schließlich ärztliche Hilfe gesucht. Es sei ADHS diagnostiziert und eine Behandlung mit dem Medikament Medikinet Adult begonnen worden. Dieses Medikament habe er über sechs Wochen in einer Dosierung von 2x10 mg/Tag eingenommen. Es habe zwar gegen die Symptome der ADHS geholfen. Die schwerwiegenden Schlafstörungen hätten aber weiter angehalten und die Medikation habe zu unerwünschten Nebenwirkungen, nämlich Kreislaufbeschwerden, Schwarz-vor-den-Augen-Werden, starken Kopfschmerzen, unruhigen Beinen, Prickeln an den Armen und einem trockenen Mund geführt. Da diese Nebenwirkungen unakzeptabel gewesen seien, sei ihm dann stattdessen das Medikament Elvanse Adult verordnet worden. Dieses Medikament habe er aber auch nicht vertragen und Nebenwirkungen in Form von Schwitzen, Stechen in der Brust, Kreislaufproblemen, sehr unruhigen Beinen und Engegefühlen im Brustkorb entwickelt. Er habe das Medikament nur an einem Tag verwendet und am nächsten Tag seinen Hausarzt konsultiert.

Im vorliegenden Verfahren hat der Antragsteller mit der Beschwerde gerügt, das Gutachten des MD sei mangelhaft. Denn die Antragsgegnerin habe dem MD im Zusammenhang mit der durchgeführten Begutachtung grundlegende Informationen vorenthalten. Insbesondere habe sie den MD nicht darüber informiert, dass er (der Antragsteller) bereits seit Sommer 2021 eine Verhaltenstherapie zur Behandlung der ADHS durchführe, und dem MD auch die von ihm eingereichte wissenschaftliche Studie nicht vorgelegt. Außerdem habe sie ihm (dem Antragsteller) die beantragte Akteinsicht in die Verwaltungsakten verweigert, das Gutachten des MD verspätet weitergeleitet und gegen datenschutzrechtliche Vorgaben verstoßen. In diesen Verfahrensmängeln liege ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK), insbesondere gegen seinen Anspruch auf prozessuale Waffengleichheit. Die Sache sei eilbedürftig. Er verfüge über kein Einkommen und beziehe Arbeitslosengeld II. Das Jobcenter kenne keine Unterstützung für Medikamente, welche vom Arzt verordnet, aber von der Krankenkasse nicht bezahlt würden. Gleichwohl bestehe ein Grundrechtsschutz für eine solche Versorgung.
Die Kosten von monatlich 250 € für die Cannabis-Therapie könnten auch nicht weiterhin von seiner Ehefrau aufgebracht werden, da sie ihr Einkommen aus Arbeit bereits beim Jobcenter für seinen Lebensunterhalt und denjenigen der Tochter einsetzen und zusätzlich ihre Eltern im Ausland unterstützen müsse.

Der Antragsteller beantragt – teilweise sinngemäß –,

den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 9. Dezember 2021 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig die Kosten für die beantragte Behandlung mit Medizinal-Cannabisblüten nach Maßgabe der ärztlichen Verordnungen vollständig zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig. Der Antragsteller habe weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er habe selbst eingeräumt, bereits seit 30 Jahren Cannabis zu konsumieren und den Konsum bislang selbst finanziert zu haben.
Eine Eilbedürftigkeit sei vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Bei langjährigem und damit chronischem Cannabiskonsum bestehe zudem das Risiko gesundheitlicher Probleme, sowohl psychischer als auch physischer Natur.

Der Senat hat dem Antragsteller im Beschwerdeverfahren Akteneinsicht in die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin gewährt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Instanzen sowie der Verwaltungsakten der Antragsgegnerin Bezug genommen.


II.

1. Die gemäß § 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist statthaft und zulässig. Sie ist insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Denn in der Hauptsache wäre die Berufung unabhängig vom Wert des Beschwerdegegenstandes zulässig, weil der Antragsteller zukunftsgerichtet ohne zeitliche Begrenzung die tägliche Versorgung mit Cannabisblüten als Arzneimittel begehrt und damit laufende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr geltend macht (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das SG hat den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt. Der zulässige Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtschutzes zu verpflichten, ihn nach Maßgabe ärztlicher Verordnungen vorläufig mit den cannabishaltigen
Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol zu versorgen, bleibt in der Sache ohne Erfolg, da nach dem Ergebnis des Eilverfahrens die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung nicht gegeben sind.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit – wie hier – kein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind darüber hinaus auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Im Streitfall kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht, da der Antragsteller nicht den bisherigen Zustand beibehalten, sondern mit seinem Antrag auf einstweiligen Rechtschutz die vorläufige Arzneimittelversorgung mit Cannabisblüten bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens und damit die einstweilige Einräumung einer neuen Rechtsposition erreichen will (vgl. Binder, in: Berchtold, Kommentar zum SGG, 6. Aufl. 2021, § 86b Rn. 32).

Der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Hierfür ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtschutzes verbundenen Belastungen – insbesondere auch im Hinblick auf die Grundrechte des Antragstellers – wiegen. Drohen dem Antragsteller ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, dürfen sich die Gerichte im Hinblick auf die Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) nicht mit einer lediglich summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage begnügen. In derartigen Fällen ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes wegen fehlender Erfolgsaussichten in der Hauptsache nur nach eingehender Prüfung des geltend gemachten Anspruchs zulässig und – sofern im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage
wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist – anhand einer umfassenden Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Kammerbeschluss vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 – juris, Rn. 3 und Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris, Rn. 25 f.; Senatsbeschluss vom 31. Juli 2019 – L 4 KR 635/19 ER-B – www.sozialgerichtsbarkeit.de). Allerdings ist eine gerichtliche Vollprüfung im Eilverfahren auch bei einem Streit um die Versorgung mit medizinischen Behandlungsleistungen – wie Arzneimitteln – nur ausnahmsweise verfassungsrechtlich geboten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Juni 2018 – a.a.O., Rn. 4; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. November 2018 – L 16 KR 504/18 B ER – juris, Rn. 14). Dem Anspruch des Antragstellers auf Gewährleistung effektiven Rechtschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG ist vielmehr regelmäßig genügt, wenn die Fachgerichte die Sach- und Rechtslage umso eingehender prüfen, je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist. Findet eine gemessen am Gewicht der geltend gemachten Grundrechtsverletzungen genügend intensive Durchdringung der Sach- und Rechtslage statt, reicht es aus, wenn das Gericht eine summarische Prüfung vornimmt, sofern es den Ausgang des Hauptsachverfahrens für weitgehend zuverlässig prognostizierbar hält (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Juni 2018 – a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. November 2018 – a.a.O.).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung vom SG zu Recht deshalb abgelehnt worden,
weil ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht ist. Der Senat weist die Beschwerde gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück. Nach dem bisherigen Ergebnis des Verfahrens ist hinreichend zuverlässig zu prognostizieren, dass derzeit ein Anspruch des Antragstellers auf Versorgung mit den cannabishaltigen Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol nicht besteht und deshalb die Klage in der Hauptsache voraussichtlich nicht erfolgreich sein wird.

Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers und sein Vortrag im Rahmen der zwischenzeitlich beim SG erhobenen Klage (Az. S 19 KR 612/22) führen zu keiner anderen Entscheidung:

Zwar hat der Antragsteller gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 SGB V grundsätzlich Anspruch auf eine Arzneimittelversorgung, die notwendig ist, um seine Krankheit ADHS zu heilen oder zumindest die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Es ist aber verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Gesetzliche Krankenversicherung die Leistungen, wie u. a. Arzneimittel, nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 BvR 347/98 – juris, Rn. 57). Die Antragsgegnerin schuldet deshalb nicht jede Arzneimittelversorgung, die nach eigener Einschätzung des Antragstellers oder des behandelnden Arztes positiv verläuft (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2014 – B 1 KR 11/13 R – Rn. 13; BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 1 KR 24/06 R – juris, Rn. 12). Vielmehr muss die betreffende Therapie auch rechtlich von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung umfasst sein. Dies ist bei der Arzneimitteltherapie mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten oder Präparaten mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon nur ausnahmsweise unter den strikten Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V der Fall.

Diese Voraussetzungen sind beim Antragsteller nicht erfüllt. Es ist bereits nicht festzustellen, dass beim Antragsteller eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V besteht. Der Antragsteller leidet an einer ADHS, einer mittelgradigen depressiven Episode, einem Restless-legs-Syndrom und tachykarden Herzrhythmusstörungen, wie der Senat den Angaben der J im Arztfragebogen vom 4. August 2021 sowie den Befundberichten des S vom 24. Juli 2021 und der B vom 16. Juni 2021 entnimmt. Die Therapie mit den cannabishaltigen Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol soll nach den Ausführungen im Arztfragebogen dabei allein der Behandlung der ADHS dienen. Für das Vorliegen chronischer Schmerzen, wie sie von den behandelnden Allgemeinmedizinern in der Arzneimittelverordnung vom 4. August 2021 als Grund für die privatärztliche Behandlung mit THC angegeben wurden, besteht beim Antragsteller nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen und seinem eigenen Vorbringen demgegenüber kein Anhaltspunkt.

ADHS ist nicht generell oder regelhaft als schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V einzustufen (vgl. bereits LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. November 2018 – a.a.O., Rn. 18 f.). Dem Ausnahmecharakter der Vorschrift folgend ist von einer schwerwiegenden Erkrankung nämlich nur dann auszugehen, wenn es sich – in Anlehnung an § 34 Abs. 1 Satz 2, § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V – um eine lebensbedrohliche oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handelt (vgl. Senatsurteil vom 26. Februar 2021 – L 4 KR 1701/20 – juris, Rn. 25 m.w.N.). Ob die (nicht lebensbedrohliche) Erkrankung ADHS zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität führt, hängt im Einzelfall vom Ausmaß und der Ausprägung der konkreten Symptome ab. Hiervon ist auch der MD in seinem sozialmedizinischen Gutachten vom 24. November 2021 ausgegangen. Zutreffend hat er insoweit weiter darauf hingewiesen, dass in den medizinischen Unterlagen zu den aus der ADHS resultierenden Krankheitsbeschwerden im Wesentlichen nur eigene anamnestische Angaben des Antragstellers, nicht aber ärztliche Befunde mitgeteilt werden. Ein relevantes Beschwerdeausmaß ist insoweit bislang nicht objektiviert. Abgesehen davon ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung selbst dann nicht zu erkennen, wenn der Beurteilung die Beschwerdeschilderung des Antragstellers gegenüber den behandelnden Ärzten zugrunde gelegt wird. Denn aus dem neurologischen Befundbericht von S ergibt sich nur, dass der Antragsteller sich als sehr unruhig empfindet, auch nachts eine innere Unruhe und ein Kribbeln in den Armen verspürt und aufgrund der Restless-legs-Symptomatik nicht durschlafen kann. Weitere (geklagte) Symptome haben auch J und die B nicht beschrieben. Die Diagnose der ADHS ist im Übrigen auch erst im Mai 2021 gestellt worden. Nach eigenem Vorbringen hat der Antragsteller, der seit Jahren unter Unruhezuständen leidet, deswegen erstmals zu diesem Zeitpunkt ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Dies lässt einen erheblichen Leidensdruck nicht erkennen. Eine dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigung der Lebensqualität, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt und deshalb als schwerwiegend zu qualifizieren wäre, ist für den Senat vor diesem Hintergrund nicht feststellbar.

Darüber hinaus hat der Senat nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen auch erhebliche Zweifel daran, dass für den Antragsteller keine andere Therapie zur Verfügung steht bzw. eine solche nicht zur Anwendung kommen kann. Der Antragsteller führt nach eigenen Angaben seit Sommer 2021 eine Psychotherapie durch. Wie der MD im Gutachten vom 24. November 2021 nachvollziehbar dargelegt hat, steht für die Therapie der ADHS daneben noch eine Vielzahl anderer nicht-medikamentöser sowie pharmakologischer Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung, wie insbesondere Patientenschulungen, soziotherapeutische und metakognitive Therapien, Fertigkeitstraining und Coaching, diätetische Interventionen, Rehabilitationsmaßnahmen und zugelassene Arzneimittel mit den Wirkstoffen Atomoxetin, Dexamfetamin und Guanfacin. Medizinisch indiziert ist entsprechend der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten S3 - Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ vom 2. Mai 2017 (https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_ 2018-06.pdf) danach beim Antragsteller die Behandlung der ADHS im Rahmen eines multimodalen psychiatrischen Gesamtkonzeptes. Allein mit der einmaligen Vorstellung beim Neurologen und Psychiater und der kurzzeitigen Einnahme von zwei Medikamenten hat der Antragsteller die (zusätzlich zur begonnenen Psychotherapie) bestehenden Behandlungsmöglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft. Der Senat ist mit dem SG auch der Auffassung
, dass der Zeitraum von knapp drei Monaten zwischen der Diagnosestellung am 7. Mai 2021 und dem Antrag bei der Antragsgegnerin am 6. August 2021 zu kurz gewesen ist, um die verschiedenen Behandlungsalternativen (ernstlich) auszuprobieren. Zur Überzeugung des Senats kann auch angesichts des langjährigen Cannabiskonsums des Antragsstellers nach einem solch kurzen Zeitraum noch in keiner Weise abgeschätzt werden, welchen Erfolg die Behandlungsformen bringen bzw. ob sie verträglich sind oder nicht. Es ist auch nicht nachgewiesen, dass die aufgezeigten Behandlungsalternativen beim Antragsteller allesamt ausscheiden oder der Antragsteller die Standardtherapien nicht verträgt. Zwar trägt der Antragsteller vor, nach der Einnahme der Arzneimittel Medikinet und Elvanse adult seien unerwünschte Begleiterscheinungen aufgetreten. Eine fachärztliche Reevaluation und Therapieanpassung oder -umstellung ist aber bislang nach Aktenlage nicht erfolgt. Der Antragsteller hat sich nach Einleitung der medikamentösen Therapie mit Medikinet durch die B offenbar nicht mehr fachärztlich psychiatrisch untersuchen lassen. Zudem hat er nach seinen eigenen Angaben das Arzneimittel Elvanse adult nur an einem einzigen Tag eingenommen.

Das SG hat bereits zutreffend ausgeführt, weshalb die Regelung des § 31 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1b SGB V beim Antragsteller nicht zur Anwendung kommt. Dem schließt sich der Senat an. Eine begründete Einschätzung im Sinne der Vorschrift liegt nur vor, wenn der Vertragsarzt aufgrund individueller Umstände den Eintritt konkret zu erwartender Nebenwirkungen aufzeigt, die aufgrund einer individuellen Abschätzung als unzumutbar anzusehen sind (vgl. Senatsurteil vom
26. Februar 2021 – a.a.O., Rn. 31). Weder die Ausführungen der J im Arztfragebogen vom 4. August 2021 noch die Angaben in der unter dem gleichen Datum ausgestellte Arzneimittelverordnung enthalten eine solche begründete Einschätzung. Soweit die behandelnden Vertragsärzte die Verordnung der Cannabinoide darin im Wesentlichen auf eine Empfehlung des Neurologen und Psychiaters stützen, ist diese Begründung nicht nachvollziehbar. Denn weder im beigefügten Befundbericht des S vom 24. Juli 2021 noch im Bericht der B vom 16. Juni 2021 wird eine Cannabistherapie empfohlen.

Schließlich ist auch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass
durch die Therapie mit den cannabishaltigen Arzneimitteln Bediol und Bedrobinol eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf der ADHS oder schwerwiegende Symptome besteht. Die bereits zitierte AWMF-Behandlungsleitlinie vom 2. Mai 2017 empfiehlt (unter Punkt 1.4.5.8.) im Rahmen eines Expertenkonsenses, Cannabis zur Behandlung der ADHS nicht einzusetzen. Soweit der Antragsteller demgegenüber auf eine neuere wissenschaftliche Studie zum Einsatz von Cannabinoiden bei ADHS verwiesen hat, hat die vom MD im Rahmen des Gutachtens vom 24. November 2021 durchgeführte Metaanalyse gezeigt, dass dieser Publikation auch weiterhin Studienergebnisse und wissenschaftliche Veröffentlichungen mit „negativen Empfehlungen“ gegenüberstehen und die Evidenz für eine Reduktion der ADHS-Kernsymptomatik durch Einsatz von Cannabinoiden insgesamt bei weitgehend unklarem Nebenwirkungsprofil schwach ist. Im Übrigen besteht auch eine Kontraindikation für eine Cannabistherapie, wenn beim Antragsteller, der nach eigenen Angaben seit vielen Jahren regelmäßig Cannabis konsumiert, ein behandlungsbedürftiger Cannabismissbrauch vorliegt (so auch LSG Bayern, Beschluss vom 7. November 2019 – a.a.O., Rn. 37; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Februar 2021 – L 11 KR 3869/20 ER-B – juris, Rn. 34). Zumindest bedarf es in diesem Fall einer begründeten und nachvollziehbaren therapeutischen Entscheidung, weshalb ggf. dennoch (und ohne, dass zuvor eine Entwöhnungsbehandlung stattgefunden hat) eine Behandlung mit Cannabispräparaten sinnvoll erscheint. Auch wenn der S das Bestehen einer Abhängigkeitserkrankung in seinem Befundbericht vom 24. Juli 2021 verneint hat, ergibt sich ein entsprechender Verdacht gleichwohl im Hinblick auf die Diagnose eines schädlichen Gebrauchs von Cannabinoiden, welche die B anlässlich der Untersuchung des Antragstellers am 7. Mai 2021 gestellt hat. Die Abklärung einer solchen Kontraindikation muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Der Senat sieht nach allem einen auf § 31 Abs. 6 SGB V gestützten Anordnungsanspruch des Antragstellers als unwahrscheinlich an und damit erst recht nicht als glaubhaft gemacht. Auf eine Eilbedürftigkeit oder Interessenabwägung kommt es unter diesen Umständen nicht an. Für eine Folgenabwägung ist auch unter Berücksichtigung der Bedeutung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) vorliegend kein Raum. Denn der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheidet bereits deshalb aus, weil ein Recht, das im einstweiligen Rechtschutz geschützt werden muss, nicht vorhanden ist (LSG Bayern, Beschluss vom 7. November 2019 – a.a.O., Rn. 29; Cantzler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, Stand: Dezember 2021, § 86b SGG Rn. 68). Es ist nicht Zweck des einstweiligen Rechtschutzes, vorläufig Rechtspositionen einzuräumen, die der Überprüfung im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach nicht standhalten werden (vgl. Senatsbeschluss vom 29. März 2022 – L 4 R 239/22 ER-B – n.v.; Binder, a.a.O., Rn. 35).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

4. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).


 

Rechtskraft
Aus
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