L 11 KR 2845/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 3963/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2845/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Mit dem Begriff "regelmäßig" iSd § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V soll mit hinreichender Sicherheit zu erwartendes Arbeitsentgelt von nicht zu erwartendem Arbeitsentgelt abgegrenzt werden. Einmalig gezahltes Arbeitsentgelt ist zu berücksichtigen, wenn es mit hinreichender Sicherheit mindestens einmal jährlich zufließt. Bei variablen Entgeltbestandteilen muss prognostisch mit hinreichender Sicherheit feststellbar sein, ob und in welchem Umfang variable Entgeltbestandteile im maßgeblichen Zeitraum zu erwarten sind (vorliegend verneint).

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10.08.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme eines Bescheides der Beklagten über die Befreiung von Versicherungspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung nach § 8 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).

Der 1970 geborene Kläger ist bei der W AG (Arbeitgeberin) abhängig beschäftigt und unterliegt unstreitig der Versicherungspflicht der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung. Er erhält monatlich ein tarifliches Grundgehalt (ab Mai 2019 3.880,00 Euro, ab April 2020 3.989,00 Euro, ab Juni 2021 4.069,00 Euro), eine dynamische Tätigkeitszulage (ab Mai 2019 159,26 Euro, ab April 2020 163,72 Euro, ab Juni 2021 166,99 Euro), eine Zulage Fachbetreuer (ab Mai 2019 189,79 Euro, ab April 2020 195,10 Euro, ab Juni 2021 199,00 Euro), vermögenswirksame Leistungen (40,00 Euro) sowie eine Ausbilderzulage (155,00 Euro). Zusätzlich erhält er Einmalzahlungen aufgrund einer Konzernbetriebsvereinbarung (April 2019: 2.345,47 Euro; April 2020 2.476,55 Euro; April 2021 2.251,41 Euro; April 2022 3.212,99 Euro) sowie des einschlägigen Manteltarifvertrages (2019: April 2.192,03 Euro + November 3.507,24 Euro = 5.699,27 Euro; 2020: April 2.251,41 Euro + November 3.602,26 Euro = 5.853,67 Euro; 2021: April 2.251,41 Euro + November 3.671,99 Euro = 5.923,40 Euro; 2022: April 2.295,00 Euro). Das Management-Board unterrichtete die Mitarbeiter unter dem 02.04.2020 über die Belegschaftsbeteiligung am Jahresergebnis 2019 (55 % Bruttomonatsgehalt), unter dem 01.04.2021 am Jahresergebnis 2020 (50 % Bruttomonatsgehalt, obwohl lediglich 90 % Zielerreichung) und am 08.04.2022 am Jahresergebnis 2021 (70 % Bruttomonatsgehalt). 

Die Konzernbetriebsvereinbarung ua mit der Arbeitgeberin enthält ua folgende Regelungen:

"§ 5 Jahresergebnis
1. Das zu erreichende Ziel-Konzernjahresergebnis wird jährlich durch das Management Board festgelegt und durch den Aufsichtsrat der W1AG bestätigt, dieses gilt genauso für den Vorstand/Geschäftsführung. Sofern dies unterjährig geändert wird, gilt für diese Konzernbetriebsvereinbarung das zuletzt festgelegte Ziel-Jahresergebnis.
2. Das bereinigte Jahresergebnis berücksichtigt insbesondere außergewöhnliche Ereignisse (z.B. Zukauf oder Verkauf einzelner Unternehmen). …..

§ 6 Berechnungszeitraum
Berechnungszeitraum im Sinne dieser Vereinbarung über dieses Geschäftsjahr (1. Januar bis einschließlich 31. Dezember).

§ 7 Anspruch- und Auszahlungsvoraussetzungen
1. Eine erfolgsabhängige Vergütung wird nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen an die unter dem persönlichen Geltungsbereich fallenden Beschäftigten geleistet. ….
6. a) Der Anspruch auf Zahlung der erfolgsabhängigen Vergütung beim betreffenden Arbeitgeber ist ausgeschlossen, wenn und soweit bei diesem Arbeitgeber ein zwingender aufsichtsrechtlicher Grund in einem Geschäftsjahr der Zahlung einer erfolgsabhängigen Vergütung entgegensteht.
b) Der Anspruch auf Zahlung der erfolgsabhängigen Vergütung ist für alle Arbeitgeber ebenfalls ausgeschlossen, wenn und soweit ein zwingender aufsichtsrechtlicher Grund bei der W1 AG, der W2 AG, der W AG oder der W3 AG vorliegt, der in einem Geschäftsjahr der Zahlung einer erfolgsabhängigen Vergütung entgegensteht.
c) Details hierzu sind in der Anlage 3 geregelt. …

§ 8 Höhe der erfolgsabhängigen Vergütung
1. Der Zielerreichungsgrad wird dadurch ermittelt, dass das tatsächlich erreichte Jahresergebnis (ggf. bereinigt) im Verhältnis zum Ziel-Jahresergebnis gesetzt wird; dies gilt genauso für den Vorstand/Geschäftsführung. Es erfolgt eine mathematische Rundung auf volle Prozentpunkte.
2. Wird der Zielerreichungsgrad zu 100 Prozent (Planwert) erreicht, beträgt die volle erfolgsabhängige Vergütung bei Beschäftigung des Innendienstes 50 Prozent eines Bruttomonatsgehalt (Zielwert). ….
3. Wird der Planwert überschritten (ab 101 Prozent Zielerreichungsgrad) steigt die Höhe der erfolgsabhängigen Vergütung dem tatsächlichen Zielerreichungsgrad entsprechend linear an. Maximal jedoch auf einen Zielerreichungsgrad von 140 Prozent.
4. Wird der Planwert nicht erreicht (unter 100 Prozent Zielerreichung), sind diese der erfolgsabhängigen Vergütung dem tatsächlichen Zielerreichungsgrad entsprechend linear, ggf. auch auf "Null" ab. ….

§ 10 Auszahlungsmonat und Auszahlungszeitpunkt
Die Auszahlung einer etwaigen erfolgsabhängigen Vergütung nach dieser Konzernbetriebsvereinbarung erfolgt jeweils mit der Gehaltszahlung, in dem auf den Berechnungszeitraum folgenden April, soweit sich aus den vorgenannten Bestimmungen nichts Anderes ergibt."

Der Manteltarifvertrag für private Versicherungsgewerbe enthält ua folgende Regelungen:

"§ 13
9. Sonderzahlung
Angestellte, deren Monatsbezüge das höchste im Gehaltstarifvertrag geregelte Monatsgehalt zzgl. Verantwortungszulage - und, sofern die/der Angestellte Anspruch auf Schichtzulage hat, diese Schichtzulage - nicht um mehr als 10 Prozent übersteigen, erhalten im zweiten Quartal des Kalenderjahres eine Sonderzahlung in Höhe von 50 Prozent ihres Bruttomonatsgehalts. ….

§ 19
5. Zusätzlich zu den Bezügen nach Ziffer 1 bis 4 erhalten Angestellte, deren durchschnittliche Monatsbezüge im vorangegangenen Kalenderjahr den Betrag von 5.090,00 Euro, ab dem 01.01.2020 den Betrag von 5.165,00 Euro, ab dem 01.01.2021 den Betrag von 5.235,00 Euro und ab dem 01.01.2022 den Betrag von 5.285,00 Euro zzgl. Sozialzulage nicht überstiegen haben, in jedem Kalenderjahr eine Sonderzahlung in Höhe von 80 Prozent ihres im vorangegangenen Kalenderjahr als jeden Monat zu dem Durchschnittseinkommen, jedoch höchstens auf folgende Beträge: …...".

Bis zum 31.03.2016 war der Kläger nach § 5 Abs 1 Nr 1 SGB V versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten (Bescheid der Beklagten vom 12.02.2016). Ab 01.04.2016 ist er bei einer privaten Krankenversicherung mit einer Krankheitskostenvollversicherung sowie einer Pflegeversicherung versichert, nachdem wegen Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung eingetreten war.

Die Arbeitgeberin des Klägers gelangte anlässlich der prognostischen Prüfung der Jahresarbeitsentgeltgrenze zum Jahreswechsel 01.01.2020 zu der Einschätzung, dass Versicherungsfreiheit ab 01.01.2020 ende, und meldete den Kläger wieder bei der Beklagten an. Aufgrund des Rundschreibens des GKV-Spitzenverbandes vom 20.03.2019 seien variable Entgeltbestandteile, vorliegend die konzernerfolgsabhängige Vergütung, bei der vorausschauenden Betrachtung für das laufende Kalenderjahr nicht mehr zu berücksichtigen (Schreiben vom 14.01.2020). Mit Schreiben vom 21.01.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass dieser ab 01.01.2020 aufgrund seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung wieder bei der Beklagten als Arbeitnehmer pflichtversichert sei. Sie wies darauf hin, dass sich Beschäftigte auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen könnten, wenn sie wegen Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungspflichtig würden. Daraufhin beantragte der Kläger am 23.01.2020 bei der Beklagten die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 8 SGB V zum 01.01.2020.

Mit Schreiben vom 29.01.2020 befreite die Beklagte den Kläger von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung ab 01.01.2020 auf Grundlage des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB V. Sie wies den Kläger darauf hin, dass die Befreiung nicht widerrufen werden könne und auch dann gelte, wenn er die Krankenkasse oder den Arbeitgeber wechsle. Auf Wunsch des Klägers bestätigte die Beklagte mit E-Mail die mit Bescheid vom 29.01.2020 ausgesprochene Befreiung. Ein Widerruf der Befreiung durch den Arbeitgeber sei nicht möglich.

Mit Schreiben vom 06.02.2020 unterrichtete die Arbeitgeberin die Beklagte darüber, dass aus ihrer Sicht beim Kläger kein Befreiungsrecht bestehe, da nach dem Rundschreiben des GKV-Spitzenverband vom 20.03.2019 variable Entgeltbestandteile für das laufende Kalenderjahr künftig nicht mehr berücksichtigt werden dürften. Die Arbeitgeberin legte eine Berechnung bei, wonach der Kläger im Jahr 2019 laufende Bezüge iHv 53.088,60 Euro sowie Einmalzahlungen iHv 8.044,74 Euro erzielt habe. Für das Jahr 2020 prognostizierte sie laufende Bezüge iHv insgesamt 52.608,60 Euro (tarifliches Grundgehalt 3.880,00 Euro + Tätigkeitszulage dynamisch 159,26 Euro + Zulage Fachbetreuer dynamisch 189,79 Euro + Ausbilderzulage 155,00 Euro), 480,00 Euro vermögenswirksame Leistungen sowie Einmalzahlungen iHv 5.699,27 Euro.

Mit Schreiben vom 26.02.2020 („Widerruf der Befreiung von der Versicherungspflicht ab 01.01.2020“) teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Befreiung von der Versicherungspflicht ab 01.01.2020 nach Rücksprache mit der Arbeitgeberin erneut geprüft worden sei. Die Versicherungspflicht ab dem 01.01.2020 sei nicht aufgrund der Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze eingetreten, sondern weil variable Entgeltbestandteile künftig nicht mehr berücksichtigt werden dürften. Eine Befreiung von der Versicherungspflicht ab 01.01.2020 sei damit ausgeschlossen. Der Befreiungsbescheid vom 29.01.2020 werde zurückgenommen. Ab dem 01.01.2020 trete folglich Versicherungspflicht zur Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung ein.

Dagegen legte der Kläger am 22.03.2020 Widerspruch ein. Bei der Hochrechnung für das Jahr 2020 sei bei den Basisbezügen die Tariferhöhung vom Dezember 2019 mit Wirkung ab 01.03.2020 nicht berücksichtigt worden. Somit erhöhten sich die laufenden Bezüge im Kalenderjahr 2020. Dies habe zur Folge, dass auch die Einmalzahlungen im Jahr 2020 höher ausfallen würden. Da bereits nach 9 Monaten die Erreichung der nächsten gültigen Konzernbetriebsvereinbarung zur erfolgsabhängigen Vergütung erfüllt sei, fehle bei der Hochrechnung für das Jahr 2020 auch die Sonderzahlung von mindestens 50 Prozent eines Monatsgehaltes. Mit diesen zusätzlichen Summen werde mindestens die Jahresentgeltgrenze aus dem Jahr 2019 erreicht und nach seiner Hochrechnung auch die Jahresentgeltgrenze 2020 übertroffen.

Die Arbeitgeberin bestätigte der Beklagten nochmals die übermittelten Zahlen (E-Mail vom 06.05.2020). Mit Teil-Abhilfebescheid vom 22.06.2020 half die Beklagte dem Widerspruch des Klägers dahingehend ab, dass der Befreiungsbescheid vom 29.01.2020 ab 01.01.2020 bis zum 30.06.2020 weiterhin gilt. Für die Zeit ab 01.07.2020 hob die Beklagte den Befreiungsbescheid vom 29.01.2020 mit Wirkung für die Zukunft auf mit der Folge, dass ab 01.07.2020 Versicherungspflicht in sämtlichen Zweigen der Sozialversicherung besteht. Mit Schreiben vom 12.08.2020 sowie vom 27.08.2020 gab die Beklagte dem Kläger Gelegenheit, sich zur Zurücknahme nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), insbesondere zur Abwägung der Interessen des Begünstigten sowie dem öffentlichen Interesse und zur Ausübung von Ermessen zu äußern.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.02.2020 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 22.06.2020 mit Widerspruchsbescheid vom 08.12.2020 als unbegründet zurück. Nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V werde auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit, wer versicherungspflichtig wegen Änderung der Jahresarbeitsentgeltsgrenze werde. Im Falle des Klägers bestehe Versicherungspflicht als Arbeitnehmer nicht aufgrund der Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze, sondern weil eine Neubeurteilung seiner seitens der Arbeitgeberin zu dem regelmäßigen Arbeitsentgelt gezahlten variablen Entgeltbestandteile zum 01.01.2020 vorgenommen worden sei. Nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V seien Arbeiter und Angestellte versicherungsfrei, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs 6 oder 7 SGB V übersteige. Zuschläge, die mit Rücksicht auf den Familienstand gezahlt würden, blieben unberücksichtigt. Ob das regelmäßige Jahresarbeitsentgelt aus einer Beschäftigung bzw mehreren Beschäftigungen die maßgebende Jahresarbeitsentgeltgrenze übersteige, sei in einer vorausschauenden Betrachtungsweise auf der Grundlage der gegenwärtigen und bei normalen Verlauf für ein Zeitjahr zu erwartenden Einkommensverhältnisse festzustellen. Das regelmäßige Jahresarbeitsentgelt werde im Rahmen der vorausschauenden Betrachtung durch Multiplikation der aktuellen Monatsbeträge mit 12 unter Berücksichtigung der regelmäßig gewährten Sonderzuwendungen bzw Einmalzahlungen ermittelt. Variable Arbeitsentgeltbestandteile gehörten - unabhängig davon, ob sie leistungsbezogen oder unternehmenserfolgsbezogen erzielt würden - grundsätzlich nicht zum regelmäßigen Arbeitsentgelt, da in aller Regel zum Zeitpunkt der Ermittlung des regelmäßigen Jahresarbeitsentgeltes ungewiss sei, ob und ggf in welcher Höhe diese Entgeltbestandteile gewährt würden. Vorausschauend betrachtet betrage das regelmäßige Arbeitsentgelt des Klägers im Jahr 2020 58.787,87 Euro und überschreite die Jahresarbeitsentgeltgrenze iHv 62.550,00 Euro nicht. Nach einer Phase der Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V trete Versicherungspflicht sofort ein, wenn eine aktualisierte Prognose ergebe, dass die Jahresarbeitsentgeltgrenze künftig unterschritten werde. Vorliegend handele es sich bei dem Bescheid vom 29.01.2020 um einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt, der nach § 45 SGB X zu beurteilen sei. Der Bescheid vom 29.01.2020 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 22.06.2020 habe gemäß § 45 Abs 1 und 2 SGB X mit Wirkung zum 01.07.2020 teilweise zurückgenommen werden dürfen. Die Arbeitgeberin habe die Prüfung des regelmäßigen Arbeitsentgeltes vorausschauend zum 01.01.2020 korrekt vorgenommen. Entgegen der Auffassung des Klägers würden der steuerfreie Fahrtkostenzuschuss und die erfolgsabhängige Sonderzahlung für die Prüfung des regelmäßigen Arbeitsentgelts nicht berücksichtigt. Weiterhin sei zu beachten, dass zum Zeitpunkt der Prüfung vorausschauend die Verhältnisse ab 01.01.2020 maßgebend seien. Die im Laufe eines Kalenderjahres tarifvertraglich zugesicherte Entgelterhöhungen sowie erfolgsabhängige Sonderzahlungen würden hierbei nicht berücksichtigt. Insofern liege keine Entgeltminderung zum Vorjahr vor. Es seien lediglich nicht alle Entgeltbestandteile berücksichtigungsfähig. Im Zeitraum vom 01.01.2020 bis 30.06.2020 habe der Kläger keine Vermögensdispositionen getroffen, die nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig gemacht werden könnten. Ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der beitragsrechtlichen Auswirkungen des rechtswidrigen Bescheides vom 29.01.2020 sei nicht erkennbar. Zunächst liege kein Regeltatbestand iS des § 45 Abs 2 Satz 2 SGB X vor. Auch wenn der Kläger auf die Rechtmäßigkeit des zurückgenommenen Bescheides vertraut haben möge, weil die Kasse diesen Bescheid in Kenntnis der rechtserheblichen Umstände erlassen habe, so sei doch bei der erforderlichen Abwägung des Vertrauens des Klägers am Fortbestand des Bescheides mit dem öffentlichen Interesse an dessen Rücknahme letzterem der Vorrang einzuräumen und eine Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers zu verneinen. Bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung sei das öffentliche Interesse an einer Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes in der Regel höher als das Vertrauen des Versicherten auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Im vorliegenden Fall überwiege das öffentliche Interesse der Solidargemeinschaft gegenüber dem Vertrauen des Klägers. Gleichwohl stehe die Rücknahme des Bescheides im pflichtgemäßen Ermessen der Kasse. Auch wenn an dieser Stelle unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zugunsten des Klägers seine persönliche und wirtschaftliche Situation sowie die Verantwortung der Kasse für die zurückgenommene rechtswidrige Entscheidung zu berücksichtigen seien, so habe die Kasse doch dem öffentlichen Interesse an der teilweisen Rücknahme des Bescheides auch hier den Vorrang eingeräumt.

Dagegen hat der Kläger am 29.12.2020 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und ua geltend gemacht, dass die Sonderzahlungen ihre Rechtsgrundlage in einer Konzernbetriebsvereinbarung sowie im Manteltarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe hätten. Er - der Kläger - habe im April 2020 für das Jahr 2019 eine erfolgsabhängige Vergütung iHv 55 % eines Bruttomonatsgehalts erhalten. Im Jahr 2015 sei eine erfolgsabhängige Vergütung iHv 67 %, 2016 iHv 67 %, 2017 iHv 51 %, 2018 iHv 56 % und 2019 iHv 53 % eines Bruttomonatsgehalts gezahlt worden. Sowohl die Sonderzahlung nach der Konzernbetriebsvereinbarung als auch nach dem Manteltarifvertrag für private Versicherungsgewerbe würden sich nach dem Bruttoentgelt bemessen. Bei den Sonderzahlungen handle es sich um regelmäßige Einnahmen, die bei der Ermittlung des Jahresarbeitsentgelts zu berücksichtigen seien. Weiterhin sei zu beachten, dass das Rundschreiben des GKV-Spitzenverbandes lediglich einen Empfehlungscharakter habe.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 10.08.2021 die Klage abgewiesen. Statthaft sei eine reine Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 26.02.2020 in der Fassung des Bescheids vom 22.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12.2020. Es bedürfe keiner zusätzlichen Verpflichtungsklage auf Befreiung von der Krankenversicherungspflicht ab dem 01.07.2020. Denn bei einem Erfolg dieses Klageantrages würde wieder der Bescheid vom 29.01.2020 gelten, mit dem die Beklagte den Kläger ab dem 01.01.2020 unbefristet von der Krankenversicherungspflicht befreit habe. Die Anfechtungsklage habe keinen Erfolg. Die angefochtenen Bescheide seien im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Beklagte sei berechtigt gewesen, den Bescheid vom 29.01.2020 mit Wirkung zum 01.07.2020 zurückzunehmen. Der Bescheid vom 29.01.2020 über die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht zum 01.01.2020 sei bei seinem Erlass rechtswidrig gewesen. Darin seien sich die Beteiligten im Ergebnis einig. Während der Kläger meine, es sei gar keine Versicherungspflicht eingetreten, sodass eine Befreiung hiervon nicht in Betracht käme, vertrete die Beklagte die Auffassung, für die Versicherungspflicht ab dem 01.01.2020 sei nicht allein die Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze ursächlich. Zutreffend sein dürfte die Ansicht der Beklagten. Eine Befreiung von der Krankenversicherungspflicht komme allein nach der Regelung des § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V in Betracht. Die für den Kläger maßgebliche Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs 6 Satz 2 SGB V habe 2019 60.750,00 Euro und 2020 62.550,00 Euro betragen. Eine Befreiung nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V mit Wirkung zum 01.01.2020 käme nur in Betracht, wenn sein zu berücksichtigendes Jahresentgelt für 2020 in einen Korridor zwischen 60.750,01 Euro und 62.550,00 Euro gelegen hätte. Dies sei indes nicht der Fall gewesen. Vielmehr habe es daruntergelegen. Berücksichtigt werde nur das regelmäßige Jahresentgelt. Das seien diejenigen Einnahmen aus einer Beschäftigung, auf die der Betroffene einen Anspruch habe und die ihm mit hinreichender Sicherheit zufließen würden. Zu erwartende Änderungen seien zu berücksichtigen, aber nur, wenn diese bereits feststünden. Gemessen hieran habe der Kläger zu Beginn des Jahres 2020 allenfalls mit 60.251,20 Euro rechnen können. Zu berücksichtigen sei zunächst sein Grundgehalt von 54.397,53 Euro (Januar bis März 4.4044,05 Euro, April bis Dezember 4.562,82 Euro; die Tariferhöhung zum 01.04.2020 habe wohl schon im Dezember 2019 festgestanden). Auch die Sonderzahlung im November (in Höhe von 3.602,26 Euro) sei an das Gehalt gekoppelt und damit garantiert. Anders verhalte es sich jedenfalls teilweise bei den Sonderzahlungen im April 2020 (in Höhe von 2.476,55 Euro und 2.251,41 Euro). Während die tarifliche Sonderzahlung in Höhe von 2.251,41 Euro berücksichtigt werden könne, handele es sich bei der Zahlung von 2.476,55 Euro nach Angaben des Klägers um eine erfolgsabhängige Vergütung auf Grundlage einer Konzernbetriebsvereinbarung vom 09.04.2019. Ob und ggf in welcher Höhe die erfolgsabhängige Vergütung gezahlt werde, ergebe sich aus dem Jahresergebnis im Geschäftsjahr vom 01.01. bis 31.12. Das Jahresergebnis sei noch nicht mit Beginn des nächsten Kalenderjahres abschließend ermittelt, weshalb für die Auszahlung eine etwaige erfolgsabhängige Vergütung erst ab April erfolge. Angesichts dieser Unwägbarkeit könne jedenfalls die Zahlung von 2.476,55 Euro keine Berücksichtigung finden. Ohne diese Sonderzahlung habe das voraussichtliche Jahresarbeitsentgelt des Klägers im Jahr 2020 maximal 60.251,20 Euro betragen. Auf die Einkommensverhältnisse im Jahr 2021 komme es im vorliegenden Verfahren nicht an. Bei dem angefochtenen Bescheid handele es sich um keinen Dauerverwaltungsakt. Vielmehr habe die Beklagte daher nur eine punktuelle Entscheidung getroffen, nämlich die Rücknahme der Befreiung von der Krankenversicherungspflicht ab dem 01.07.2020. Der angefochtene Bescheid enthalte keine Regelung zur Versicherungsfreiheit, Versicherungspflicht oder Befreiung von der Versicherungspflicht im Jahr 2021. Schutzwürdiges Vertrauen, das einer Rücknahme entgegenstehe, bestehe nicht. Eine Konstellation nach § 45 Abs 2 Satz 2 SGB X liege nicht vor. Mit dem begünstigenden Bescheid vom 29.01.2020 habe die Beklagte keine Leistung bewilligt. Ein Verbrauch erbrachter Leistungen scheide daher von vornherein aus. Ebenso wenig habe der Kläger wegen des Bescheids vom 29.01.2020 eine Vermögensdisposition getroffen. Insbesondere habe der Kläger seinen Vertrag mit dem privaten Krankenversicherungsunternehmen nicht erst nach Erlass des Bescheides vom 29.01.2020 geschlossen, sondern schon deutlich früher. Da möge der Kläger auf den Bescheid vom 29.01.2020 vertraut haben. Sein Vertrauen sei aber nicht schutzwürdig. Bereits wenige Tage nach Erlass des Bescheides habe der Kläger erfahren, dass dieser möglicherweise keinen Bestand haben werde. Dies ergebe sich aus einer E-Mail des Klägers an die Beklagte vom 06.02.2020, in der er sich vorsorglich gegen eine Rücknahme des Bescheides verwahre. Bei einem solch kurzen zeitlichen Abstand zwischen Stattgabe und Rücknahme sei das Vertrauen noch nicht schutzwürdig verfestigt. Nach Erlass des Bescheides vom 29.01.2020 habe die Beklagte keine weiteren Äußerungen mehr vorgenommen, aus denen der Kläger den Schluss habe ziehen können, es bleibe bei der Befreiung der Versicherungspflicht. Nicht entscheidend sei der Einwand des Klägers, ein Wechsel von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung wäre für ihn mit erheblichen finanziellen Nachteilen verbunden. Sofern die Folgen tatsächlich eintreten sollten, handle es sich um Begleiterscheinungen, die jedem Versicherten bei einem Systemwechsel zugemutet würden. Erschöpfe sich die rechtswidrige Begünstigung nicht in einer einmaligen Bewilligung, sondern schaffe sie einen Dauerzustand, so überwiege in aller Regel das öffentliche Interesse daran, jedenfalls zukünftig den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen. Die zeitlichen Grenzen für eine Rücknahme nach § 45 Abs 3 und Abs 4 Satz 2 SGB X seien gewahrt. Nicht zu beanstanden sei schließlich die Ausübung des Ermessens durch die Beklagte. Wie sich aus dem Widerspruchsbescheid vom 08.12.2020 ergebe, sei sich die Beklagte ihres Ermessensspielraumes bewusst gewesen. Den - knappen - Ausführungen sei weiter zu entnehmen, dass die Beklagte insoweit nochmals den Vortrag des Klägers zu seiner persönlichen und wirtschaftlichen Situation gewürdigt habe, den sie schon bei der Interessenabwägung berücksichtigt habe. Weitere Umstände seien nicht zwingend in die Ermessensausübung einzustellen gewesen.

Gegen den seinem Bevollmächtigten am 11.08.2021 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 02.09.2021 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung, mit der er sein Anfechtungsbegehren weiterverfolgt. Das SG sei unzutreffend davon ausgegangen, dass die erfolgsabhängige Vergütung kein regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt darstelle. Diese habe sich seit dem Jahr 2010 jährlich auf mindestens 47 % eines Bruttomonatsgehalts belaufen. Bei einer prognostischen Betrachtung werde sich für die Zukunft insoweit nichts ändern. Auch künftig werde er - der Kläger - mindestens mit einer erfolgsabhängigen Vergütung von mindestens 50 % eines Bruttomonatsgehalts rechnen können. Auch unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Hinweise des GKV-Spitzenverbandes zur Versicherungsfreiheit von Arbeitnehmern bei Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze vom 20.04.2019 sei die erfolgsabhängige Vergütung bei der Ermittlung des Jahresarbeitsentgelts zu berücksichtigen, da sie mit hinreichender Sicherheit mindestens einmal jährlich erwartet werden könne. Auch könne er sich auf Vertrauensschutz berufen. In dem Bescheid vom 29.01.2020 habe die Beklagte darauf hingewiesen, dass die Befreiung nicht widerrufen werden könne und dies auch gelte, wenn er die Krankenkasse oder den Arbeitgeber wechsle. Damit sei selbst die Beklagte davon ausgegangen, dass sie künftig den Bescheid auch nicht mehr zurücknehmen könne. Weiterhin habe die Beklagte nach Erlass des Bescheides vom 29.01.2020 mit E-Mail vom 17.02.2020 bekräftigt, dass der Kläger von der Krankenversicherungspflicht ab 01.01.2020 befreit worden sei. Die finanziellen Nachteile, die für ihn - den Kläger - mit dem Wechsel von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung verbunden seien, seien entgegen der Auffassung des SG zu berücksichtigen. Schließlich liege ein Ermessensnichtgebrauch vor, was zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides führen müsse.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10.08.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26.02.2020 in der Gestalt des Bescheids vom 22.06.2020 und des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2020 aufzuheben.


Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid.

Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 31.05.2022 einen Erörterungstermin durchgeführt; hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Niederschrift Bezug genommen. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheidet, ist unbegründet.

Die Berufung ist zulässig. Sie ist gemäß § 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG).

Den Gegenstand des Berufungsverfahrens bildet der Bescheid vom 26.02.2020 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 22.06.2020 (§ 86 SGG) in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2020 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Rücknahme des Bescheids vom 29.01.2020 über die Befreiung des Klägers nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V mit Wirkung zum 01.07.2020 nach § 45 SGB X verfügt hat. Dagegen wendet sich der Kläger ausweislich seines Berufungsantrages (Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 06.12.2021) mit der insolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) und begehrt ausschließlich die Aufhebung der Rücknahmeentscheidung der Beklagten, die zur Folge hätte, dass der Befreiungsbescheid vom 29.01.2020 wieder aufleben würde.

Nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist die Feststellung, dass ab 01.01.2020 bzw 01.07.2020 Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V besteht. Darüber hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden keine Regelung iSd § 31 SGB X getroffen. Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 24.02.2021 dies bei der Beklagten erst nach Erlass der streitgegenständlichen Bescheide beantragt, sodass die Beklagte über diesen Antrag mit den genannten Bescheiden schon nach dem Ablauf gar nicht entscheiden konnte. Soweit ersichtlich, hat sie über diesen Antrag bisher nicht entschieden. Unter diesen Umständen hat der Kläger eine solche Feststellung der Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V ausweislich seines Antrages vom 06.12.2021 im vorliegenden Verfahren zu Recht auch nicht begehrt.  

Das SG hat die Klage zur Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 26.02.2020 in der Fassung des Bescheids vom 22.06.2020 und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Die angefochtene Rücknahmeentscheidung ist formell rechtmäßig. Die Beklagte hat dem Kläger jedenfalls im Rahmen des Widerspruchsverfahrens hinreichende Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen zu äußern (vgl Schreiben vom 12.08.2020, ferner Schreiben vom 04.06.2020), sodass die erforderliche Anhörung (§ 24 Abs 1 SGB X) wirksam nachgeholt wurde (§ 41 Abs 1 Nr 3 und Abs 2 SGB X). Die Rücknahmeentscheidung ist auch materiell rechtmäßig. 

Als Rechtsgrundlage für die angefochtene Rücknahmeentscheidung der Beklagten kommt § 45 SGB X in Betracht. Diese Regelung lautet:
„(1) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
(2) Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit
1. er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2. der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.“

Der Anwendung der Korrekturnorm des § 45 SGB X steht nicht die Regelung des § 8 Abs 2 Satz 3 SGB V entgegen. Danach kann die Befreiung nicht widerrufen werden. Mit der Unwiderruflichkeit wird bestimmt, dass der Befreite die Befreiung nicht ohne weiteres rückgängig machen kann (Hampel in jurisPK-SGB V, 4. Auflage 2020, § 8 Rn 135). Demgegenüber ist es zulässig und ggf sogar geboten, Befreiungsbescheide anhand der §§ 44 ff SGB X zu überprüfen und sie ggf zurückzunehmen (Hampel in jurisPK-SGB V, 4. Auflage 2020, § 8 Rn 135; Peters in Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2021, SGB V § 8 Rn 59).

Der mit Wirkung zum 01.07.2020 zurückgenommene Bescheid vom 29.01.2020 war bei seinem Erlass, dh von Anfang an rechtswidrig. Denn die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Krankenversicherungspflicht nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V lagen nicht vor.

Nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V wird auf Antrag des Versicherten von der Versicherungspflicht befreit, wer versicherungspflichtig wird wegen Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs 6 Satz 2 oder Abs 7 SGB V. Dabei tritt Versicherungsfreiheit nur ein, wenn für den Eintritt der Versicherungspflicht allein die Änderung der Jahresarbeitsentgeltgrenze ursächlich ist, nicht etwa im Falle der Verringerung des Arbeitsentgeltes (allg Meinung, vgl zB Hampel in jurisPK-SGB V, 4. Auflage 2020, § 8 SGB V <Stand: 15.06.2020> Rn 36; Peters in Kasseler Kommentar, § 8 SGB V <Stand Dezember 2021> Rn 11 mwN). Die Jahresarbeitsentgeltgrenze betrug für das Jahr 2019 60.750,00 Euro (5.062,50 Euro/Monat) und erhöhte sich im Jahr 2020 auf 62.550,00 Euro (5.212,50 Euro/Monat). Bei vorausschauender Betrachtung war zum Jahreswechsel 2019/2020 für das Jahr 2020 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus der Beschäftigung des Klägers bei seiner Arbeitgeberin eine Vergütung iHv
58.787,87 Euro zu erwarten, mithin ein Jahresarbeitsentgelt unter der Jahresarbeitsentgeltgrenze sowohl des Jahres 2019 (60.750,00 Euro) als auch des Jahres 2020 (62.550,00 Euro).

Nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V sind versicherungsfrei in der gesetzlichen Krankenversicherung Arbeiter und Angestellte, deren regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt die Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs 6 oder 7 SGB V übersteigt; Zuschläge, die mit Rücksicht auf den Familienstand gezahlt werden, bleiben dabei unberücksichtigt. Die für den Kläger maßgebliche Jahresarbeitsentgeltgrenze ergibt sich aus § 6 Abs 6 SGB V, da er nicht bereits am 31.12.2002 wegen Überschreitens der an diesem Tag geltenden Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfrei und bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen in einer substitutiven Krankenversicherung versichert war, sondern Versicherungsfreiheit nebst substitutiver privater Krankenversicherung erst zum 01.04.2016 eingetreten war. Wie dargelegt erhöhte sich die Jahresarbeitsentgeltgrenze des Jahres 2019 von 60.750,00 Euro (5.062,50 Euro/Monat) auf 62.550,00 Euro (5.212,50 Euro/Monat) im Jahr 2020. Arbeitsentgelt sind nach § 14 Abs 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden (zB BSG 13.06.2007, B 12 KR 14/06 R, SozR 4-2500 § 6 Nr 7). Einnahmen aus einer Beschäftigung sind solche, die als Gegenleistung in einem aktuellen Beschäftigungsverhältnis zur Abgeltung einer Arbeitstätigkeit gegenwärtig und in unmittelbarem Austausch bewirkt werden (BSG 13.06.2007, B 12 KR 14/06 R, SozR 4-2500 § 6 Nr 7). Die laufenden und einmaligen (Brutto-)Einnahmen (vgl BSG 19.12.1995, 12 RK 39/94, BSGE 77, 181) aus einer Beschäftigung müssen regelmäßig sein. Mit dem Begriff „regelmäßig“ soll mit hinreichender Sicherheit zu erwartendes Arbeitsentgelt von nicht zu erwartendem Arbeitsentgelt abgegrenzt werden (vgl Felix in jurisPK-SGB V, 4. Auflage 2020, § 6 SGB V <Stand: 13.07.2021>, Rn 17). Für die anzustellende Prognose iSd § 6 Abs 1 Nr 1 SGB V ist in der Regel das vereinbarte Arbeitsentgelt auf ein zu erwartendes Jahresarbeitsentgelt für das nächste Kalenderjahr hochzurechnen (BSG 07.06.2018, B 12 KR 8/16 R, BSGE 126, 47). Während des für die Ermittlung des Jahresarbeitsentgelts maßgebenden Jahres ist regelmäßig zu erwartender Verdienst nur der Verdienst, bei dem damit zu rechnen ist, dass er bei normalem Verlauf - abgesehen von einer anderweitigen Vereinbarung über das Entgelt oder von nicht voraussehbaren Änderungen in der Beschäftigung - voraussichtlich ein Jahr anhalten wird (BSG 07.06.2018, B 12 KR 8/16 R, BSGE 126, 47; BSG 09.02.1993, 12 RK 26/90, SozR 3-2200 § 165 Nr 9). In die Prognose sind feststehende zukünftige Veränderungen des Arbeitsentgelts einzustellen (BSG 07.06.2018, B 12 KR 8/16 R, BSGE 126, 47). Eine Gehaltserhöhung im Rahmen der Prognose betreffend den Wiedereintritt der Versicherungspflicht nach vorheriger Versicherungsfreiheit wird aber erst ab dem Zeitpunkt für eine Statusentscheidung relevant, ab dem das höhere Arbeitsentgelt tatsächlich gezahlt wird (BSG 07.06.2018, B 12 KR 8/16 R, BSGE 126, 47; BSG 08.12.1999, B 12 KR 12/99 R, BSGE 85, 208; BSG 07.12.1989, 12 RK 19/87, BSGE 66, 124). Einmalig gezahltes Arbeitsentgelt ist zu berücksichtigen, wenn es mit hinreichender Sicherheit mindestens einmal jährlich zufließt. Kein regelmäßiges Arbeitsentgelt stellen zB dar: Urlaubsabgeltung, Prämie für einen Verbesserungsvorschlag, Jubiläumsgratifikation, Überstundenabgeltung (vgl zB BSG 09.02.1993, 12 RK 26/90, SozR 3-2200 § 165 Nr 9; LSG Baden-Württemberg 16.10.2012, L 11 KR 5514/11; Felix in jurisPK-SGB V, 4. Auflage 2020, § 6 SGB V <Stand: 13.07.2021>, Rn 17). Demgegenüber stellen Sonderzahlungen, wie Weihnachtsgeld und ein 13. Monatsgehalt, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jährlich zu erwarten sind, regelmäßiges Arbeitsentgelt dar (vgl BSG 09.12.1981, 12 RK 20/81, SozR 2200 § 165 Nr 65; BSG 25.02.1966, 3 RK 53/63, BSGE 24, 262; LSG Baden-Württemberg 27.01.2016, L 5 KR 2070/15; LSG Baden-Württemberg 16.10.2012, L 11 KR 5514/11; LSG Nordrhein-Westfalen 04.11.2015, L 8 R 599/13). Gleiches gilt für variable Entgeltbestandteile (Provisionen, Tantiemen etc), dh es muss mit hinreichender Sicherheit feststellbar sein, ob und in welchem Umfang variable Endgeltbestandteile im maßgeblichen Zeitraum zu erwarten sind (vgl LSG Nordrhein-Westfalen 04.11.2015, L 8 R 599/13; LSG Baden-Württemberg 16.10.2012, L 11 KR 5514/11). Soweit die Höhe des Arbeitsentgelts schwankt, ist der Verdienst unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalls und unter Heranziehung der in den Vorjahren erzielten Einkünfte zu schätzen (BSG 09.12.1981, 12 RK 20/81, SozR 2200 § 165 Nr 65; BSG 23.11.1971, 3 RK 79/68, SozR Nr 66 zu § 165 RVO; LSG Nordrhein-Westfalen 20.02.2013, L 8 R 920/10; LSG Baden-Württemberg 16.10.2012, L 11 KR 5514/11; LSG Baden-Württemberg 13.08.2012, L 4 R 3332/08).
Bei der Berechnung werden die monatlichen Entgeltansprüche des Versicherten auf ein Jahr hochgerechnet (in der Regel mittels einer Multiplikation mit 12).

In Anwendung dieser Maßstäbe lag das zum Jahreswechsel 2019/2020 für das Jahr 2020 mit hinreichender Sicherheit zu prognostizierende Arbeitseinkommen bei 58.787,87 Euro. Ausgehend von der dem Kläger seitens seiner Arbeitsgeberin arbeitsvertraglich geschuldeten „Basisvergütung“ mit Stand Dezember 2019 (
tarifliches Grundgehalt 3.880,00 Euro + dynamische Tätigkeitszulage 159,26 Euro + Zulage Fachbetreuer 189,79 Euro + vermögenswirksame Leistungen 40,00 Euro + Ausbilderzulage 155,00 Euro = 4.424,05 Euro) war auch für das Jahr 2020 mit hinreichender Sicherheit mit einem entsprechenden regelmäßigen monatlichen Arbeitsentgelt iHv 4.424,05 Euro, mithin jährlich 53.088,60 Euro, zu rechnen. Dabei ist weder der steuerfreie Fahrtkostenzuschuss noch die im Jahr 2019 erzielte Überstundenvergütung (Januar 2019 1.178,36 Euro, April 2019 7,51 Euro) zu berücksichtigten. Ebenso wenig ist die Erhöhung des Tariflohns zum 01.04.2020 in die Prognose einzustellen (vgl nochmals BSG 07.06.2018, B 12 KR 8/16 R, BSGE 126, 47; BSG 08.12.1999, B 12 KR 12/99 R, BSGE 85, 208; BSG 07.12.1989, 12 RK 19/87, BSGE 66, 124). Zwischen den Beteiligten unstreitig als regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt in die Prognose einzustellen sind die tariflichen Sonderzahlungen im April (50 % Bruttomonatsgehalt) und November (80 % des durchschnittlichen Bruttomonatsgehalts des vorangegangenen Kalenderjahres). Diese waren auch im Jahr 2020 mit hinreichender Sicherheit zu erwarten, da diese nach Grund und Höhe arbeitsvertraglich vereinbart waren und der Kläger einen entsprechenden Anspruch darauf hatte. Die Arbeitgeberin hat diese beiden Sonderzahlungen prognostisch für das Jahr 2020 mit insgesamt 5.699,27 Euro beziffert. Diesen Betrag legt der Senat zugrunde. Dass ggf wegen der zum April 2020 erfolgten Tariferhöhung die Sonderzahlungen im Jahr 2020 gegenüber der Prognose tatsächlich etwas höher ausgefallen sind (5.853,67 Euro), bleibt entsprechend der Tariferhöhung des Grundgehalts unberücksichtigt.

Dagegen war die konzernerfolgsabhängige Sonderzahlung aufgrund der Konzernbetriebsvereinbarung prognostisch zum Jahreswechsel 2019/2020 nicht mit hinreichender Sicherheit auch im Jahr 2020 zu erwarten. Zwar hatte der Kläger dem Grunde nach einen arbeitsrechtlichen Anspruch gegen seine Arbeitgeberin, jedoch stand jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit fest, dass die Sonderzahlung mehr als 1.962,13 Euro (Differenz zwischen der Jahresarbeitsentgeltgrenze 2019 60.750,00 Euro und dem prognostischen Arbeitsentgelt 2020 iHv
58.787,87 Euro) betragen wird. Die Entstehung und die Höhe des Anspruchs auf Sonderzahlung ist von einer Vielzahl von Bedingungen abhängig. Maßglichen Einfluss hat das Konzernjahresergebnis (vgl § 5 der Betriebsvereinbarung), das in erster Linie von der Unternehmensleitung sowie den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist und im Hinblick auf permanente Krisen (zB globale Finanzkrise 2008, Euro- und Staatsschuldenkrise ab 2010, Niedrigzinspolitik der EZB, Brexit zum 31.01.2020, Corona-Pandemie ab März 2020, Umwelt- und Klimakrisen mit Auswirkungen auf die Versicherungswirtschaft) nicht hinreichend sicher ist. Weiterhin legt das Management Board das zu erreichende Ziel-Konzernjahresergebnis fest und kann dies unterjährig bis zum Ende des jeweiligen Kalenderjahres (vorliegend bis zum 31.12.2019) ändern, sodass im Laufe des Jahres eine Anhebung des Jahreszieles mit der Folge der Reduzierung des Zielerreichungsgrads sowie der erfolgsabhängigen Vergütung möglich ist. Zudem enthält die Betriebsvereinbarung verschiedene Ausschlussgründe (vgl zB § 7 Abs 6 der Betriebsvereinbarung), die einen Anspruch auf die erfolgsabhängige Vergütung vollständig entfallen lassen. Entscheidend ist zu berücksichtigen, dass die Betriebsvereinbarung keine Mindestvergütung bzw einen Mindestanteil garantiert. Vielmehr wird deren Höhe vollständig an den Zielerreichungsgrad gekoppelt und kann bis auf Null absinken (§ 8 Abs 4 Betriebsvereinbarung). Diese Umstände lassen bereits Zweifel aufkommen, ob mit hinreichender Sicherheit am jeweiligen Jahresende prognostiziert werden kann, dass die konzernerfolgsabhängige Sonderzahlung auch im jeweiligen Folgejahr zur Auszahlung kommen wird. Die Regelungen der Betriebsvereinbarung ließen zum Jahreswechsel 2019/2020 jedenfalls nicht den hinreichend sicheren Schluss zu, in welcher konkreten Höhe die konzernerfolgsabhängige Sonderzahlung im Folgejahr 2020 zur Auszahlung kommen wird. Dass die Sonderzahlung den Betrag iHv 1.962,13 Euro übersteigen wird, wobei dieser Betrag erforderlich war, um überhaupt die Jahresarbeitsentgeltgrenze für 2019 zu erreichen (vgl § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V), war jedenfalls mit hinreichender Sicherheit nicht festzustellen. Denn für diesen Betrag (ca 44 % der Bruttomonatsgehalts iHv 4.424,05 Euro) wäre eine Zielerreichung von mehr als 80 % erforderlich gewesen, was im Hinblick auf die dargestellten Regelungen der Betriebsvereinbarung sowie das wirtschaftliche Umfeld gerade nicht hinreichend sichergestellt war. Dass in der Vergangenheit nach dem Vorbringen des Klägers die erfolgsabhängige Vergütung mit Ausnahme des Jahres 2013 (47 % des Bruttomonatsgehalts) mindestens 50 % eines Bruttomonatsgehalts betragen hat, führt zu keiner anderen Prognose. Exemplarisch zeigen das Jahresergebnis 2020 sowie der Zielerreichungsgrad von 90 %, dass eine Zielerreichung von 100 % und mehr nicht zwangsläufig ist.

Demnach stellt sich die mit Bescheid vom 29.01.2020 ausgesprochene Befreiung nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V als von Anfang rechtwidrig war. Der Kläger kann sich im Hinblick auf die zeitlich beschränkte Rücknahme ab 01.07.2020 (vgl dazu BSG 08.12.1999, B 12 KR 12/99 R, BSGE 85, 208) nicht auf Vertrauensschutz berufen. Ein Fall des § 45 Abs 2 Satz 2 SGB X, in dem im Regelfall typisierend von einem überwiegenden Vertrauensschutz ausgegangen werden kann, liegt nicht vor. Denn er hat weder durch Bescheid vom 29.01.2020 erbrachte Leistungen verbraucht noch im Hinblick auf die Entscheidung der Beklagten vom 29.01.2020 eine Vermögensdisposition getroffen, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Die von der Beklagten mit Bescheid vom 29.01.2020 ausgesprochene Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung ist keine (Geld-)Leistung, die einem wertmäßigen Verbrauch zugängig ist (vgl Schütze in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 45 Rn 50). Weiterhin steht hier die Rücknahme des Bescheids vom 29.01.2020 durch Bescheid vom 22.06.2020 mit Wirkung für die Zukunft ab 01.07.2020, nicht jedoch mit Wirkung für die Vergangenheit im Streit, sodass auch insoweit ein Verbrauch ausscheidet (zB Schütze in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 45 Rn 51). Auch hat der Kläger gerade im Vertrauen auf den Bestand des begünstigenden Verwaltungsaktes vom 29.01.2020 keine Vermögensdisposition getroffen (vgl dazu nur Schütze in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 45 Rn 52 mwN). Insbesondere über den Wechsel von der gesetzlichen Krankenversicherung in die private Krankenversicherung sowie den Abschluss eines entsprechenden Versicherungsvertrages hatte der Kläger bereits weit vor Bekanntgabe des Befreiungsbescheides vom 29.01.2020 entschieden und entsprechend disponiert, nämlich anlässlich seiner Kündigung der Mitgliedschaft bei der Beklagten zum 31.03.2016. Eine erneute Vermögensdisposition hat er nicht getroffen.

Zwar mag der Kläger auf den Bestand des Befreiungsbescheids vom 29.01.2020 vertraut haben, jedoch ist sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme nicht schutzwürdig (§ 45 Abs 2 Satz 1 SGB X). Im Rahmen der Vertrauensschutzprüfung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X sind die Belange des vom rechtswidrigen Verwaltungsakt Begünstigten mit dem öffentlichen Interesse der Allgemeinheit an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände abzuwägen (zB BSG 21.06.2001, B 7 AL 6/00 R, Rn 23, juris mwN). Das öffentliche Interesse besteht im Interesse der Solidargemeinschaft an der Vermeidung ungerechtfertigter Belastungen und nicht zu rechtfertigender Aufwendungen zu Lasten der Allgemeinheit. Ausgehend davon ist das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes bei „Dauerleistungen“ in der Regel höher einzuschätzen als bei der Gewährung einmaliger Leistungen, weil eine „Dauerleistung“ die Allgemeinheit in der Regel stärker belastet als eine einmalige Leistung (Schütze in Schütze, 9. Auflage 2020, SGB X, § 45 Rn 47 mwN). Im vorliegenden Fall ist zu beachten, dass der Befreiungsbescheid vom 29.01.2020 eine Befreiung von der Versicherungspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung ohne zeitliche Beschränkung und damit auf Dauer während desselben Beschäftigungsverhältnisses unabhängig von Veränderungen des Entgelts ausspricht (vgl § 8 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB V; ferner BSG 08.12.1999, B 12 KR 12/99 R, BSGE 85, 208), obwohl - wie dargelegt - die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen. Dies würde dazu führen, dass der Kläger sich ohne Rechtsgrund der gesetzlichen Krankenversicherung auf unabsehbare Zeit entziehen könnte, zumal auch zum Jahreswechsel 2020/2021 das Jahresarbeitsentgelt weder die Jahresarbeitsentgeltgrenze für 2020 (62.550,00 Euro) noch für 2021 (64.350,00 Euro) sowie zum Jahreswechsel 2021/2022 nicht diejenige für die Jahre 2021 (64.350,00 Euro) und 2022 (64.350,00 Euro) übersteigt (Prognose 2021: Grundgehalt ab April 2020 3.989,00 Euro + dynamische Tätigkeitszulage ab April 2020 163,72 Euro + Zulage Fachbetreuer ab April 2020 195,10 Euro + vermögenswirksame Leistungen 40,00 Euro + Ausbilderzulage 155,00 Euro = 4.542,82 Euro * 12 Monate = 54.513,84 Euro + 5.853,67 Euro = 60.367,51 Euro; Prognose 2022: 4.069,00 Euro + 166,99 Euro + 199,00 Euro + 40,00 Euro + 155,00 Euro = 4.629,99 Euro * 12 = 55.559,88 Euro + 5.923,40 Euro = 61.483,28 Euro). Die gesetzliche Krankenversicherung dient dem sozialen Schutz und der Absicherung von Arbeitnehmern vor den finanziellen Risiken von Erkrankungen. Sie basiert auf einem umfassenden sozialen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, vor allem aber zwischen Versicherten mit niedrigem Einkommen und solchen mit höherem Einkommen sowie zwischen Alleinstehenden und Personen mit unterhaltsberechtigten Familienangehörigen (vgl BSG 25.04.2012, B 12 KR 10/10 R, SozR 4-2500 § 6 Nr 9 mwN). Die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung stellt einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang dar und rechtfertigt - unabhängig von der individuellen Schutzbedürftigkeit - auch die Einbeziehung zuvor in der privaten Krankenversicherung versicherter Personen in die Versicherungspflicht (vgl BSG 25.04.2012, B 12 KR 10/10 R, SozR 4-2500 § 6 Nr 9 mwN). Daher ist das Interesse des Klägers an der Aufrechthaltung seiner privaten Krankenversicherung deutlich weniger schutzwürdig als das Interesse der Versicherten- und Solidargemeinschaft an seiner Einbeziehung in das System der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Befreiung von der Versicherungspflicht erst mit Bescheid vom 29.01.2020 und die Rücknahme dieser Entscheidung bereits mit Bescheid vom 26.02.2020 erfolgt ist, sodass der Zeitraum, in dem der Kläger auf die ausgesprochene Befreiung vertrauen konnte, nur von kurzer Dauer war. Deshalb kann zugunsten des Klägers auch nicht ins Feld geführt werden, er habe über einen längeren Zeitraum auf die Befreiung vertraut und von dieser gutgläubig Gebrauch gemacht. Die Stellung des durch die rechtswidrige Leistung Begünstigten wird nach der Rechtsprechung des BSG zwar mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Zeitpunkt der Bewilligung gestärkt (BSG 05.11.1997, 9 RV 20/96, BSGE 81, 156, 161). Die rechtswidrige Befreiung vom 29.01.2020 lag im Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung (Bescheid vom 26.02.2020 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 22.06.2020) noch nicht einmal ein halbes Jahr zurück. Dieser Zeitraum ist nicht ausreichend, um in die Vertrauensschutzprüfung zugunsten des Klägers einzufließen (BSG 21.06.2001, B 7 AL 6/00 R, juris mwN). Schließlich ist zu beachten, dass der Kläger die Möglichkeit hatte, den Versicherungsvertrag mit seiner privaten Krankenversicherung nach § 205 Abs 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) zu kündigen und eine Doppelversicherung zu verhindern. Nach § 205 Abs 2 Satz 1 VVG
kann der Versicherungsnehmer, wenn die versicherte Person kraft Gesetzes kranken- oder pflegeversicherungspflichtig wird, binnen drei Monaten nach Eintritt der Versicherungspflicht eine Krankheitskosten-, eine Krankentagegeld- oder eine Pflegekrankenversicherung sowie eine für diese Versicherungen bestehende Anwartschaftsversicherung rückwirkend zum Eintritt der Versicherungspflicht kündigen. Dies hat im Ergebnis zur Folge, dass dem Versicherer die Prämie nur bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Versicherungspflicht zusteht. Dabei findet die Regelung des § 205 Abs 2 Satz 1 VVG auch auf den vorliegenden Sachverhalt des Eintritts der Versicherungspflicht nach § 5 Abs 1 Nr 1 SGB V und des Wegfalls der Befreiung nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V Anwendung (vgl Gramse in BeckOK VVG, Stand 05.11.2021, § 205 Rn 7; Rogler in Rüffer ua, VVG, 4. Auflage 2020, § 205 Rn 13).  

Das Vertrauen des Klägers war auch nicht deshalb schützenswert, weil die Rechtswidrigkeit der Befreiung allein in den Verantwortungsbereich der Beklagten fiel. Der Beklagten war aufgrund der von der Arbeitgeberin erstellten Prognose des Jahresarbeitsentgelts für das Jahr 2020 (vgl Schreiben vom 14.01.2020) bekannt, dass der Kläger prognostisch die Jahresarbeitsentgeltgrenze für 2020 nicht erreichen wird und dies nicht auf einer Änderung (=Erhöhung) der Jahresarbeitsentgeltgrenze beruht. Insofern handelte die Beklagte fehlerhaft, als sie dem Antrag des Klägers auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V entsprach. Der Anwendungsbereich des § 45 SGB X würde jedoch zu stark eingeengt, ließe man den Umstand der alleinigen Verantwortlichkeit für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts genügen, um das öffentliche Interesse an der Korrektur der rechtswidrig bewilligten Vergünstigung auf Dauer als weniger gewichtig zu bewerten (BSG 21.06.2001, B 7 AL 6/00 R, juris, mwN). Mit Ausnahme des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X, wonach Vertrauensschutz generell versagt wird, fällt die Ursache für den Erlass eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig in den Verantwortungsbereich der Verwaltung. Würde jeder im Bereich der Verwaltung auftretende Fehler zu einem schutzwürdigen Vertrauen des durch den Verwaltungsakt Begünstigten führen, so bedürfte es der Norm des § 45 SGB X letztlich nicht. Es bliebe bei der Bindungswirkung des § 77 SGG. Eine derartige Konstruktion liefe aber der Zielsetzung des § 45 SGB X, einen rechtswidrigen Zustand auch wieder beseitigen zu können, zuwider. Daher rechtfertigt allein die Tatsache, dass die Fehlerhaftigkeit des begünstigenden Bescheids auf einer unrichtigen Rechtsanwendung seitens der Beklagten beruht, noch nicht ein schutzwürdiges Vertrauen des Begünstigten in den Fortbestand dieser rechtswidrigen Entscheidung (BSG 21.06.2001, B 7 AL 6/00 R, juris, mwN; BSG 14.11.1985, 7 RAr 123/84, BSGE 59, 157). Eine zusätzliche Vertiefung oder Perpetuierung des ursprünglich gemachten Fehlers durch die Beklagte liegt gerade nicht vor. Zwar hat die Beklagte die ausgesprochene Befreiung zunächst mit E-Mail vom 10.02.2020 nochmals bestätigt, aber zeitnah nach Abklärung mit der Arbeitgeberin ihren Fehler mit Bescheid vom 26.02.2020 behoben und unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V für die Zeit ab 01.01.2020 nicht vorlagen. Unter diesen Umständen war vorliegend das Interesse der Allgemeinheit daran, dass der Kläger nicht für längere Zeit aufgrund einer rechtswidrigen Befreiung aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausscheidet, höher zu bewerten als das bei ihm durch die Rechtswidrigkeit der Befreiung möglicherweise entstandene Vertrauen.

Schließlich hat die Beklagte das ihr durch § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X eingeräumte Ermessen in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Die Beklagte hat zunächst im vorliegenden Fall Ermessen betätigt. Dies folgt aus der Begründung des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2020, dem sich entnehmen lässt, dass die Beklagte sich des ihr zustehenden Ermessensspielraums bewusst war, also nicht von einer Rücknahmepflicht ausgegangen ist (vgl zur Ermessensausübung durch die Widerspruchsbehörde BSG 11.02.2015, B 13 R 15/13 R, UV-Recht Aktuell 2015, 725). Im Rahmen der Ermessenserwägungen ist die Beklagte zu dem Ergebnis gelangt, dass unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers und der Verantwortung der Beklagten für die Erteilung der rechtwidrigen Befreiung dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme der Vorrang einzuräumen ist. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, sind nicht ersichtlich.

Da auch die für die Rücknahme einzuhaltenden Fristen nach § 45 Abs 3 Satz 1 und § 45 Abs 3 SGB X gewahrt wurden, ist die Rücknahme des Befreiungsbescheids vom 29.01.2020 mit Wirkung für die Zukunft (zum 01.07.2020) rechtmäßig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Rechtskraft
Aus
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