1. Eine gerichtliche Feststellung von Unfallfolgen oder eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Unfallfolgen ist nur möglich, wenn die Gesundheitsstörungen einem anerkannten Diagnosesystem zugeordnet werden können (verneint für "Symptome einer PTBS" bei fehlendem Nachweis einer PTBS).
2. Außerdem muss die klageweise geltend gemachte Gesundheitsstörung auch hinreichend bestimmt oder zumindest bestimmbar sein (verneint für "sämtliche auf psychischem Fachgebiet vorliegende Gesundheitsstörungen“).
3. Allerdings kann von einem Kläger weder im Verwaltungsverfahren noch im Gerichtsverfahren verlangt werden, dass er eine Gesundheitsstörung nach einem anerkannten Diagnosesystem wie der ICD-10 oder dem DSM-V benennt. Mindestens erforderlich ist unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes aber, dass konkrete Folgeerscheinungen des Unfallereignisses geltend gemacht werden, die es dem Gericht ermöglichen, eine Zuordnung zu einer in einem anerkannten Diagnosesystem genannten Gesundheitsstörung vorzunehmen (vgl. Šušnjar/Spellbrink SGb 2021, 129, 134). Nicht verlangt werden kann insbesondere, dass der Kläger bereits im Antrags- oder Widerspruchsverfahren die Anerkennung einer Unfallfolge mit der exakten Bezeichnung nach der ICD-10 oder dem DSM-V begehrt, die sich dann letztlich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als die zutreffende Diagnose seines Krankheitsbildes herausstellt.
4. Eine Änderung der Klage nach § 99 Abs. 1 SGG liegt nicht vor, wenn im Rahmen der Beweiserhebung ein Sachverständiger eine neue Bezeichnung von umstrittenen Unfallfolgen in das Verfahren einführt, und der Klageantrag daraufhin nach § 99 Abs. 3 SGG angepasst wird. Dem Kläger kann dann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass es hinsichtlich der neu eingeführten Bezeichnung an einem Vorverfahren fehlt; etwas anderes gilt nur dann, wenn Unfallfolgen eines bestimmten medizinischen Fachgebietes bisher nicht Gegenstand der angegriffenen Behördenentscheidung sind oder erst nach der Behördenentscheidung aufgetreten sind.
5. Die Feststellung von Unfallfolgen setzt nicht das Vorliegen von funktionellen Einschränkungen oder das Überschreiten einer gewissen Erheblichkeitsschwelle voraus; eine "Bagatellgrenze" gibt es nicht.
Auf die Berufung des Klägers werden der Bescheid der Beklagten vom 05.06.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2019 und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2021 abgeändert und die Beklagte verurteilt, als weitere Folgen des Arbeitsunfalls des Klägers vom 08.07.2016 eine Hyposensibilität des Zeige-, Mittel- und Ringfingers der linken Hand und eine Narbe an der linken Leiste anzuerkennen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Klage- und Berufungsverfahren zu einem Viertel zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten sind die Anerkennung weiterer Unfallfolgen und die Gewährung einer höheren Verletztenrente im Streit.
Der 1965 geborene Kläger erlitt bei seiner Tätigkeit als Maschinenführer in einem Reifenwerk am 08.07.2016 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall, als er mit der linken Hand in eine Gummipresse geriet.
Der Kläger wurde noch am Unfalltag stationär in der B Unfallklinik L aufgenommen, wo eine schwere Quetschverletzung der linken Hand diagnostiziert wurde. Im Entlassungsbericht über den stationären Aufenthalt bis zum 17.08.2016 wurde angegeben, dass auf Grund der erlittenen Walzenquetschverletzung der linken Hand die Amputation/Avulsion [traumatischer Aus- bzw. Abriss eines Gewebes oder Körperteils] des Zeige- bis Ringfingers links sowie die subtotale Fingerkuppenamputation des Kleinfingers links und die Nagelextraktion des Daumens und des Kleinfingers links erforderlich geworden seien. Da die Langfinger D2 bis D4 der linken Hand nicht mehr hätten rekonstruiert werden können, sei eine knöcherne Stumpfbildung und eine Weichteilrekonstruktion durch Anlage eines gestielten Leistenlappens vorgenommen worden. Der postoperative Verlauf habe sich ohne wesentliche Komplikationen gestaltet. Während eines nachfolgenden stationären Aufenthalts wurden eine Syndaktylietrennung [Spaltung des Leistenlappens] des Mittel- und Ringfingers links, eine Ausdünnung der Lappenplastik sowie eine Hautnaht vorgenommen.
Erstmalig mit Bericht vom 17.11.2016 berichtete die S von einem Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ICD-10 F.43.1V. Diese Aussage erfolgte im Rahmen der psychologischen Mitbetreuung während des dritten stationären Aufenthalts des Klägers vom 15.11. bis 17.11.2016 in der B-Klinik, wo eine Syndaktylietrennung des Zeige- und Mittelfingers links im Rahmen der sukzessiven Leistenlappenausdünung erfolgt war.
Der Kläger befand sich anschließend in der Behandlung bei der B1, die am 02.12.2016 vorläufig einen Verdacht auf eine mittelgradige depressive Episode sowie einen Verdacht auf eine PTBS (ICD 10 F 32.1G und F 43.1G) diagnostizierte, welchen sie in ihrem Bericht vom 24.01.2017 bestätigt sah.
Der Kläger befand sich daraufhin vom 01.02. bis 22.02.2017 in stationärer Behandlung in der Abteilung für Psychologie der B-Unfallklinik L. Hier wurden von der R die Diagnosen PTBS (F 43.1) und depressive Episode – mittelgradig – (F 32.1) gestellt.
Es erfolgten zwei weitere Operationen an der linken Hand (09.11.2017: weitere Lappenausdünnung Zeige- und Ringfinger sowie Konturierung; 09.02.2018: Arthrodese und Resektion).
Im ersten Rentengutachten des K vom 19.04.2018 wurden die wesentlichen Unfallfolgen mit ihren funktionellen Einschränkungen wie folgt bezeichnet:
Kraftverlust der linken Hand
Eingeschränkter Faustschluss der linken Hand
Kälte- Überempfindlichkeit und Hitze-Überempfindlichkeit der linken Hand
Schmerzen an der linken Hand
Hyposensibilität des Zeige-, Mittel- und Ringfingers der linken Hand
Verminderung des Umfangs von Oberarm, Unterarm und Mittelhand links
Narbe an der linken Leiste
Radiologische Veränderungen
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage seit dem 05.01.2018 durchgängig 30 von Hundert (v.H.).
Mit vorläufigem Bescheid vom 06.06.2018 bewilligte die Beklagte daraufhin eine Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H., wobei mitgeteilt wurde, dass über die Höhe der MdE noch nicht abschließend entschieden werden könne und diese jedoch mindestens 30 v.H. betrage.
Der Kläger befand sich vom 30.05. bis 04.07.2018 zur verhaltenstherapeutischen Behandlung in der Fachklinik für Psychosomatik und Verhaltensmedizin B2. Hier wurden die Diagnosen PTBS (F 43.1), mittelgradige depressive Episode mit chronischem Verlauf (F 32.1), sowie neben den bereits vorbenannten Diagnosen auf chirurgischem Fachgebiet ein HWS-Syndrom mitgeteilt.
In dem nervenärztlichen Gutachten zur Zusammenhangsfrage vertrat der H am 25.01.2019 die Auffassung, dass in allen bisherigen psychologischen Befundberichten nicht zwischen Beschwerden und eigentlicher Befundung getrennt worden sei, und eine gezielte Anamnese und Beurteilung der Kriterien für eine PTBS bisher ebenfalls nicht erfolgt seien. Das psychopathologische Gesamtbild des Klägers könne das Vorliegen dieser Störung nicht begründen. Für den Kläger stünden die erhebliche Handverletzung und die hierdurch erlittene Schädigung des Selbstwertes deutlich im Vordergrund, was zu einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und verminderter Fähigkeit führe, Freude zu empfinden. Hinweise für Aggravation oder Simulation bestünden nicht. Es handele sich um eine Trauma-Folgestörung im Sinne einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10 F 32.1). Eine PTBS liege nicht vor. Die mittelgradige depressive Episode führe zu einer relevanten Einschränkung in psychisch-emotionalen und sozial-kommunikativen Bereichen und sei mit einer MdE um 15 v.H. zu bewerten.
Mit Bescheid vom 20.02.2019 wurde daraufhin die vorläufig gewährte Verletztenrente entsprechend einer unfallbedingten MdE um 40 v.H. erhöht. Als Folgen des Unfallereignisses wurden für den linken Arm nunmehr anerkannt:
Kraftminderung und eingeschränkter Faustschluss der Hand
Überempfindlichkeit der Fingerstümpfe
Muskelminderung des Armes und der Hand nach Avulsionsverletzung des Zeige-, Mittel und Ringfingers bis auf Höhe deren Mittelglieder sowie des Kleinfingers auf Höhe dessen Fingerkuppe
die Folgen einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und Freudlosigkeit.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat deswegen am 20.03.2019 Widerspruch erhoben, der zunächst nicht begründet wurde.
Am 13.05.2019 erstattete K das zweite Rentengutachten, in welchem er für sein Fachgebiet weiterhin von einer MdE um 30 v.H. ausging. Die wesentlichen Unfallfolgen mit ihren funktionellen Einschränkungen bezeichnete er nunmehr wie folgt:
Ausgeprägtes Beuge- sowie Streckdefizit des Zeige- und Mittelfingers der linken Hand
Ausgeprägte Greifkraftminderung der Hand links im Seitenvergleich
Persistierende Schmerzen im Bereich der linken Hand
Inkompletter Faustschluss links
Hyposensibilität [Gefühlsstörung im Sinne einer Unterfunktion/Gefühlsminderung] des Zeige- (Mittel- und Ringfingers links)
Ausgeprägte Kälte- und Wärmeempfindlichkeit der linken Hand
Umfangsminderung der linken oberen Extremität im Seitenvergleich
Narbe Leiste links.
Mit Bescheid vom 05.06.2019 gewährte die Beklagte die bisherige vorläufige Verletztenrente als Rente auf unbestimmte Zeit in der bisherigen Höhe nach einer MdE um 40 v.H. Die Unfallfolgen am linken Arm wurden nunmehr wie folgt bezeichnet:
Kraftminderung, Beuge- und Streckdefizit des Zeige- und Mittelfingers und eingeschränkter Faustschluss der Hand
Überempfindlichkeit der Fingerstümpfe
Muskelminderung des Armes und der Hand nach Avulsionsverletzung des Zeige-, Mittel- und Ringfingers bis auf Höhe deren Mittelglieder sowie des Kleinfingers auf Höhe dessen Fingerkuppe
die Folgen einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und Freudlosigkeit.
Der Klägerbevollmächtigte ging mit Schriftsatz vom 11.07.2019 davon aus, dass der Bescheid vom 05.06.2019 Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gemäß § 86 SGG geworden war, und begründete den Widerspruch damit, dass als zusätzliche Unfallfolgen eine PTBS sowie Schmerzen an der linken Hand, eine Hyposensibilität des Zeige- Mittel- und Ringfingers der linken Hand, eine Narbe an der linken Leiste und radiologische Veränderungen anzuerkennen seien, und die Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 50 v.H. zu gewähren sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.08.2019 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen, wozu die Beklagte sich auf die Bewertung der K und H stützte. Weitere Unfallfolgen seien nicht anzuerkennen, weil eine PTBS nicht nachgewiesen sei. Die Narbe an der linken Leiste sei nicht als Unfallfolge anzuerkennen, da sie keine funktionellen Auswirkungen habe. Die Missempfindungen der linken Hand seien bereits anerkannt. Die Verletztenrente werde in zutreffender Höhe gewährt.
Der Klägerbevollmächtigte hat am 16.09.2019 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und seinen bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat hierzu insbesondere vorgetragen, dass die Voraussetzungen der Rechtsprechung für die Anerkennung von weiteren psychischen Gesundheitsstörungen nicht erfüllt seien.
Das SG hat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei S1 in Auftrag gegeben, welches dieser am 26.03.2020 vorgelegt hat. Hierin ist auch eine detaillierte Fotodokumentation über den aktuellen Zustand der Hände des Klägers enthalten. Der körperliche Befund zeige einen Mann von regelrechtem Trainings- und Pflegezustand. Die linke Hand werde unterstützend zum Gebrauch der rechten eingesetzt. Sichtbare und tastbare Beschwielungen über den Fingergrundgelenken III - V links zeigten, dass die Hand zumindest in ihrem speichenwärtigen Anteil nahezu regelrecht belastet werde. Dass der Einsatz nicht so ist wie auf der rechten Seite, dokumentiere die Umfangsminderung von 2 cm am linken Unterarm. Auf neurologischem Fachgebiet sei von einer motorischen Teilschädigung des Nervus medianus der linken Hand mit leichter Minderung der Daumenballenmuskulatur (elektrophysiologisch bestätigt) auszugehen. Sensibel bestehe eine Teilschädigung der beugeseitigen Rami Digitales proprii der Finger I bis V (sensible Endäste), besonders ausgeprägt für die Finger II bis IV. Auf psychiatrischem Fachgebiet lägen keine Gesundheitsstörungen vor, insbesondere keine PTBS. Die im chirurgischen Gutachten beschriebenen Unfallfolgen überlappten sich weitgehend mit den auf neurologischem Fachgebiet festgestellten, insbesondere hinsichtlich der subjektiven Beschwerden (Schmerzen, Missempfindungen, Minderung der Handgeschicklichkeit). Vorschäden seien nicht bekannt. Die neurologische MdE sei mit 20 v.H. zu bewerten. Die Gesamt-MdE betrage 40 v.H., wobei die teilweise Überschneidung der Unfallfolgen auf neurologischem und chirurgischem Fachgebiet berücksichtigt werde. Hierzu hat der Gutachter auf die Fundstelle in Fritze-Mehrhoff, Die ärztliche Begutachtung, 8. Auflage, Seite 763, verwiesen, wonach zwar lediglich die Endglieder der Finger II bis IV amputiert seien (entsprechend Abbildung B), allerdings die Funktion der erhaltenen Mittelglieder durch die narbigen Veränderungen, die Folgen der Lappenplastik und die Gefühlsstörungen sowie die Gelenkversteifung in den Grundgelenken und PIP-Gelenken stärker beeinträchtigt sei. Eine höhere MdE, insbesondere im Bereich von 50 v.H. wie von dem Kläger angestrebt, sei aus medizinischer Sicht nicht zu rechtfertigen. Die linke Hand werde durchaus gebraucht und zeige auch Verarbeitungsspuren, was sich aus der nur mäßig ausgeprägten Muskelminderung am linken Unterarm ergebe.
In der mündlichen Verhandlung vom 24.03.2021 hat der Kläger erklärt, zwischenzeitlich mehrmals auf seiner Arbeitsstelle gewesen zu sein, um dort Gespräche mit seinem Vorgesetzten zu führen. Er habe es dort jedoch keine zwei Minuten ausgehalten und nur von dort weggewollt. Er fange an zu schwitzen und zu zittern. Auch die Wiedereingliederung im Januar 2021 sei nach wenigen Tagen gescheitert. Eventuell bestehe die Möglichkeit einer Wiedereingliederung an einem anderen Standort.
Mit Urteil vom 24.03.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Soweit der Kläger die Anerkennung der Narbe an der linken Leiste und die radiologischen Veränderungen als weitere Unfallfolgen verfolge, sei die Klage mangels Durchführung des Vorverfahrens unzulässig. Eine Entscheidung der Beklagten über diese Unfallfolgen liege in den angegriffenen Bescheiden bisher nicht vor. Soweit der Kläger die Schmerzen an der linken Hand und die Hyposensibilität des Zeige-, Mittel- und Ringfingers der linken Hand als weitere Unfallfolgen begehre, sei die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, denn die Beklagte habe in den angegriffenen Bescheiden bereits u.a. für die linke Hand eine Überempfindlichkeit der Fingerstümpfe als Unfallfolge anerkannt. Die von dem Kläger geltend gemachten Schmerzen und Hyposensibilität seien daher bereits in der von der Beklagten anerkannten Unfallfolge anerkannt, so dass es einer nochmaligen Anerkennung nicht bedürfe. Die Anerkennung einer PTBS als weitere Unfallfolge scheitere daran, dass diese Unfallfolge nicht vorliege. Es bestehe auch kein Anspruch auf die Gewährung einer höheren Verletztenrente. Zur Begründung hat das SG sich maßgeblich auf die Ausführungen des K und H sowie des S1 gestützt. Zwar sei das Unfallereignis grundsätzlich geeignet gewesen, eine PTBS auszulösen. Überzeugende Feststellungen im Rahmen der Diagnosesysteme hierzu lägen jedoch von ärztlicher Seite nicht vor, wozu auf die schlüssigen Ausführungen des S1 verwiesen werde. Mit Blick auf das B - oder Wiedererlebenskriterium hätten sowohl H als auch S1 in ihrer Begutachtung festgehalten, dass eine entsprechende Flashback-Symptomatik auf Befundebene nicht zu sichern gewesen sei. Auch sei das C - oder Vermeidungskriterium nach diesen beiden Gutachtern bei der Exploration nicht erkennbar gewesen. Ob auf psychiatrischem Fachgebiet unfallbedingt eine mittelgradige depressive Erkrankung mit H vorliege oder mit S1 abzulehnen sei, bedürfe keiner Entscheidung, weil die Beklagte in den angegriffenen Bescheiden diese Unfallfolge bereits anerkannt habe. Unter Berücksichtigung der auf chirurgischem Fachgebiet bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen und der auf neurologischem Fachgebiet festgestellten Teilschädigung des Nervus medianus der linken Hand mit leichter Minderung der Daumenballenmuskulatur sei die Bewertung der MdE mit insgesamt 40 v.H. entsprechend den Gutachtern seitens der Beklagten zutreffend erfolgt. Das Urteil ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 30.03.2021 zugestellt worden.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat am 09.04.2021 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Zur Begründung hat der Klägerbevollmächtigte insbesondere auf die in den Verwaltungsakten enthaltenen ärztlichen Berichte über das Vorliegen einer PTBS Bezug genommen, und weiter ausgeführt, dass die Schwere der von dem Kläger erlittenen Verletzungen nicht ausreichend berücksichtigt worden sei und die Gewährung einer höheren Verletztenrente rechtfertige.
Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers gemäß § 109 SGG ist ein psychiatrisches Gutachten vom 09.03.2022 bei dem E vom Uklinikum F eingeholt worden. Seitens des psychiatrischen Fachgebietes liege danach bei dem Kläger eine ängstlich-depressive Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen vor. In dieser Diagnose seien Symptome einer PTBS und einer depressiven Störung, die im Gutachten des H genannt würden, enthalten. Die ängstlich-depressive Entwicklung sei mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der Entstehung allein auf den Arbeitsunfall und seine Folgen zurückzuführen. Vorschäden oder anlagebedingte Veränderungen seien nicht bekannt. Die MdE werde seitens des psychiatrischen Fachgebietes auf 20 v.H. geschätzt, eine Einteilung im Bereich von 10 bis 20 v.H. werde als adäquat erachtet. Die Gesamtunfallfolgen müssten von den jeweiligen Sachgebieten eingeschätzt werden. Es sei anzunehmen, dass je nach Würdigung des Gerichts eine Gesamt-MdE von 40 bis 50 v.H. adäquat sei. Es bestehe Übereinstimmung mit dem Gutachten des H vom 25.01.2019, es seien ähnliche Befunde erhoben worden. Eine Abweichung in der Einschätzung der MdE um 5 v.H. sei nach Einschätzung des Gutachters durch die Tendenz zur Verschlimmerung der Symptomatik erklärt. Weitere Begutachtungen seien nicht erforderlich.
Der Kläger beantragt zuletzt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2021 und unter Abänderung der Bescheide der Beklagten vom 20.02.2019 und 05.06.2019 jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2019 zu verurteilen,
beim Kläger zusätzlich zu den bereits in diesen Bescheiden anerkannten Unfallfolgen als Folgen des Versicherungsfalles vom 08.07.2016 auch
eine PTBS bzw. Symptome einer PTBS / sämtliche beim Kläger auf psychischem Fachgebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen, insbesondere eine ängstlich-depressive Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen, Ängste und Albträume mit dadurch induzierten Schlafstörungen,
Schmerzen an der linken Hand, Hyposensibilität des Zeige-, Mittel- und Ringfingers der linken Hand, Narbe an der linken Leiste und radiologische Veränderungen
anzuerkennen
und dem Kläger wegen dieser Folgen des Versicherungsfalles eine Rente nach einer MdE von mindestens 50 v.H. zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Sie hat zur Berufungserwiderung im Wesentlichen auf die eingeholten Gutachten verwiesen. Zu dem Gutachten des E hat sie die Auffassung vertreten, dass sich hieraus keine wesentlichen neuen Erkenntnisse ergäben. Soweit der Gutachter seine auf psychiatrischem Fachgebiet eingeschätzte MdE auf eine Tendenz zur Verschlimmerung der Symptomatik stütze, sei dies nicht hinreichend objektivierbar. Vielmehr habe der Kläger erfreulicherweise ab dem 04.04.2022 nach einer Arbeits- und Belastungserprobung eine erfolgreiche Eingliederung bei seinem bisherigen Arbeitgeber (in einen neuen Arbeitsbereich) absolviert. Entsprechend sei auch die Begründung der Einzel-MdE am oberen Rand der Einschätzung auf Grund angenommener beruflicher Auswirkungen nicht nachvollziehbar. Eine PTBS liege auch nach der Einschätzung von E nicht vor. Die bereits festgestellte MdE entspreche den festgestellten Funktionseinschränkungen.
Anschließend ist mit Verfügung vom 11.04.2022 bei dem Klägerbevollmächtigten um Bestätigung gebeten worden, ob der Kläger tatsächlich wieder vollschichtig bei seinem früheren Arbeitgeber tätig ist. Außerdem ist um eine Beschreibung des aktuellen Arbeitsplatzes sowie um Auskunft gebeten worden, ob bei dem Kläger insoweit eine Lohneinbuße eingetreten ist.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten und die Akten des SG sowie des LSG Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber nur zum Teil begründet. Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entschieden.
Die Beklagte hat in den angegriffenen Bescheiden zu Unrecht die Anerkennung von weiteren Unfallfolgen abgelehnt, weswegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.03.2021 und die angegriffenen Bescheide insoweit teilweise abzuändern sind. Ein Anspruch auf die Gewährung einer höheren Verletztenrente besteht jedoch auch unter Berücksichtigung der Anerkennung weiterer Unfallfolgen nicht.
1. Soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung weiterer Unfallfolgen begehrt, ist richtige Klageart die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG oder nach Wahl des Versicherten die Anfechtungsklage kombiniert mit der Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG (vgl. BSG 05.07.2011 - B 2 U 17/10 R -, BSGE 108, 274 und BSG 27.04.2010 - B 2 U 23/09 R -). Bei dem Klageantrag in der durch den Bevollmächtigten formulierten Fassung handelt es sich demnach um eine nach § 54 Abs. 1 SGG zulässige Anfechtungs- und Verpflichtungsklage mit dem Ziel der Feststellung weiterer Unfallfolgen, welche mit den angefochtenen Bescheiden als weitere Unfallfolgen abgelehnt wurden. Hiermit verbunden kann der Kläger auch die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG im Hinblick auf die Gewährung höherer Verletztenrente verfolgen.
2. a) Streitgegenständlich sind demnach die in den zugrundeliegenden Bescheiden nicht anerkannten weiteren Unfallfolgen und die Gewährung von höherer Verletztenrente. Da es sich bei dem Bescheid vom 20.02.2019 (wie bei dem nicht mit einem Widerspruch angegriffenen Bescheid vom 06.06.2018) nur um die vorläufige Gewährung einer Verletztenrente handelte, welche mit Bescheid vom 05.06.2019 abschließend erfolgte, hat sich der Bescheid vom 20.02.2019 gemäß § 39 Abs. 2 SGB X erledigt und ist nicht mehr streitgegenständlich (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.07.2019 – L 19 AS 702/19 –, Rn. 36, juris). Nach § 86 SGG wurde der Bescheid vom 05.06.2019 Gegenstand des wegen des Bescheids vom 20.02.2019 laufenden Vorverfahrens.
b) Sofern der Kläger im Berufungsverfahren zusätzlich zu den vor dem SG gestellten Anträgen die Anerkennung der Unfallfolgen „Symptome einer PTBS / sämtliche beim Kläger auf psychischem Fachgebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen, insbesondere eine ängstlich-depressive Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen, Ängste und Albträume mit dadurch induzierten Schlafstörungen“ verfolgt, handelt es sich um eine nach § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG auch noch im Berufungsverfahren zulässige Erweiterung des Klageantrags in der Hauptsache nach § 54 Abs. SGG (Verpflichtung zur Feststellung von Unfallfolgen), die im Übrigen auch als Klageänderung nach § 99 Abs. 1 SGG als sachdienlich anzusehen wäre. Denn es entspricht dem Gebot der Prozessökonomie, über alle bekannten Folgen desselben Unfalls in einem Verfahren zu entscheiden (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.04.2019 – L 6 U 175/18, beck-online Rn. 29). Eine Geltendmachung dieser Unfallfolgen war dem Kläger vorher nicht möglich, weil diese Formulierungen bezüglich der Unfallfolgen erstmalig durch das aktuelle Gutachten des Psychiaters und Psychotherapeuten E vom 09.03.2022 in das Verfahren eingeführt worden sind. Insofern kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, dass es „insoweit“ an dem Vorverfahren nach § 78 SGG fehlt, weil eine Entscheidung der Beklagten zu den Unfallfolgen auf dem orthopädisch-chirurgischen und auf dem neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet vorliegt, welche jedoch die vom Kläger nunmehr zusätzlich auf diesen Fachgebieten bezeichneten Unfallfolgen nicht umfasst. Es liegt damit weder der Fall vor, dass Unfallfolgen eines bestimmten Fachgebietes bisher nicht Gegenstand der angegriffenen Behördenentscheidung sind, noch der Fall, dass die Unfallfolgen erst nach der Behördenentscheidung aufgetreten sind (vgl. hierzu Landessozialgericht für das Saarland, Urteil vom 23.06.2021 – L 7 U 25/20 –, Rn. 59 ff., juris).
3. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens sind die Unfallfolgen des Arbeitsunfalls vom 08.07.2016 von der Beklagten mit der Beschreibung einer Kraftminderung, eines Beuge- und Streckdefizits des Zeige- und Mittelfingers und eines eingeschränkten Faustschlusses der Hand, einer Überempfindlichkeit der Fingerstümpfe, einer Muskelminderung des Armes und der Hand nach Avulsionsverletzung des Zeige-, Mittel- und Ringfingers bis auf Höhe deren Mittelglieder sowie des Kleinfingers auf Höhe dessen Fingerkuppe sowie von Folgen einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und Freudlosigkeit in ihrem Bescheid vom 05.06.2019 weitgehend zutreffend anerkannt worden.
Zusätzlich sind jedoch gemäß den Anträgen des Klägers eine Hyposensibilität [Gefühlsstörung im Sinne einer Unterfunktion/Gefühlsminderung] des Zeige- (Mittel- und Ringfingers links) und die Narbe an der linken Leiste des Klägers als Unfallfolgen anzuerkennen. Im Übrigen sind weitere Unfallfolgen jedoch nicht nachgewiesen.
Nachgewiesene Gesundheitsstörungen sind als zusätzliche Folgen des Arbeitsunfalls anzuerkennen, wenn zwischen dem Unfallereignis und ihnen entweder direkt oder vermittelt durch den Gesundheitserstschaden ein Ursachenzusammenhang im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB VII besteht (BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R -, Juris). Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr. vgl. stellvertretend BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, jeweils RdNr. 11). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76).
Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R –, BSGE 96, 196-209, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.
Bei mehreren Ursachen ist sozialrechtlich allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende (Mit-)Ursache auch wesentlich war, ist unerheblich. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) „wesentlich“ und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als „wesentlich“ anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als „Gelegenheitsursache“ oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen (ständige Rechtsprechung; vgl. stellvertretend zum Vorstehenden insgesamt BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R, SozR 4 2700 § 8 Nr. 17; B 2 U 40/05 R, UV Recht Aktuell 2006, 419; B 2 U 26/04R, UV Recht Aktuell 2006, 497; alle auch veröffentlicht in Juris).
Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs – der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität – genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (st. Rspr. BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a. F. RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 a. F. RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 55a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R und B 2 U 26/04 R - a.a.O. m.w.H.). Dagegen müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des „Vollbeweises“, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 m. w. N.).
a) Auf psychiatrischem Fachgebiet besteht kein Anspruch auf die Anerkennung einer „PTBS bzw. von Symptomen einer PTBS oder sämtlicher beim Kläger auf psychischem Fachgebiet vorliegender Gesundheitsstörungen, insbesondere einer ängstlich-depressiven Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen, Ängsten und Albträumen mit dadurch induzierten Schlafstörungen“ als weitere Unfallfolgen.
Das Vorliegen einer PTBS ICD-10 F. 43.1 wird von allen Gutachtern einschließlich dem nach § 109 SGG von dem Kläger benannten E verneint. Der Senat hält dies zunächst mit den Ausführungen des H – dessen Gutachten der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet – für überzeugend, weil auch angesichts der zuvor von den behandelnden Ärzten festgestellten PTBS nicht genügend zwischen dem Beschwerdevortrag des Klägers und der Befundung unterschieden worden ist, und bei einer zielgerichteten Untersuchung hierauf nicht alle hierfür erforderlichen Kriterien nachgewiesen worden sind. Diese Einschätzung einer nicht bestehenden PTBS wurde sowohl von dem S1 als auch von dem E bestätigt. Bei der Untersuchung durch S1 mit einer ausführlichen Exploration des Unfallgeschehens wie auch der Folgen kam es zu keinerlei Auffälligkeiten im Sinne der PTBS. Weder bestand ein Vermeidungsverhalten, sich mit dem Geschehen ausgiebig zu befassen, noch traten auffällige vegetative Reaktion, dissoziative Zustände, ein Flashback, lntrusionen oder Gedächtnisstörungen auf. Ein ähnliches Bild zeigte sich bei der Untersuchung durch E, welcher ebenfalls eine PTBS mit Bestimmtheit ausschloss.
Allerdings hat E „Symptome einer PTBS“ festgestellt. Insofern scheitert eine Anerkennung als Unfallfolge nach dem SGB VII aber bereits daran, dass es sich hierbei nicht um eine anerkannte Diagnose nach der ICD-10 oder dem DSM-V handelt (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 05.11.2020 – L 1 U 1121/17 –, juris, zur Nichtanerkennung einer „partiellen posttraumatischen Belastungsstörung“ als Gesundheitsschaden mangels Zuordnung zu einem international anerkannten Diagnosesystem).
Dies gilt auch für den weiteren Antrag des Klägers, „sämtliche bei ihm auf psychischem Fachgebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen“ anzuerkennen; dieser Antrag ist zusätzlich auch zu unbestimmt, um eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung im Sinne von § 54 Abs. 1 SGG zuzulassen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Dezember 2016 – L 6 U 1099/16 –, Rn. 39, juris). Insoweit ist unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes zumindest zu fordern, dass der Kläger konkrete Folgeerscheinungen des Unfallereignisses geltend macht, wobei es dann Aufgabe des Gerichts ist, die konkrete Zuordnung zu einer der in der ICD-10 genannten Krankheiten vorzunehmen (vgl. Šušnjar/Spellbrink, Streitgegenstand und Klageantrag bei der Feststellung von Gesundheitsstörungen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, SGb 2021, 129, 134). Nicht verlangt werden kann danach insbesondere, dass der Kläger bereits im Antrags- oder Widerspruchsverfahren die Anerkennung einer Unfallfolge mit der exakten Bezeichnung nach der ICD-10 oder dem DSM V begehrt, die sich dann letztlich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als die zutreffende Diagnose seines Krankheitsbildes herausstellt. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Erfordernis mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar wäre. Insbesondere dürfen zulässigerweise etwas weiter gefasste Anträge oder Klageanträge nicht vorschnell zu eng ausgelegt werden (Šušnjar/Spellbrink, a.a.O. S. 133). Es ist aber zu verlangen, dass der Kläger eine hinreichend genaue Krankheitsbeschreibung verwendet, die weitere Ermittlungen der Verwaltung bzw. der Gerichte in eine bestimmte Richtung zur Präzisierung des Antrags nach § 54 Abs. 1 bzw. § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG zulässt. Insoweit dürfte erforderlich sein, dass der der betroffene Körperteil und/oder das medizinische Funktionssystem dem Vortrag des Klägers zumindest indirekt zu entnehmen sind (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.04.2019 – L 6 U 175/18, beck-online Rn. 29, insbesondere zu der sich hierzu ggf. stellenden weiteren Frage einer zulässigen Klageänderung nach § 99 SGG, siehe oben Ziff. 2b).
Solche hinreichend genau benannten Krankheitsbeschreibungen hat der Kläger zwar mit den weiteren Formulierungen in seinem Antrag „ängstlich-depressive Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen, Ängste und Albträume mit dadurch induzierten Schlafstörungen“ tatsächlich vorgetragen. Ein Anspruch auf Anerkennung weiterer Unfallfolgen besteht auch insoweit jedoch nicht. Denn bei dem Kläger sind von der Beklagten bereits Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet gemäß der ICD-10 in Form der „Folgen einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und Freudlosigkeit“ anerkannt worden, welche nach den Feststellungen etwa des H die von dem Kläger genannten Beschwerden umfassen. So hat H hierzu in seinem Gutachten vom 25.01.2019 überzeugend ausgeführt, dass bei dem Kläger die erhebliche Handverletzung und die hierdurch erlittene Schädigung des Selbstwertes deutlich im Vordergrund stehen, was zu einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und verminderter Fähigkeit führt, Freude zu empfinden. Es handelt sich nach den auch insoweit überzeugenden Ausführungen des H um eine Trauma-Folgestörung im Sinne einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10 F 32.1).
Der Umstand, dass S1 Unfallfolgen auf psychiatrischem Fachgebiet gänzlich verneint, führt insoweit bereits deswegen zu keiner anderen Bewertung, da die Anerkennung dieser Unfallfolgen durch die Beklagte bereits bestandskräftig erfolgt ist. In der Sache ist dies zur Überzeugung des Senats mit den Ausführungen von H und E auch zu Recht erfolgt.
Der E hat in seinem Gutachten vom 09.03.2022 die Feststellungen des H ausdrücklich bestätigt, weicht allerdings in der Diagnosestellung – seiner Meinung nach nur geringfügig – ab, indem er eine ängstlich-depressive Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen beschreibt, welche zusätzlich zu der von H festgestellten depressiven Störung Elemente einer PTBS berücksichtigt. Dies hält der Senat mit den Ausführungen des H jedoch nicht für überzeugend, da eine PTBS auch nach E bereits dem Grunde nach nicht vorliegt, weswegen es nicht zulässig erscheint, auf die von ihm (ungenau) zitierte ICD-10- Diagnose „F. 43“ (sic) zurückzugreifen und einzelne Symptome hiervon als Unfallfolge festzustellen.
b) Ebenfalls besteht kein Anspruch auf die zusätzliche Anerkennung der weiteren Unfallfolgen „Schmerzen an der linken Hand“ und „radiologische Veränderungen“.
Der Kläger verkennt bei der Stellung dieser Anträge, dass in der Anerkennung der Überempfindlichkeit der Fingerstümpfe und der Avulsionsverletzung [traumatischer Aus- bzw. Abriss eines Gewebes oder Körperteils] des Zeige-, Mittel- und Ringfingers bis auf Höhe deren Mittelglieder sowie des Kleinfingers auf Höhe dessen Fingerkuppe sowohl die Schmerzen als auch die radiologischen Veränderungen von der Beklagten bereits anerkannt worden sind. Die Avulsionsverletzung mit der Formulierung „des Zeige-, Mittel- und Ringfingers bis auf Höhe deren Mittelglieder sowie des Kleinfingers auf Höhe dessen Fingerkuppe“ beschreibt gerade die bei dem Kläger erfolgte und radiologisch nachweisbare Amputationsverletzung, und damit auch die vom Klägerbevollmächtigten beantragten „radiologischen Veränderungen“.
Im Hinblick auf die vom Kläger angeführten Schmerzen wird die Anerkennung der eingetretenen Unfallfolge durch die Formulierung „Überempfindlichkeit“ abgedeckt, wobei sich aus keinem der Gutachten Anhaltspunkte dafür ergeben, dass insoweit Schmerzen in einem Umfang vorliegen, der über die Formulierung „Überempfindlichkeit“ hinausgeht.
c) Die Beklagte hat es allerdings zu Unrecht abgelehnt, eine Hyposensibilität des Zeige-, Mittel- und Ringfingers der linken Hand und die Narbe an der linken Leiste als Unfallfolgen anzuerkennen. Das Vorliegen dieser Unfallfolgen ergibt sich zweifelsfrei aus den beiden Gutachten des K. Bei dem Kläger besteht die Besonderheit, dass die Fingerstümpfe überempfindlich sind, die betroffenen Finger jedoch gleichzeitig unterempfindlich (hypo- statt hypersensibel). Insoweit war diese zusätzliche Unfallfolge anzuerkennen.
Die Anerkennungsfähigkeit der Narbe an der linken Leiste folgt daraus, dass hier gesunde Hautstellen für die Rekonstruktion der linken Hand des Klägers entnommen werden mussten, als in der ersten Operation des Klägers am 29.07.2016 eine Leistenlappenplastik durchgeführt wurde. Es handelt sich um den typischen Fall einer mittelbaren Unfallfolge infolge der Durchführung einer Heilbehandlung nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII (vgl. BSG, Urteil vom 05. Juli 2011 – B 2 U 17/10 R –, BSGE 108, 274-289, SozR 4-2700 § 11 Nr 1, Rn. 33). Sofern das SG annimmt, dass die Klage im Hinblick auf diese Unfallfolge mangels Durchführung eines Vorverfahrens unzulässig sei, ist dies unzutreffend. In dem Widerspruchsbescheid vom 16.08.2019 wird diese Unfallfolge, die der Kläger zuvor mit seiner Widerspruchsbegründung vom 11.07.2019 geltend gemacht hatte, explizit abgelehnt.
Die in dem Widerspruchsbescheid und im Berufungsverfahren vertretene – und für sich genommen zutreffende – Auffassung der Beklagten, dass insoweit keine Funktionseinschränkung vorliegt, steht der Anerkennung einer entsprechenden Unfallfolge nicht entgegen. Das Vorliegen funktioneller Einschränkungen ist eine wesentliche Voraussetzung für das Vorliegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und die Gewährung einer Verletztenrente (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII; grundsätzlich hierzu BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, BSGE 96, 196-209), worum es vorliegend allerdings nicht geht. In § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG findet sich keinerlei Einschränkung dahingehend, dass für den Bereich der Unfallversicherung eine Feststellung von Unfallfolgen erst ab einer wie auch immer gearteten Erheblichkeitsschwelle oder ab dem Vorliegen von funktionellen Einschränkungen erfolgen soll (SG Karlsruhe, Urteil vom 27. Juni 2014 – S 4 U 1782/13 –, Rn. 28, juris). Dies ist auch bei der hier erfolgten zulässigen Wahl des Klägers, die Feststellung von Unfallfolgen durch die Beklagte im Wege der Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG zu verfolgen, zu beachten. Grundsätzlich erfolgt die Feststellung von Unfallfolgen unabhängig von der Feststellung von funktionellen Einschränkungen, weswegen in Bescheiden der Unfallversicherungsträger hierzu auch voneinander unabhängige Regelungen vorliegen, die ein unterschiedliches rechtliches Schicksal ereilen kann (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 19.042011 – L 9 U 2866/09 –, juris; vgl. auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2013 – L 10 U 176/11 –, juris). Insoweit liegt bei der Feststellung von Unfallfolgen auch eine andere Interessenlage als bei der Gewährung von Verletztenrente vor, weil der Antrag auf Anerkennung bestimmter Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen (Feststellungs- oder Verpflichtungsantrag) auch im Hinblick auf die von der Beklagten nach dem SGB VII zu gewährende Heilbehandlung von Bedeutung ist (BSG, Urteil vom 28.06.1984 – 2 RU 64/83 –, juris), die ebenfalls keine Geringfügigkeitsschwelle kennt.
Zwar könnte ein Feststellungsinteresse bezüglich Unfallfolgen nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG – wiederum entsprechend angewendet bei der hier vom Kläger zulässigerweise für die Unfallfolgen gewählten Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG – dann fraglich sein, wenn leistungsauslösende Spätfolgen sicher ausgeschlossen werden können und sich das Vorliegen eines Bagatellfalles aufdrängt. Ein solcher Bagatellfall könnte jedoch nur ein solcher sein, bei dem Spätfolgen in jeder Weise, also auch eine in ferner Zukunft liegende Erforderlichkeit der Behandlung, praktisch ausgeschlossen werden kann. Eine solche Feststellung zu treffen sieht der Senat sich jedoch außerstande, da die Entwicklung von Spätschäden nie gänzlich oder jedenfalls mit genügender Überzeugungskraft auszuschließen sein dürfte, zumal bei einer solchen Entscheidung nicht nur der gegenwärtige Stand der medizinischen Wissenschaft, sondern der kaum abzuschätzende Fortschritt der medizinischen Erkenntnismöglichkeiten zu berücksichtigen wäre (vgl. BSG, Urteil vom 16. März 1994 – 9 RV 2/93 –, SozR 3-1500 § 55 Nr 18, SozR 3-3200 § 81 Nr 11, Rn. 19).
4. Ein Anspruch auf höhere Verletztenrente besteht jedoch nicht. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um mehr als 40 v.H. liegen nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme nicht vor. Zum einen sind nur relativ geringfügige von der Beklagten bisher nicht berücksichtigte weitere Unfallfolgen zu berücksichtigen, welche keine wesentliche zusätzliche Funktionsminderung erkennen lassen (oben Ziff. 3 c). Zum anderen entspricht die Bewertung der zutreffend von der Beklagten anerkannten Unfallfolgen mit einer MdE um 40 v.H. auch den einschlägigen Bewertungsgrundsätzen in der gesetzlichen Unfallversicherung.
Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern (§ 56 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII). Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).
Die Bemessung der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (BSG, Urteile vom 05.09.2006 – B 2 U 25/05 R – und vom 02.05.2001 – B 2 U 24/00 R –; juris). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG, Urteile vom 14.11.1984 – 9b RU 38/84 – und vom 30.06.1998 – B 2 U 41/97 R –, juris). Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (BSG, Urteil vom 02.05.2001 – B 2 U 24/00 R –, juris).
Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungs-rechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG a.a.O; BSG Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R -, juris). Die Erfahrungswerte bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, sie sind aber nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend (BSG, Urteile vom 26.06.1985 – 2 RU 60/84 –, vom 30.06.1998 – B 2 U 41/97 R –, vom 18.03.2003 - B 2 U 31/02 R –; juris). Die Feststellung der Höhe der MdE als tatsächliche Feststellung erfordert stets die Würdigung der hierfür notwendigen Beweismittel im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG (BSG, Urteil vom 13.09.2005 - B 2 U 4/04 R -, juris mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 02.05.2001 – B 2 U 24/00 R –, juris).
Neben diesen auf tatsächlichem Gebiet liegenden Umständen für die Bemessung der MdE sind aus der gesetzlichen Definition der MdE sowie den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung fließende rechtliche Vorgaben zu beachten (BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 2 U 25/05 R –, juris). Bestanden bei dem Versicherten vor dem Versicherungsfall bereits gesundheitliche, auch altersbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit (sog. Vorschäden), werden diese nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der einhelligen Auffassung in der Literatur für die Bemessung der MdE berücksichtigt, wenn die Folgen des Versicherungsfalles durch die Vor-schäden beeinflusst werden. Denn Versicherte unterliegen mit ihrem individuellen Gesundheitszustand vor Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG, Urteil vom 30.05.1988 – 2 RU 54/87 –, 211, 212; Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, Ergänzungslieferung 1/20, § 56 Rn. 10.1 ff. Dies verlangt § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wonach die „infolge“ des Versicherungsfalls eingetretene Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und die dadurch verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens maßgeblich sind.
Da bei dem Kläger verschiedene Organe betroffen bzw. Erkrankungen auf verschiedenen Fachgebieten verursacht worden sind, ist für die Gewährung der Verletztenrente eine Gesamt-MdE zu bilden. Nach den hierfür geltenden Grundsätzen ist auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles des Klägers eine höhere Gesamt-MdE als eine solche um 40 v.H. nicht anzunehmen.
Zur Bildung der Gesamt-MdE sind die für den jeweils eingetretenen Gesundheitsschaden bzw. das jeweils verletzte Organ maßgeblichen MdE-Werte zunächst getrennt zu bemessen. Die Gesamt-MdE ergibt sich dann aus der Summe der Funktionseinbußen im Einzelfall. Überschneiden sich die Funktionseinbußen, so ist die Gesamt-MdE in der Regel niedriger als die Summe der einzelnen MdE-Sätze. Liegen keine Überschneidungen vor, so entspricht die Gesamt-MdE in der Regel der Summe der einzelnen MdE-Sätze. Stehen die verschiedenen Funktionseinschränkungen allerdings in Wechselwirkung zueinander, so kann die Gesamt-MdE auch höher als die Summe der einzelnen MdE-Sätze sein (Scholz in: jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 56 SGB VII Rdnr. 67; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 26.09.2014 – L 9 U 223/09 –, Rn. 32, juris).
Die Bewertung der MdE auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet durch K mit 30 v.H. ist zutreffend erfolgt. Für den aktuellen Endzustand der Verletzung des Klägers an der linken Hand wird auf die detaillierte Fotodokumentation in dem Gutachten des S1 verwiesen. Die hier abgebildete, von der Beklagten zutreffend als Avulsionsverletzung des Zeige-, Mittel- und Ringfingers bis auf Höhe deren Mittelglieder sowie des Kleinfingers auf Höhe dessen Fingerkuppe der linken Hand beschriebene Verletzung ist von der funktionellen Auswirkung vergleichbar mit Bild 4.14 der Tabelle von Handverletzungen im Standardwerk Schönberger/Mehrtens/Valentin (Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 610), welche mit einer MdE um 30 v.H. zu bemessen ist. Zwar ist statt der abgebildeten Verletzung beim Kläger nicht der Daumen im Endglied, sondern der Kleinfinger in der Fingerkuppe betroffen. Eine MdE um 30 v.H. ist dennoch gerechtfertigt, weil beim Kläger auch eine Kraftminderung und ein Beuge- und Streckdefizit des Zeige- und Mittelfingers und ein eingeschränkter Faustschluss der Hand vorliegen.
Aus der zusätzlich als Unfallfolge anzuerkennenden Narbe an der linken Leiste ergibt sich keine zusätzliche Funktionsminderung auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet.
Auf neurologischem Fachgebiet besteht ausweislich des Gutachtens des S1, zum Teil als Ursache der bereits genannten und als Unfallfolge anerkannten bzw. anzuerkennenden Gefühlsstörungen, eine motorische Teilschädigung des Nervus medianus der linken Hand mit leichter Minderung der Daumenballenmuskulatur sowie eine Teilschädigung der beugeseitigen Rami Digitales proprii der Finger I bis V (sensible Endäste), besonders ausgeprägt für die Finger II bis IV. Diese Schädigung wäre für sich genommen mit dem S1 mit einer MdE um 20 v.H. zutreffend bewertet. Hier ist jedoch zu beachten, dass diese Verletzung beim Kläger nicht isoliert aufgetreten, sondern Folge der Amputationsverletzung ist. Der S1 führt hierzu in seinem Gutachten aus, dass die im chirurgischen Gutachten beschriebenen Unfallfolgen sich „weitgehend“ mit den auf neurologischem Fachgebiet festgestellten Unfallfolgen überlappen, insbesondere hinsichtlich der subjektiven Beschwerden (Schmerzen, Missempfindungen, Minderung der Handgeschicklichkeit). Da die neurologischen Beschwerden bereits zum Erreichen einer MdE um 30 v.H. (siehe oben) bei der Gleichstellung mit einer Funktionseinschränkung im Sinne von Bild 4.14 in dem Werk Schönberger/Mehrtens/Valentin berücksichtigt wurden, ist eine erneute Berücksichtigung im Sinne einer weiteren Erhöhung der MdE nicht angezeigt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die von dem S1 festgestellten sichtbaren und tastbaren Beschwielungen über den Fingergrundgelenken III-V links zeigen, dass die Hand zumindest in ihrem speichenwärtigen Anteil nahezu regelrecht belastet wird.
Sofern als weitere Unfallfolge von der Beklagten eine Hyposensibilität des Zeige-, Mittel- und Ringfingers der linken Hand (siehe oben) anzuerkennen ist, bedingt dies keine wesentliche zusätzliche Funktionsminderung und damit auch keine Erhöhung der MdE.
Auf psychiatrischem Fachgebiet liegen (siehe oben) Folgen einer mittelgradigen depressiven Störung mit Antriebsminderung, Affektverarmung und Freudlosigkeit vor, die entsprechend den schlüssigen Ausführungen des H aufgrund ihrer mittelgradigen Auswirkungen in psychisch-emotionalen und sozial-kommunikativen Bereichen mit einer Einzel-MdE um 15 v.H. zu bewerten sind. Da die Auswirkungen der mittelgradigen depressiven Störung von dem H als eher gering beschrieben werden und auch der E von einer ängstlich-depressiven Entwicklung mit Angstsymptomen und depressiven Symptomen ausgeht, jedoch nicht die Auswirkungen einer mittelgradigen depressiven Episode im Vollbild beschreibt, kann hier nicht von einer höheren MdE als einer solchen von 15 v.H. ausgegangen werden (vgl. die Tabelle in Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 170). Auch der E hält insoweit bei den konkreten Auswirkungen beim Kläger eine Bemessung mit 10 - 20 v.H. für adäquat.
Bei der Bildung der Gesamt-MdE berücksichtigt der Senat, dass die Einzel-MdE-Werte grundsätzlich nicht zu addieren sind. Zusätzlich ist bei dem Kläger zu berücksichtigen, dass die bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen sich funktional überschneiden, zumal alle Gesundheitsstörungen auf der lokal begrenzten Verletzung der linken Hand beruhen. In der Gesamtbewertung erscheint daher die Annahme einer Gesamt-MdE um 40 v.H., wie von der Beklagten vorgenommen, als angemessen und zutreffend. Dies wird im Ergebnis auch von dem nach § 109 SGG gehörten E bestätigt, der eine Gesamt-MdE um 40 bis 50 v.H. für adäquat erachtet.
Die Beklagte hat zuletzt berichtet, dass der Kläger wieder an einem Arbeitsplatz bei seinem früheren Arbeitgeber eingegliedert worden ist. Der Kläger hat dies – trotz mehrfacher Nachfrage des Berichterstatters – nicht bestätigt, dem aber auch nicht widersprochen. Der Senat würdigt dieses Verhalten dahingehend, dass der Vortrag der Beklagten zur erneuten Integration des Klägers an einem Arbeitsplatz des früheren Arbeitgebers – und damit erneut in der Produktion – zutreffend ist. Der Senat sieht dies als Indiz dafür an, dass dem Kläger nicht die Hälfte der Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verschlossen ist, wie dies eine MdE um 50 v.H. voraussetzen würde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.