L 2/12 R 115/20

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
1. Instanz
SG Bremen (NSB)
Aktenzeichen
S 47 R 233/16
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 2/12 R 115/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die unterbliebene Einbeziehung von bestehenden Erwerbsminderungsrenten bei der gesetzlich vorgegebenen verbesserten Berücksichtigung von Zurechnungszeiten begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt 1/5 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen; im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die am 8. Oktober 1964 in Polen geborene und seit 1988 im Bundesgebiet lebende (nicht als Vertriebene anerkannte) Klägerin begehrt eine Neuberechnung der ihr zuerkannten Erwerbsminderungsrente.

Nach dem erfolgreichen Abschluss des polnischen Gymnasiums im Mai 1983 war die Klägerin im polnischen Post- und Fernmeldedienst tätig. Im Schreiben vom 18. August 1988 (Bl. 81 VV) bestätigte das I., dass die Klägerin vom 1. Juni 1983 bis zum 18. August 1988 als Telefonistin gearbeitet habe, ihr seien zuletzt die Aufgaben eines Vorstehers des Postamtes in J. übertragen worden.

Im polnischen Legitimationsbuch ist allerdings diese Tätigkeit erst unter dem Datum vom 12. Dezember 1983 erfasst worden (Bl. 63 GA).

Während dieses Zeitraums nahm die Klägerin vom 18. Februar bis 31. Mai 1986 in Teilzeit an einem insgesamt 211 Unterrichtsstunden umfassenden Lehrgang für Assistenten der Post- und Fernmeldedienste teil (Bl. 90 VV).

Neben dieser Tätigkeit war die Klägerin ab März 1985 zusätzlich auch damit betraut, in dem Postamt als Putzfrau sowie (in der kalten Jahreszeit) als Heizerin zu arbeiten (vgl. die Angaben der Klägerin im Fragebogen vom 20. November 2007, Bl. 20 ff. VV sowie die Bescheinigung des Arbeitgebers vom 1. Mai 1988, Bl. 76 VV).

Am 19. August 1988 siedelte die Klägerin in das Bundesgebiet über.

Sie hat ein Studienbuch einer polnischen Universität K. vorgelegt, wonach sie dort zum 1. Oktober 1988 ein Fernstudium aufgenommen habe (Bl. 82 VV).

Mit Vormerkungsbescheid vom 28. Oktober 2008 (vgl. wegen der weiteren Einzelheiten Bl. 149 ff. VV) hielt die Beklagte den Versicherungsverlauf der Klägerin fest.

U.a. wurde dabei der Zeitraum 1. Juni bis 11. Dezember 1983 als glaubhaft gemachte und der nachfolgende Zeitraum bis zum 18. August 1988 als nachgewiesene Beitragszeit unter Heranziehung der Vorgaben des ersten deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens unter Heranziehung jeweils der Qualifikationsgruppe 5 im Sinne der Anlage 13 zum SGB VI und der Tabelle 16 gemäß der Anlage 14 zum SGB VI bewertet.

Mit Schreiben vom 5. November 2015 (Bl. 275 VV) forderte die Klägerin die Beklagte zu einer Überprüfung der polnischen Versicherungszeiten auf. Sie sei mit einer Einstufung in die Gruppe der „unqualifizierten Arbeiter“ nicht einverstanden. Beigefügt waren ein von der Klägerin ausgefüllter Fragebogen vom 29. Oktober 2015 (Bl. 276 ff. VV), in dem sie u.a. einen Zeitraum des unbezahlten Urlaubs vom 16. Oktober bis 10. Dezember 1985 vermerkt hatte, sowie eine von der polnischen Post am 28. September 2015 ausgestellte Arbeitsbescheinigung für den Zeitraum 1. Juni bis 18. August 1988 (Bl. 285 VV), in dem ebenfalls der genannte Zeitraum unbezahlten Urlaubs ausgewiesen war (vgl. zudem die Ausweisung einer entsprechenden „Unterbrechung“ auch in der Bescheinigung der polnischen Post vom 21. Mai 2019, Bl. 89 GA).

Auf Nachfrage der Beklagten teilte die Klägerin ergänzend mit (Bl. 294 VV), dass sie im Zeitraum 16. Oktober bis 10. Dezember 1985 krank gewesen sei. Von wem sie damals Geld bekommen habe und ob sie insbesondere damals eine Lohnfortzahlung oder Krankengeld erhalten habe, wisse sie nicht mehr. Im Übrigen seien aus ihrer Sicht die Zeiträume ab dem 1. Juni 1986 der Qualifikationsgruppe 4 für Facharbeiter zuzuordnen.

Mit Bescheid vom 29. Januar 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. Juni 2016 nahm die Beklagte den Bescheid vom 27. Mai 2008 hinsichtlich des Zeitraums vom 16. Oktober bis 10. Dezember 1985 gestützt auf § 45 SGB X zurück. Die Klägerin hätte die Fehlerhaftigkeit des Bescheides gekannt oder jedenfalls erkennen müssen. Ansonsten bestehe kein Anlass zu einer Korrektur des Vormerkungsbescheides. Insbesondere habe die Klägerin keine Facharbeiterausbildung im Sinne der Qualifikationsgruppe 4 durchlaufen.

Dagegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 2. März 2016.

Ausgehend von der Einschätzung, dass sich der Widerspruch gegen die Qualifikationsgruppeneinstufung für die polnischen Beitragszeiten richte, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 29. Januar 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. Juni 2016 mit Bescheid vom 6. Juli 2016 zurück.

Mit der am 5. August 2016 erhobenen Klage (S 14/47 R 233/16) hat die Klägerin geltend gemacht, dass die tatsächlich in Polen wahrgenommene Aufgabe als stellvertretende Leiterin des Postamtes nach den damaligen polnischen Bestimmungen den vorherigen Besuch einer allgemeinbildenden Mittelschule zur Voraussetzung gehabt habe. Aufgrund ihrer sehr guten Leistungen sei sie bereits vor Abschluss des Weiterbildungslehrganges im Jahr 1986 als stellvertretende Poststellenleiterin eingesetzt worden. Die polnische Post habe seinerzeit nicht zwischen qualifizierten und unqualifizierten Arbeitnehmern unterschieden. Als stellvertretende Leiterin habe sie faktisch das Postamt geleitet, da eine Nachfolgerin nach dem altersbedingten Ausscheiden der vormaligen Leiterin nicht benannt worden sei (Bl. 87 f. GA).

Darüber hinaus begehrte sie auch eine Berücksichtigung des Zeitraums 1. Juni bis 11. Dezember 1983 als nachgewiesene und nicht nur als glaubhaft gemachte polnische Beitragszeit.

Mit Gerichtsbescheid vom 31. Juli 2020 (S 47 R 233/16), der Klägerin zugestellt am 4. August 2020, hat das Sozialgericht die Beklagte unter entsprechender Teilaufhebung des Bescheides vom 29. Januar 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. Juni 2016 und des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2016 dazu verpflichtet, die Klägerin für den Zeitraum 1. November 1987 bis 18. August 1988 in die Qualifikationsgruppe 4 der Anlage 13 zum SGB VI einzustufen.

Zur Begründung der Abweisung der Klage im Übrigen hat das Sozialgericht im Einzelnen ausgeführt, dass die Klägerin vor dem 1. November 1987 weder über eine fachliche Qualifikation im Sinne der Qualifikationsgruppe 4 noch über vergleichbare berufliche Erfahrungen verfügt habe.

Bezüglich des Zeitraums vom 1. Juni bis 11. Dezember 1983 sei angesichts der Angaben im Legitimationsbuch nicht von dem Nachweis einer Beitragszeit auszugehen; diese Zeiten seien lediglich glaubhaft gemacht worden.

Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin vom 2. September 2020.

Während des vorstehend erläuterten Klageverfahrens hat die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 2. November 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2019 rückwirkend ab dem 1. März 2017 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe eines Bruttorentenbetrages (ab Dezember 2018) von 1.027,63 € zuerkannt. In diesem Bescheid ermittelte die Beklagte insbesondere 25,2004 Entgeltpunkte für Beitragszeiten (unter den fortgeführten Annahmen einer Lücke im Zeitraum 16. Oktober bis 10. Dezember 1985, einer Zuordnung der polnischen Beitragszeiten zur Qualifikationsgruppe 5 und der Bewertung des Zeitraums 1. Juni bis 11. Dezember 1983 als lediglich glaubhaft gemachte Beitragszeit) sowie 10,6368 Entgeltpunkte für beitragsfreie Zeiten (darunter 10,3044 Entgeltpunkte für eine Zurechnungszeit vom 1. Juli 2016 bis zum 7. Oktober 2026) sowie von 0,1306 Entgeltpunkte für beitragsgeminderte Zeiten und damit in der Summe 35,9678 Entgeltpunkte, von denen unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors von 0,892 32,0833 Entgeltpunkte in die weitere Berechnung einflossen.

Mit ihrer dagegen am 29. Oktober 2019 erhobenen weiteren Klage (S 31 R 305/19) hat die Klägerin die Berücksichtigung einer weiteren Zurechnungszeit vom 8. Oktober 2026 bis zum 7. Oktober 2027, d.h. bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres, die Zuerkennung von Entgeltpunkten für den Schulbesuch in Polen nach Vollendung des 17. Lebensjahres, die Zuerkennung eines „Bonus für Berufsanfänger“, Zuerkennung einer Anrechnungszeit für das Fernstudium an der polnischen Universität K. vom 1. Oktober 1988 bis 14. Juni 1989 (unter Einschluss des vorausgegangenen Zeitraums 19. August bis 30. September 1988 als Anrechnungszeit in Form einer Unterbrechung, wobei hilfsweise die Berücksichtigung dieser Zeiträume als Ersatzzeit begehrt wird) und die Berücksichtigung des Zeitraums des Bezuges von Sozialhilfe vom 19. August 1988 bis 31. Mai 1989 als Beitragszeit beantragt.

Im Zeitraum 1. Juni bis 31. Juli 1999 habe sie an einer „berufsvorbereitenden Maßnahme“ teilgenommen.

Unter Berücksichtigung insbesondere des deutsch-polnischen Rentenabkommens vom 9. Oktober 1975 nahm die Beklagte in Umsetzung des von der Klägerin im Gerichtsbescheid vom 31. Juli 2020 erzielten Teilerfolges mit Bescheid vom 9. September 2020 (Bl. 96 GA) eine Neuberechnung der der Klägerin gewährten Erwerbsminderungsrente unter Zuerkennung einer Nachzahlung von insgesamt 180,95 € für den Zeitraum März 2017 bis September 2020 vor, nachdem sie bereits zuvor mit Bescheid vom 28. März 2019 die zuerkannte Rente unter Einbeziehung eines Zuschlages für Kindererziehung in Form der seinerzeit neu eingeführten sog. Mütterrente neu berechnet hatte.

Mit Gerichtsbescheid vom 23. April 2021, der Klägerin zugestellt am 29. April 2021, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und im Einzelnen dargelegt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zuerkennung weiterer Entgeltpunkte nicht gegeben seien.

Mit ihrer Berufung (L 2/12 R 72/21) vom 29. Mai 2021 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Mit Beschluss vom 1. März 2022 hat der Senat die beiden Berufungsverfahren der Klägerin verbunden.

Die Klägerin macht mit ihren Berufungen insbesondere geltend, dass sie in Polen „keine Ausfallzeiten“ gehabt habe, sondern lediglich „unbezahlten Urlaub“ in Anspruch genommen habe.

Sie habe den „Lehrgang zweiten Grades“ für Mitarbeiter der polnischen Post- und Fernmeldedienste absolviert. Sie habe als Beamtin gegolten (vgl. demgegenüber die von der Klägerin beigebrachte Arbeitgeberbescheinigung vom 21. Mai 2019, Bl. 89 GA: Vertragsmitarbeiterin).

Da ihr die Erwerbsminderungsrente bereits mit Wirkung ab dem 1. März 2017 zuerkannt worden sei, sei bei der Rentenberechnung entsprechend den damaligen Vorgaben des § 59 Abs. 1 SGB VI (in der Fassung des Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung – RV-Leistungsverbesserungsgesetz – vom 23. Juni 2014, BGBl. I, 787; zuvor endete die Zurechnungszeit bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres) eine rentensteigernde Zurechnungszeit nur bis zur Vollendung des 62. Lebensjahres berücksichtigt worden.

Bei einem Rentenbeginn erst nach 2017 wäre jedoch unter Heranziehung des zum 1. Januar 2018 neu gefassten § 59 Abs. 1 SGB VI i.V.m. der ergänzenden Übergangsregelung in § 253a SGB VI eine deutliche längere Zurechnungszeit in Ansatz zu bringen. Im Vergleich zu Versicherten mit einem Renteneintritt nach 2017 werde sie unter Missachtung des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig benachteiligt.

Soweit sie anfänglich eine rentensteigernde Berücksichtigung von Zeiträumen insbesondere auch eines Fernstudiums in Polen im Zeitraum nach der Übersiedlung, des Sozialhilfebezuges sowie des Bezuges eines sog. ESF-Unterhaltsgeldes geltend gemacht hat, hat sie die Klage und Berufung mit Schriftsatz vom 17. Juni 2022 zurückgenommen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Beklagte sich im Rahmen eines von der Klägerin angenommenen Teilanerkenntnisses verpflichtet, die der Klägerin gewährte Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung folgender Gesichtspunkte rückwirkend neu zu berechnen:

a) Den Zeitraum vom 1. Juni bis zum 31. Juli 1999, während dessen die Klägerin beim Bildungswerk der DAG im Lande Bremen e.V. an der Feststellungsmaßnahme für die Umschulung Industrie-, Groß- und Außenhandelskaufmann/frau teilgenommen hat, wird die Beklagte als Anrechnungszeit in Form der Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme im Sinne des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI berücksichtigen.

b) Den Zeitraum vom 16. Oktober bis zum 10. Dezember 1985 wird die Beklagte entsprechend den Feststellungen im Vormerkungsbescheid vom 28. Oktober 2008 als nachgewiesene Beitragszeit berücksichtigen, da sich die nachfolgende Korrektur gestützt auf § 45 SGB X jedenfalls angesichts der fehlenden ordnungsgemäßen Ermessensausübung als rechtswidrig darstellt.

Unter Berücksichtigung der Einschränkungen des Berufungsbegehrens und des genannten Teilanerkenntnisses beantragt die Klägerin noch,

  1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen von 31. Juli 2020 zu ändern und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 23. April 2021 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. November 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2019 und der Änderungsbescheide vom 28. März 2019 und vom 9. September 2020 zu ändern und
  1. die Beklagte zur Neuberechnung der ihr gewährten Erwerbsminderungsrente unter Einbeziehung
  1. des Zeitraums 1. Juni bis 11. Dezember 1983 als nicht nur glaubhaft gemachte, sondern als nachgewiesene Beitragszeit,
  2. unter Zuordnung der Beitragszeit 1. Juli 1983 bis zum 31. Oktober 1987 zur Qualifikationsgruppe 4 im Sinne der Anlage 13 zum SGB VI,
  3. der Berücksichtigung eines weiteren Jahres der Zurechnungszeit vom 8. Oktober 2026 bis zum 7. Oktober 2027

zu verpflichten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Berufungen haben keinen über das von Seiten der Beklagten abgegebene und von Seiten der Klägerin angenommene Teilanerkenntnis hinausgehenden Erfolg. 

1. Zutreffend stellt die Klägerin mit ihrem Antrag nur noch die die Berechnung der Rente wegen Erwerbsminderung betreffenden Bescheide der Beklagten zur Überprüfung des Senates hinsichtlich der noch streitigen Punkte. Nach Erlass eines Rentenbescheids besteht kein Rechtsschutzbedürfnis zur Durchführung eines gesonderten Rechtsbehelfsverfahrens nur in Bezug auf den Vormerkungsbescheid; ein solches Verfahren ist mithin unzulässig (BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 13 R 118/08 R –, juris).

Das anhängige Klageverfahren findet seine Fortsetzung im Streit über dasjenige Rechtsverhältnis, dessen vorbereitender Klärung der bis dahin angefochtene Vormerkungsbescheid gedient hatte. Auf die Ersetzung in diesem Sinne findet § 96 Abs 1 SGG (hier idF vom 26.3.2008 - BGBl I 444) unmittelbare Anwendung mit der Folge, dass der Rentenbescheid als unmittelbar kraft Gesetzes angegriffen gilt, soweit er auf den ursprünglich streitigen Feststellungen beruht (vgl BSG SozR 4-2600 § 248 Nr 1 RdNr 12). Eines gesonderten Widerspruchsverfahrens gegen den einbezogenen Rentenbescheid bedarf es nicht (BSG, Urteil vom 16. Juni 2015 – B 13 R 23/14 R –, Rn. 13, juris).

2.  In der Sache begegnen die Rentenberechnungsbescheide unter Berücksichtigung insbesondere des den erstinstanzlichen Teilerfolg der Klägerin umsetzenden Änderungsbescheides vom 9. September 2020 und des in der mündlichen Verhandlung von Seiten der Beklagten abgegebenen Teilanerkenntnisses keinen weiteren rechtlichen Bedenken. Dies hat bereits im Einzelnen ausführlich das Sozialgericht in den Gründen der zur Überprüfung gestellten Gerichtsbescheide dargelegt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen lässt das Berufungsvorbringen nicht erkennen. In Ergänzung zu den zutreffenden Ausführungen in den Gerichtsbescheiden und den hinsichtlich der noch streitigen Punkte ebenfalls zutreffenden Gründe der Bescheide der Beklagten weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Soweit die Klägerin eine Zuordnung zur Qualifikationsstufe 4 bereits ab dem 1. Juni 1983 begehrt, ist schon im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass die Klägerin seinerzeit erst 18 Jahre alt war und zuvor eine allgemeinbildende Schule besucht hatte. Damit erfüllte sie von vornherein nicht die Voraussetzungen für die Qualifikationsgruppe 4 im Sinne der entsprechenden Definition in der Anlage 13 zum SGB VI i.V.m. §§ 22 FRG; 256b SGB VI. Danach sind in der Qualifikationsgruppe 4 Personen zuzuordnen, die über die Berufsausbildung oder im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung nach abgeschlossener Ausbildung in einem Ausbildungsberuf die Facharbeiterprüfung bestanden haben und im Besitz eines Facharbeiterzeugnisses (Facharbeiterbrief) sind oder denen aufgrund langjähriger Berufserfahrung entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen im Beitrittsgebiet die Facharbeiterqualifikation zuerkannt worden ist.

Eine Facharbeiterprüfung hat die Klägerin nicht abgelegt. Der von ihr 1986 besuchte Lehrgang umfasste lediglich etwas mehr als 200 Stunden Ausbildung. Auch eine „langjährige Berufserfahrung“ ist jedenfalls in Bezug auf die unter Berücksichtigung des erstinstanzlichen Teilerfolgens insoweit nur noch streitbetroffenen Zeiträume bis Oktober 1987 in keiner Weise zu erkennen. Nach der gesetzlichen Systematik muss die langjährige Berufserfahrung der Zuerkennung einer höheren Qualifikationsgruppe zeitlich vorausgehen.

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zu den früheren Leistungsgruppen des FRG ist die Qualifikation auf Grund langjähriger Berufserfahrung dann erworben worden, wenn der höherwertige Beruf während eines Zeitraumes ausgeübt wurde, der ausreicht, um die theoretischen und praktischen Fähigkeiten für eine vollwertige Berufsausübung auch ohne formelle Ausbildung zu vermitteln (BSG, Urteil vom 23. September 2003 – B 4 RA 48/02 R –, Rn. 33, juris). 

Für die Konkretisierung des Begriffs der langjährigen Berufserfahrung ist die regelmäßige Dauer der Lehrzeit für den in Betracht kommenden Ausbildungsberuf zu berücksichtigen. Weiter ist davon auszugehen, dass eine langjährige Berufstätigkeit nicht früher als nach einer regulären Ausbildung zu dem Erwerb entsprechender Fachkenntnisse und Fähigkeiten führen kann (BSG SozR 5050 § 22 Nr.17). Wegen der nicht im Vordergrund stehenden Ausbildung bzw. der fehlenden umfassenden Unterweisung ist ohnehin im Regelfall eine längere Zeitspanne anzusetzen. Die Rentenversicherungsträger gehen von einer rund fünf- bis sechsjährigen Berufstätigkeit als Regelwert und damit von einer Verdopplung der regulären Lehrzeit aus (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. September 2010 – L 13 R 780/09 –, Rn. 39, juris mwN).

Nach diesen Maßstäben ist es in keiner Weise zu beanstanden, dass die Beklagte die Klägerin jedenfalls für die noch streitbetroffenen ersten Jahre ihrer beruflichen Tätigkeit der Qualifikationsgruppe 5 zugeordnet hat. Bezeichnenderweise wurde die Klägerin nach eigenen Angaben auch zur Reinigung und zum Beheizen der Räume des Postamts eingesetzt. Die Übernahme einer (wohl eher kommissarischen) Leitung des Postamtes vermag nach den gesetzlichen Vorgaben eine Facharbeiterqualifikation oder eine dieser gleichstehenden langjährigen Berufserfahrung nicht zu ersetzen.

b) Soweit die Frage eines Nachweises der bislang nur als glaubhaft gemacht angesehenen Beschäftigungszeiten bis zum 11. Dezember 1983 betroffen ist, weist die Klägerin selbst darauf hin (vgl. Schriftsatz vom 25. Februar 2022, Bl. 164 GA), dass das Legitimationsbuch (Bl. 63 GA) Eintragungen bezüglich einer solchen Beschäftigung erst ab dem 12. Dezember 1983 ausweist. Der Angabe der Klägerin, dass sie dies nicht zu verantworten habe, fehlt schon in tatsächlicher Hinsicht eine nachvollziehbare Grundlage, weil sie selbst (vgl. ihr Schriftsatz vom 7. August 2020, Bl. 46 GA) darauf hinweist, dass sie gar nicht (mehr) wisse, weshalb das Buch erst am 12. Dezember 1983 ausgestellt worden sei. Jedenfalls sind die Eintragungen im (zeitnah geführten) Legitimationsbuch im Rahmen der rechtlich gebotenen Gesamtwürdigung mit einzubeziehen. Im Rahmen der gebotenen Gesamtbewertung sieht auch der Senat keinen Raum, bezüglich der streitbetroffenen Monate von einem Vollbeweis der Zurücklegung von Beitragszeiten auszugehen (wobei die fraglichen Monate ohnehin bereits von der Beklagten – wenn auch nur im Rahmen einer Glaubhaftmachung – zugunsten der Klägerin berücksichtigt worden sind).

Ohnehin kann nicht allen Angaben der Klägerin uneingeschränkt vertraut werden. So hat die Klägerin in dem am 3. September 2007 ausgefüllten Fragebogen angegeben, dass sie insbesondere zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr nicht erkrankt sei (Bl. 11 VV). Später hat sie geltend gemacht, dass der unbezahlte Urlaub vom 16. Oktober bis 10. Dezember 1985 durch eine „gesundheitliche Maßnahme“ bedingt gewesen sei (vgl. auch ihren Hinweis auf eine damalige Erkrankung bei der Vorsprache im Januar 2016, Bl. 294 VV).

c) Bezüglich der Dauer der Zurechnungszeit war bei Rentenbeginn im Jahr 2017 noch § 59 SGB VI in der Fassung des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes vom 23. Juni 2014 (BGBl. I 787) maßgeblich. Danach umfasste die Zurechnungszeit lediglich den Zeitraum bis zur Vollendung des 62. Lebensjahres. Diesen Zeitraum hat die Beklagte in dem zur Überprüfung gestellten Rentenberechnungsbescheid zutreffend zugunsten der Klägerin berücksichtigt.

Diese Fassung der gesetzlichen Vorgaben ist bei der Berechnung der der Klägerin ab März 2017 zugesprochenen Rente ungeachtet dessen weiterhin anzuwenden, dass nachfolgend bei einem Rentenbeginn erst ab 2018 nach der mit Wirkung zum 1. Januar 2018 vorgenommenen Änderung des § 59 Abs. 1 SGB VI i.V.m. mit der zeitgleich normierten Übergangsregelung in § 253a SGB VI gemäß den Vorgaben des Gesetzes zur Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und zur Änderung anderer Gesetze (EM-Leistungsverbesserungsgesetz) vom 17. Juli 2017 (BGBl. I, 2509) und den nachfolgenden weiteren Änderungen dieser Vorschriften mit dem zum 1. Januar 2019 in Kraft getretenen Gesetz über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz) vom 28. November 2018 (BGBl. I, 2016) eine längere rentensteigernde Zurechnungszeit in Ansatz zu bringen ist.

Gemäß § 300 Abs. 1 SGB VI sind die für die Rentenberechnung maßgeblichen gesetzlichen Bewertungsvorgaben in der jeweils zu dem Zeitpunkt des Beginns der maßgeblichen Rente geltenden Fassung heranzuziehen (BSG, Urteil vom 27. April 2010 – B 5 R 62/08 R –, SozR 4-2600 § 71 Nr 5). § 300 Abs. 1 SGB VI enthält den mit der Rentenreform 1992 eingeführten Grundsatz (vgl. auch § 300 Abs. 3 SGB VI), dass bei Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich das Recht anzuwenden ist, das im Zeitpunkt des Leistungsbeginns gilt (Kater in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 43 SGB VI, Rn. 4; Kreikebohm/Jassat im Beck’schen Onlinekommentar zum Sozialrecht, 64. Ed. 1.3.2022, SGB VI § 300 Rn. 3).

Dabei hat der Gesetzgeber im Zuge der Neufassungen des § 59 Abs. 1 SGB VI zum 1. Januar 2018 und zum 1. Januar 2019 klar zum Ausdruck gebracht, dass er auch im vorliegenden Zusammenhang den erläuterten Vorgaben des § 300 Abs. 1 SGB VI Rechnung getragen sehen will, wonach sich die mit der erweiterten Zurechnungszeit verbundenen Leistungsausweitung sich lediglich auf neu hinzutretenden Renten und nicht etwa auch auf Bestandsrenten erstrecken sollte. In § 253a SGB VI hat er explizit darauf abgestellt, dass die betroffenen Renten erst ab dem 1. Januar 2018 „beginnen“. Auch die Einschätzung der finanziellen Auswirkungen der Reform in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/11926, S. 16) macht nur auf der Basis Sinn, dass von ihr lediglich neu hinzukommende Erwerbsminderungsrenten erfasst werden.

Im Gesetzgebungsverfahren ist von Seiten des Bundesrates durchaus auch eine Erstreckung der mit den erweiterten Zurechnungszeiten verbundenen Leistungsverbesserungen auf Bestandsrentner vorgeschlagen worden. Die Bundesregierung ist dieser Anregung aber entgegengetreten und hat zur Begründung sich insbesondere auf den Grundsatz berufen, dass Rechtsänderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich nur für die Zukunft erfolgen sollten, so wie auch Leistungsverschlechterungen nicht auf bereits laufende Renten übertragen würden. Zudem wären zur Einbeziehung des Bestandes weitere erhebliche finanzielle Mittel erforderlich (vgl. BT-Drs. 19/5412, S. 9). Diese Einschätzung der Bundesregierung hat sich der Gesetzgeber im Ergebnis zu eigen gemacht, indem er die Neuregelung der Zurechnungszeiten ohne eine Erstreckung auf Bestandsrenten beschlossen hat.

Verfassungsrechtliche Bedenken sind nach der zutreffenden Rechtsprechung nicht erkennbar (vgl. in diesem Sinne auch LSG Baden-Württemberg, U.v. 31. März 2021 – L 5 R 1620/18 –, Rn. 36, juris; Schleswig-Holsteinisches LSG, U.v. 21. Januar 2021 – L 1 R 160/18 –, Rn. 41, juris; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, U.v. 13. März 2020 – L 14 R 883/19 –, Rn. 46, juris). Eine ernsthafte Begründung für die davon abweichend geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der erläuterten gesetzlichen Vorgaben wird auch von Seiten der anwaltlich vertretenen Klägerin nicht aufgezeigt.

Der Gesetzgeber hat mit der angesprochenen Neuregelung des Umfanges der rentensteigernd zu berücksichtigenden Zurechnungszeiten im Rahmen seiner Befugnis gehandelt, Inhalt und Schranken des Eigentums auszugestalten (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG; vgl. zu dieser Befugnis etwa BVerfG, B.v. 16. März 2006 – 1 BvR 1311/96 –, BVerfGK 7, 410-416, Rn. 31).

Im Rahmen seiner ungeachtet der Bindung an das Gleichbehandlungsgebot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG weiten Gestaltungsfreiheit ist es dem Gesetzgeber insbesondere gestattet, komplexe Reformvorhaben wie die in Aussicht genommene rentenrechtliche Besserstellung von Erwerbsminderungsrentnern in mehreren Stufen zu verwirklichen. In diesem Rahmen darf er, ohne dazu allerdings von Verfassungs wegen verpflichtet zu sein, bei einzelnen Reformschritten strukturelle Verbesserungen lediglich für Tatbestände ab Inkrafttreten des jeweiligen Reformschrittes vorsehen (BVerfG, B.v. 29. März 1996 – 1 BvR 1238/95 –, FamRZ 1996, 789).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es dem Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG namentlich nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Einführung des Stichtags überhaupt und die Wahl des Zeitpunkts am gegebenen Sachverhalt orientiert und damit sachlich vertretbar war (BVerfG, B.v. 16. März 2006, aaO mwN; vgl. auch BSG, U.v. 10. Oktober 2018 – B 13 R 34/17 R –, BSGE 127, 25 mwN).

Ein Eingriff in grundrechtlich geschützte Rentenanwartschaften der Klägerin kommt in diesem Zusammenhang schon deshalb nicht in Betracht, weil im gesamten Zeitraum seit ihrem Eintritt in die deutsche Rentenversicherung bis zum Beginn der streitbetroffenen Erwerbsminderungsrente zu keinem Zeitpunkt eine für sie günstigere als die im Zuge der Rentenberechnung herangezogene Regelung galt. Im Gegenteil wäre vielmehr nach der noch bis Juni 2014 maßgeblichen früheren Fassung des § 59 Abs. 1 SGB VI lediglich eine Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres in Ansatz zu bringen gewesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; sie erstreckt sich auf beide Ausgangsverfahren und trägt den erstinstanzlich und im Rahmen des Teilanerkenntnis erzielten (finanziell weniger bedeutsamen) Teilerfolgen angemessen Rechnung.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.

Rechtskraft
Aus
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