L 9 U 245/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 1011/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 245/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Für den Begriff der Berufsausbildung im Sinne des § 573 Abs. 1 RVO ist wesentlich, welcher mögliche Abschluss mit der zur Zeit des Unfalls begonnenen Ausbildung angestrebt wird.
2. Ein Karriereziel, das erst über eine weitere Ausbildung erreichbar wäre, begründet keinen Anspruch auf höhere Verletztenrente unter Zugrundelegung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.




Tatbestand

Der Kläger begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens wegen eines Arbeitsunfalls vom 15.04.1971 die Gewährung einer höheren Verletztenrente unter Zugrundelegung eines höheren Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

Der 1954 geborene Kläger erlitt am 15.04.1971 beim Bau eines Sängerheims für einen Verein eine perforierende Verletzung des linken Auges. Zum Zeitpunkt des Unfalls machte der Kläger beim Fernmeldeamt H eine Ausbildung zum Fernmeldehandwerker. Nach Abschluss der Ausbildung am 26.07.1972 wurde er als Fernmeldehandwerker übernommen. Im Schuljahr 1972/1973 holte er in Vollzeit die Fachschulreife nach. Ab 23.07.1973 war er wieder beim Fernmeldeamt beschäftigt. Aufgrund seiner Sehschwäche wurde der Kläger am 23.11.1973 als nicht wehrdienstfähig für die Bundeswehr ausgemustert (Ausmusterungsbescheid vom 23.11.1973). Neben seiner Tätigkeit als Fernmeldehandwerker besuchte er über einen Zeitraum von 3,5 Jahren die Abendschule zum Erwerb der Fachhochschulreife, welche er 1980 erreichte. Von 1980 bis 1984 studierte er erfolgreich physikalische Technik und war seither als Diplom-Ingenieur berufstätig.

Mit Bescheid vom 27.04.1976 erkannte die Beklagte den Unfall des Klägers vom 15.04.1971 als Arbeitsunfall mit den Unfallfolgen Hornhautnarben und Linsenlosigkeit am linken Auge, aufgehobenes räumliches Sehen an und gewährte dem Kläger eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 v.H. vom 02.06.1971 bis 15.01.1973 und nach einer MdE um 20 v.H. ab 16.01.1973. Dabei legte sie einen JAV von zunächst 6.210 DM und für die Zeit nach Abschluss seiner Ausbildung zum Fernmeldehandwerker ab 27.07.1972 einen solchen von 14.501,88 DM zugrunde. Die Rente wurde jährlich angepasst und zuletzt ab 01.07.2019 in Höhe von monatlich 298,37 Euro gezahlt (Bescheid vom 24.06.2019).

Am 23.07.2019 beantragte der Kläger die Überprüfung der Rentenhöhe nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Er habe sich zum Unfallzeitpunkt noch in Ausbildung befunden und für seine weitere Karriereplanung eine akademische Ausbildung bei der Bundeswehr zum Piloten bei der Luftwaffe und eine spätere Nutzung der Ausbildung nach dem Militärdienst bei der zivilen Luftfahrt als Pilot geplant gehabt. Da er aufgrund der Unfallfolgen als untauglich für die Bundeswehr ausgemustert worden sei, habe er seine Karriereplanung korrigieren müssen. Bei seiner Tätigkeit als Diplom-Ingenieur Physikalische Technik habe er einen deutlich höheren Verdienst erreicht als den von der Beklagten herangezogenen JAV, der sich vermutlich auf die Tätigkeit eines Fernmeldehandwerkers beziehe. Er stellte seinen tatsächlichen Verdienst als Diplom-Ingenieur aus den Jahren 2015 bis Juni 2019 dem von der Beklagten jeweils der Rentenberechnung zugrunde gelegten JAV gegenüber (z.B. Verdienst in Höhe von 83.028,81 Euro gegenüber von der Beklagten berücksichtigtem JAV in Höhe von 23.734,78 Euro im Jahr 2015) und legte hierzu Ausdrucke seiner elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für die Jahre ab 2015 vor.

Mit Bescheid vom 01.07.2020 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag ab. Der JAV zu Beginn der Unfallrente ab 02.06.1971 sei nach §§ 570 ff. Reichsversicherungsordnung (RVO) zu ermitteln gewesen. Gemäß der damals geltenden Regelung des § 573 Abs. 1 RVO sei der JAV nach der erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung neu zu berechnen gewesen. Der JAV habe zunächst ab 15.04.1971 6.210 DM betragen, ab 27.07.1972 sei er mit 14.501,88 DM neu festgestellt worden. Eine weitere Erhöhung aufgrund einer möglichen Karriereplanung oder alternativer beruflicher Entwicklung hätten weder die damals geltenden Regelungen der RVO vorgesehen noch sei sie in den heute geltenden §§ 81 ff. Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) vorgesehen. Das tatsächlich in den letzten Jahren vom Kläger erzielte Entgelt sei daher nicht zu berücksichtigen.

Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, seine Ausbildung im Sinne des § 573 Abs. 1 RVO sei erst nach dem Erreichen des Studienabschlusses abgeschlossen gewesen. Sein Ziel sei schon vor Beginn der Ausbildung zum Fernmeldehandwerker ein Hochschulstudium ohne Abitur bei der Bundeswehr gewesen. Da er wegen der Augenverletzung ausgemustert worden sei, habe er anderweitig erst nach Nachholung der erforderlichen Abschlüsse studieren können. Zum Stand seiner beruflichen Ausbildung habe er von der Beklagten in der Zeit zwischen dem Unfall und dem Erlass des Bescheides vom 27.04.1976 keinerlei Rückfragen erhalten.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2020 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 08.04.2020 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Maßgeblich sei das Berufsziel zum Zeitpunkt des Unfalls, dies sei bei ihm die Ausbildung zum Piloten gewesen. Dieses Ziel wäre über die Zwischenstation eines Ingenieurstudiums bei der Bundeswehr erreichbar gewesen. Er hätte mit dem Hauptschulabschluss über die Ausbildung zum Fernmeldehandwerker (mit Funkerausbildung) und anschließender 12-jähriger Verpflichtung bei der Bundeswehr in den Genuss der Ausbildung zum Bordingenieur (Bordfunker) kommen können und als Bordingenieur ins Cockpit gelangen wollen mit der Chance, als Pilot zu arbeiten. Aus finanziellen und familiären Gründen sei es ihm nicht möglich gewesen, direkt die Hochschulreife zu erlangen. Er sei gezwungen gewesen, zunächst eine Ausbildung zu absolvieren, um sein Ziel auf Umwegen über die Bundeswehr zu erreichen. Dieser geplante Ausbildungsweg sei auch hinsichtlich der erforderlichen Umwege für ihn anzuerkennen. Er habe zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt gehabt, den Beruf des Fernmeldehandwerkers weiter auszuüben. Insofern sei das Berufsziel des Piloten auch keine berufliche Weiterbildung, sondern ein einheitlicher Ausbildungsverlauf. Die Ausbildung zum Fernmeldehandwerker sei für die Ausbildung zum Piloten bei der Bundeswehr objektiv sinnvoll als Vorbereitung. Allerdings sei die über die Bundeswehr geplante akademische Ausbildung unfallbedingt wegen der Augenverletzung nicht mehr möglich gewesen, weshalb er eine andere berufliche Laufbahn habe einschlagen müssen. Dies sei ebenfalls aufbauend auf die bereits erlangten Kenntnisse geschehen. Die Beklagte verkenne, dass seine Berufsausbildung erst mit dem tatsächlichen Erreichen des Ausbildungsziels beendet worden sei, hilfsweise dass das ursprüngliche Berufsziel unfallbedingt gerade nicht mehr erreicht werden konnte. Die Zugrundelegung des JAV eines Fernmeldehandwerkers sei auch in erheblichem Maße unbillig im Sinne des § 577 RVO. Seinem Lebenszuschnitt entspreche vielmehr der Beruf des Diplomphysikers/Diplomingenieurs. Der entsprechende Verdienst sei als JAV zugrunde zu legen, hilfsweise der eines Piloten.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.12.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Diese sei als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gerichtet auf Aufhebung des Überprüfungsbescheides, Abänderung des bestandskräftigen Bescheides vom 27.04.1976 und Zahlung einer höheren Rente rückwirkend ab 13.07.2015 zulässig, aber unbegründet. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X seien nicht erfüllt, da die Beklagte bei Erlass des Bescheids vom 27.04.1976 weder das Recht unrichtig angewandt habe noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen sei. Vielmehr habe die Beklagte zutreffend die Normen der RVO angewandt und bei der Berechnung der Verletztenrente, da der Kläger sich zum Unfallzeitpunkt noch in der Berufsausbildung zum Fernmeldehandwerker befunden habe, gemäß § 573 Abs. 1 RVO ab 26.07.1972 den JAV eines ausgebildeten Fernmeldehandwerkers zugrunde gelegt. Dies sei auch im Hinblick auf das geplante Berufsziel Pilot bzw. die tatsächlich später erreichte Qualifikation als Diplom-Ingenieur zutreffend. Nach § 573 Abs. 1 RVO werde, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befinde und es für den Berechtigten günstiger sei, der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Die Neuberechnung erfolge nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur, wenn die Maßnahme, während der sich der Versicherungsfall ereigne, zu einem – wenn auch nicht zwingend ersten – beruflichen Abschluss führe. Sobald das angestrebte Ausbildungsziel aber erreicht sei, komme nur eine berufliche Weiterbildung in Betracht, die nicht der Berufsausbildung zugerechnet werde. Aufgrund des Ausnahmecharakters der Norm sei auch keine Ausdehnung des Begriffs „Berufsausbildung“ über den Wortsinn hinaus zulässig. Mit der Möglichkeit, bei Eintritt des Versicherungsfalls während einer Schul- oder Berufsausbildung die Bemessungsgrundlage über den zum Unfallzeitpunkt ggf. erzielten Verdienst hinaus anzuheben, weiche das Gesetz für einen Sonderfall von dem die Unfallversicherung beherrschenden Grundsatz ab, dass die Verdienstverhältnisse vor dem Arbeitsunfall für alle Zukunft die maßgebende Grundlage der Geldleistungen blieben und spätere Erwerbsaussichten bei der Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen seien. Nur Personen, die bereits während der Zeit der Ausbildung für einen späteren Beruf einen Arbeitsunfall erlitten und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch kein Arbeitsentgelt, sondern allenfalls eine geringe Ausbildungsvergütung erhielten, sowie aufgrund des Versicherungsfalls die Ausbildung später beendeten, sollten zur Vermeidung von Härten geschützt und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung erlitten. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sei der JAV zu Recht auf der Basis des Verdienstes eines Fernmeldehandwerkers berechnet worden. Die von § 573 Abs. 1 RVO gemeinte Ausbildung sei am 26.07.1972 beendet worden. Das erst 1980 begonnene Studium sei eine neue, für den JAV nicht berücksichtigungsfähige Ausbildung. Wesentlich sei für den Begriff der Berufsausbildung im Sinne von § 573 Abs. 1 RVO, welcher mögliche Abschluss mit der zur Zeit des Unfalls begonnenen Ausbildung angestrebt werde. Dies sei jedoch schon nach den eigenen Angaben des Klägers nicht der Beruf des Diplom-Ingenieurs. Es handle sich hierbei um eine nach dem Unfall völlig neu begonnene Ausbildung, die erst nach mehrjährigem berufsbegleitendem Besuch der Abendschule zur Erlangung der Fachhochschulreife etwa neun Jahre nach dem Unfall aufgenommen worden sei. Ein Bezug zu den im Zeitpunkt des Versicherungsfalls prägenden Lebensverhältnissen sei damit nicht mehr gegeben. Dass die Tätigkeit als Diplom-Ingenieur später das gesamte berufliche Leben und damit den Lebenszuschnitt und die Stellung des Klägers geprägt habe, könne nicht berücksichtigt werden. Dies entspreche der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers, spätere Erwerbsaussichten außen vor zu lassen und allein auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls abzustellen.
Auch der Verdienst eines Piloten könne nicht herangezogen werden zur Bemessung des JAV. Der Kläger habe zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls in einer Ausbildung zum Fernmeldehandwerker gestanden und damit nicht gleichzeitig in einer einheitlichen Berufsausbildung zum Piloten, auch wenn er dieses Berufsziel von Beginn an angestrebt habe. Eine Ausbildung zum Fernmeldehandwerker münde nicht in eine darauf aufbauende Ausbildung als Pilot und werde schon gar nicht hierfür vorausgesetzt. Der JAV sei aber nicht nach § 573 Abs. 1 RVO neu zu berechnen, wenn der Versicherte – wie hier – ohne den Unfall nach Abschluss der ersten Ausbildung noch eine weitere Ausbildung in einem anderen, von dem ersten verschiedenen Beruf begonnen hätte. So liege der Fall hier. Dass der vom Kläger geplante Karriereweg über ein anschließendes Studium bei der Bundeswehr und eine Tätigkeit als Bordfunker ohne den Arbeitsunfall möglich gewesen wäre, ändere daran nichts.
Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Bewilligung einer höheren Verletztenrente nach der Billigkeitsnorm des § 577 RVO. Hiernach sei der JAV im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzusetzen, wenn der nach §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig sei. Außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seien hierbei seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Die Wertung, ob der berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig sei, sei als unbestimmter Rechtsbegriff durch das Gericht in vollem Umfang selbst vorzunehmen. § 577 RVO solle atypische Fallgestaltungen erfassen und – ausgerichtet u.a. am Lebensstandard des Versicherten – für diese zu einem billigen Ergebnis führen. Ziel sei es, den JAV als Grundlage der Rente so zu bemessen, dass der Lebensstandard gesichert werde, den der Versicherte zeitnah vor dem Versicherungsfall erreicht und auf den er sich eingerichtet habe. Nur wenn besondere Umstände vorlägen, die sich auf den maßgeblichen Zeitraum auswirkten und die eine erhebliche Unbilligkeit der Regelberechnung begründeten (unterwertige Beschäftigung, Verdienstausfall innerhalb der Jahresfrist z.B. durch unbezahlten Urlaub), könne zur Vermeidung von Zufallsergebnissen eine Korrektur des JAV angezeigt sein. Eine derartige Sonderkonstellation liege hier ersichtlich nicht vor. Die Festsetzung des JAV auf Basis des Verdienstes eines (ausgebildeten) Fernmeldehandwerkers entspreche gerade den Fähigkeiten, der Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit des Klägers zum Unfallzeitpunkt und sei damit nicht in erheblichem Maße unbillig. Abweichend von der Bezugnahme auf die zwölf Kalendermonate vor dem Monat des Versicherungsfalls werde bei dem Kläger bereits auf der Grundlage von § 573 Abs. 1 RVO auf die beendete Ausbildung abgestellt. Eine darüber hinaus gehende Billigkeitsentscheidung unter Berücksichtigung der gerade nicht maßgeblichen späteren beruflichen Entwicklung sei nicht veranlasst.

Hiergegen richtet sich die am 18.01.2021 zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegte Berufung des Klägers. Das SG verkenne, dass seine berufliche Ausbildung erst nach seinem Studium abgeschlossen gewesen sei. Seine ursprüngliche Planung, nach vorgeschalteter Fernmeldehandwerksausbildung mittels Ingenieurstudium bei der Bundeswehr ein Diplom zu erreichen, um in einem Flugzeug-Cockpit arbeiten zu können, bestenfalls als Pilot, stelle gerade eine stufenweise Ausbildung im Sinne der Rechtsprechung des BSG zu § 573 Abs. 1 SGG dar. Diese habe er sich nicht selbst ausgedacht, sondern er sei von seinem privaten Umfeld auf diese Möglichkeit hingewiesen und durch die Bundeswehr so beraten worden Diese Ausbildung hätte er durchlaufen, wenn er nicht durch den Arbeitsunfall daran gehindert worden wäre. Daher müsse diese ursprüngliche Planung berücksichtigt werden, nicht die tatsächliche Erreichung seines beruflichen Ziels. Maßgeblich sei nicht die erfolgreiche Beendigung der ersten unmittelbar an den Unfall anschließenden Ausbildung, sondern der endgültige Abschluss des beabsichtigten Ausbildungsziels. Selbst wenn die Ausbildung zum Fernmeldehandwerker nicht in eine darauf aufbauende Ausbildung als Pilot münde, wie das SG ausführe, sei die Ausbildung für ihn damals zwingend und auch Voraussetzung gewesen, um eine Ausbildung als Diplom-Ingenieur zu erhalten. Darüber hinaus sei es unbillig, den JAV eines Fernmeldehandwerkers heranzuziehen, da der Beruf des Diplomphysikers/Diplom-Ingenieurs seinem Lebenszuschnitt entspreche. Dieses Ziel und diese Stellung habe er schon immer erreichen wollen. Hilfsweise sei der JAV eines Piloten heranzuziehen, weil er dieses Ziel wegen der Augenverletzung auf keinem Weg mehr hätte erreichen können.

Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage mit der Berichterstatterin des Senats hat der Kläger weitere Angaben gemacht. Hierzu wird auf das Protokoll vom 21.11.2021 Bezug genommen. Im Nachgang zum Termin hat der Kläger ergänzend mitgeteilt, dass ihm die vorgeschaltete Ausbildung zum Fernmeldehandwerker beim ersten Praxissemester angerechnet worden sei. Sein Berufsziel sei immer der Abschluss als Diplom-Ingenieur an einer Fachhochschule, zu keinem Zeitpunkt die Tätigkeit als Fernmeldehandwerker gewesen. Hierzu hat der Kläger eine Bestätigung seines Bruders (Bl. 89 Senatsakte) vorgelegt. Das Vorschalten einer Fernmeldehandwerker-Ausbildung vor einem Ingenieursabschluss bei der Bundeswehr sei damals für ihn der einzige Weg gewesen, um sein Ziel zu erreichen. Nicht relevant sei, dass es auch andere Möglichkeiten gebe, Diplom-Ingenieur zu werden. Er habe nicht die Ausbildung zum Soldaten bei der Bundeswehr angestrebt, diese hätte nur Mittel zum Zweck sein sollen, um ohne Abitur studieren zu können.

Der Kläger beantragt (teilweise sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Dezember 2020 und den Bescheid vom 7. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 27. April 1976 ab dem 13. Juli 2015 eine höhere Verletztenrente unter Berücksichtigung des Jahresarbeitsverdienstes eines Diplom-Ingenieurs Physikalische Technik, hilfsweise unter Berücksichtigung des Jahresarbeitsverdienstes eines Piloten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Sie bestreite nicht, dass der Kläger über die Bundeswehr eine Ausbildung zum Diplom-Ingenieur angestrebt habe. Von einer einheitlichen Ausbildung könne trotzdem nicht ausgegangen werden. Objektiv habe der Kläger sich vorrangig zum Soldaten bei der Bundeswehr ausbilden lassen wollen, wobei im weiteren Verlauf und abhängig vom soldatischen Ausbildungserfolg des Klägers die Chance bestanden hätte, bei der Bundeswehr ein Ingenieursstudium beginnen zu können. Damit sei die Lehre zum Fernmeldehandwerker mit anschließendem Schulbesuch zum Erwerb der Fachschulreife nicht in ein Studium zum Diplom-Ingenieur eingemündet, eine Einheitlichkeit liege nicht vor. Der Kläger sei durch die Ausmusterung auch nicht für den Beruf des Diplom-Ingenieurs untauglich gewesen, sondern für den Beruf des Soldaten. Auch soweit der Kläger sich wegen der Ausmusterung habe umorientieren müssen, führe dies nicht zu einer einheitlichen Ausbildung. Vielmehr sei es zu einer deutlichen Zäsur im Ausbildungsweg des Klägers im Sinne der § 543 RVO gekommen, der zu einer weiteren, zweiten Ausbildung, nicht aber zur Fortsetzung der mit der Handwerkerausbildung begonnenen Ausbildung geführt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid vom 21.12.2020 zu Recht die Klage des Klägers abgewiesen.

Das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid unter zutreffender Beschreibung des Streitgegenstandes, der statthaften Klageart, der Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers, der für die Bestimmung des JAV anzuwendenden Vorschriften der RVO und der zu § 573 Abs. 1 RVO ergangenen Rechtsprechung des BSG ausführlich dargelegt, dass und warum die Beklagte es zu Recht mit Bescheid vom 07.01.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2020 abgelehnt hat, dem Kläger unter Abänderung ihres Bescheids vom 27.04.1976 rückwirkend ab dem 15.07.2015 eine höhere Verletztenrente nach einem JAV entsprechend dem Gehalt eines Diplom-Ingenieurs Physikalische Technik oder hilfsweise eines Piloten zu gewähren, da die Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 27.04.1976 weder das Recht unrichtig angewandt hat noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, sondern zutreffend bei der Berechnung des maßgebenden JAV auf den Verdienst eines ausgebildeten Fernmeldehandwerkers abgestellt hat. Auf diese Ausführungen nimmt der Senat Bezug, schließt sich ihnen vollumfänglich an, verzichtet insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die weitere Darstellung der Entscheidungsgründe und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung des SG als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Lediglich ergänzend ist in Bezug auf das Berufungsvorbringen der Beteiligten auf Folgendes hinzuweisen:

Der Zeitpunkt des Endes der Ausbildung, auf welchen es für die Neuberechnung des JAV nach § 573 Abs. 1 RVO ankommt, ist nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles festzustellen (BSG, Urteil vom 26.09.1986- – 2 RU 1/86 -, Juris). Nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalles hat die Beklagte zutreffend die Rente nach Abschluss der Ausbildung zum Fernmeldehandwerker neu berechnet. Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers im Berufungsverfahrens einschließlich seiner persönlichen Angaben im Erörterungstermins und der von ihm vorgelegten schriftlichen Bestätigung seines Bruders hätte die Beklagte nicht gemäß § 573 Abs. 1 RVO einen fiktiven JAV für die Zeit nach einer zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls schon bzw. noch betriebenen Ausbildung zum Diplom-Ingenieur Physikalische Technik oder zum Piloten zugrunde legen müssen.

Der Kläger befand sich zum Unfallzeitpunkt nicht in einer einheitlichen Ausbildung zum Diplom-Ingenieur Physikalische Technik. Zwar verweist der Kläger zutreffend darauf, dass nach der auch vom SG dargestellten Rechtsprechung des BSG zu § 573 Abs. 1 RVO (vgl. u.a. Urteil vom 05.08.1993 - 2 RU 24/92 -, Juris) von einer einheitlichen Ausbildung nicht nur im Fall einer Stufenausbildung auszugehen ist, bei der der erfolgreiche Abschluss einer Stufe Zugangsvoraussetzung für die Zulassung zur weiteren Ausbildungsstufe ist, sondern ausreichend ist, wenn eine Ausbildung in eine darauf aufbauende Ausbildung einmündet, die von vornherein so geplant war und objektiv sinnvoll ist. Zwar trägt der Kläger vor und hat hierzu auch eine Bestätigung seines Bruders vorgelegt, dass auch er von vornherein über eine akademische Ausbildung bei der Bundeswehr sein Berufsziel des Piloten habe erreichen wollen und die Ausbildung zum Fernmeldehandwerker nach Absprache mit seiner Familie und Beratung durch das Kreiswehrersatzamt nur absolviert habe, weil eine akademische Ausbildung bei der Bundeswehr neben einer langjährigen Verpflichtung zum Berufs- bzw. Zeitsoldat eine Ausbildung in einem technischen Beruf und einen Real- oder Fachschulabschluss vorausgesetzt habe. Überdies sei ihm seine vorherige Ausbildung im Rahmen des ersten Praxissemesters bei seinem Studium angerechnet worden. Insoweit sieht aber auch der Senat die Voraussetzungen einer einheitlichen Ausbildung als nicht erfüllt an. Die konkrete Situation des Klägers ist nicht vergleichbar mit der Situation, die der Entscheidung des BSG vom 05.08.1993 zugrunde lag, wonach ein Versicherter einen angestrebten Bauingenieursabschluss von vornherein über eine dem Studium vorgeschaltete Zimmermannslehre erreichen wollte, was ihm so nach allgemeiner Übung der angestrebten Fachhochschule empfohlen worden war und ihm bei verschiedenen vor und während des Studiums zu erbringenden Leistungsnachweisen angerechnet wurde. Dort ist das BSG von einer einheitlichen Berufsausbildung im Sinne des § 573 Abs. 1 RVO und nicht von einem Bauingenieurstudium als Weiterbildung nach der Gesellenprüfung ausgegangen. Vorliegend hatte der Kläger nie ein Studium der Physikalischen Technik und eine berufliche Tätigkeit als Diplom-Ingenieur Physikalische Technik geplant, auch nicht nach seinem eigenen Vortrag. Auch mündete seine Berufsausbildung nicht unmittelbar in sein Studium im Sinne einer einheitlichen Ausbildung. Soweit der Kläger geltend macht, der große zeitliche Abstand zwischen seinem Unfall bzw. dem Ende seiner Ausbildung zum Fernmeldehandwerker und dem Beginn seines Studiums könne entgegen den Ausführungen des SG nicht als Argument dafür herangezogen werden, dass er sich zum Zeitpunkt seines Unfalls nicht bereits in einer Berufsausbildung im Sinne des § 573 Abs. 1 RVO zum Diplom-Ingenieur Physikalische Technik befunden habe, da die eingetretene Unterbrechung ausschließlich Folge des erlittenen Unfalls gewesen sei, der eine Neuorientierung hinsichtlich des Wegs zu seinem von vornherein gefassten Berufsziel erforderlich gemacht habe, ist nicht nachvollziehbar. Zwar war er gezwungen, für ein Studium außerhalb der Bundeswehr auch einen schulischen Abschluss nachzuholen, der für ein Studium bei der Bundeswehr nicht erforderlich war. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum Fernmeldehandwerker im Juli 1972 hat der Kläger zunächst ein Jahr lang die Fachschulreife nachgeholt, was auch für ein Studium bei der Bundeswehr zwingende Voraussetzung gewesen wäre. Nach dem Wiedereintritt in seine Tätigkeit beim Fernmeldeamt im Juli 1973 und seiner Ausmusterung bei der Bundeswehr im November 1973 hat er aber nicht unmittelbar die für ein Studium außerhalb der Bundeswehr erforderliche Fachhochschulreife erworben und studiert, sondern erst nach mehrjähriger beruflicher Tätigkeit als Fernmeldehandwerker berufsbegleitend die Abendschule besucht, was sich aus seinem eigenen Vortrag und der Bestätigung seines Bruders ergibt, dass er die Fachhochschulreife erst im Jahr 1980 erworben hat, hierfür aber lediglich 3,5 Jahre benötigt hat. Weshalb ihm der Besuch der Abendschule unfallbedingt nicht schon früher möglich gewesen sein sollte, ist nicht ersichtlich und wurde vom Kläger auch nur pauschal behauptet. Diese zeitliche Unterbrechung spricht gegen eine Einheitlichkeit der Ausbildung zum Fernmeldehandwerker und zum Diplom-Ingenieur Physikalische Technik und dafür, dass der Kläger nicht von vornherein seine berufliche Ausbildung lediglich einem nachfolgenden Studium vorschalten und sich dadurch finanzielle Mittel während des Erwerbs des weiter erforderlichen schulischen Abschlusses verschaffen wollte.

Wie das SG bereits dargestellt hat, ist wesentlich für den Begriff der Berufsausbildung im Sinne von 573 Abs. 1 RVO, welcher mögliche Abschluss mit der zur Zeit des Unfalls begonnenen Ausbildung angestrebt wird. Das war jedoch schon nach den eigenen Angaben des Klägers nicht der Beruf des Diplom-Ingenieurs Physikalische Technik. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine nach dem Versicherungsfall völlig neu begonnene Ausbildung ohne Bezug zu den im Zeitpunkt des Versicherungsfalls prägenden Lebensverhältnissen des Klägers. Daran ändert auch der erstmals im Berufungsverfahren gemachte Vortrag, dass ihm die vorherige berufliche Ausbildung auf das erste Praxissemester seines Studiums angerechnet worden sei, nichts. Denn der Kläger hat weder vorgetragen noch ist ersichtlich, dass er zum Zeitpunkt seines Arbeitsunfalls auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen hätte, einen Studiengang Physikalische Technik zu absolvieren.

Soweit der Kläger insoweit geltend macht, unabhängig von der tatsächlich später gewählten Fachrichtung Physikalische Technik habe er jedenfalls bereits vor Beginn der Ausbildung zum Fernmeldehandwerker die unverrückbare Absicht gehabt, ein Hochschulstudium bei der Bundeswehr mit dem Abschluss Diplom-Ingenieur zu absolvieren, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. In dem Plan, das endgültige Berufsziel eines Piloten über eine akademische Ausbildung bei der Bundeswehr zu erlangen, um nach Abschluss der dortigen Verpflichtung in der zivilen Luftfahrt zu arbeiten, liegt nicht das klare Ausbildungsziel eines konkreten Hochschulstudiums einer bestimmten Fachrichtung, sondern vielmehr ein Karriereplan, der vorsah, die bei der Bundeswehr grundsätzlich bestehende Möglichkeit zu nutzen, über ein Hochschulstudium für Personen, die über eine technische Berufsausbildung und mindestens einen Real- oder Fachschulabschluss verfügten, sich nach Abschluss ihres Wehrdienstes langjährig als Berufs- bzw. Zeitsoldat verpflichteten, und - soweit auch unabhängig von den Folgen des Arbeitsunfalls die fliegerärztliche Tauglichkeit bescheinigt worden wäre - eine anschließende Weiterbildung zum Piloten als solcher tätig zu sein. Insoweit waren verschiedenartige Schritte erforderlich, die die Ausbildung zum Fernmeldehandwerker nicht als Beginn einer einheitlichen Berufsausbildung in Form eines Hochschulstudiums mit Abschluss Diplom-Ingenieur verknüpfen.

Soweit der Kläger weiterhin auch mit der Berufung hilfsweise begehrt, den für seine Verletztenrente maßgeblichen JAV nach dem Verdienst eines Piloten zu berechnen, spricht schon sein eigener Vortrag dagegen, dass er sich zum Zeitpunkt des Unfalls in einer einheitlichen Ausbildung zum Piloten befunden hat. Denn im Hinblick auf die Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid hat er selbst eingeräumt, dass er sein Karriereziel Pilot auch nach seinem ursprünglichen Karriereplan nur als weitere Ausbildung nach einem Studium bei der Bundeswehr hätte erreichen können, so dass es sich hierbei, wie vom SG ausgeführt, um eine Weiterbildung im Sinne des § 573 Abs. 1 RVO gehandelt hätte. Auch formuliert er selbst, dass es sich lediglich um eine Möglichkeit bzw. Chance gehandelt hatte, diese Weiterbildung tatsächlich auch machen zu können, da es zum Zeitpunkt seiner Beratung beim Kreiswehrersatzamt gerade einen Bedarf an Piloten gegeben habe. Dies steht aber nicht der Entscheidung des SG entgegen, sondern bestätigt diese gerade.

Dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer höheren Verletztenrente nach der Billigkeitsnorm des § 577 RVO ebenfalls nicht erfüllt sind, hat das SG zutreffend ausgeführt. Anhaltspunkte, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen könnten, sind insoweit weder mit der Berufung vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.

Mithin ist die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.





 

Rechtskraft
Aus
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