L 5 KR 1349/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 3004/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 1349/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Dem Berufsanfängerprivileg nach § 3 Abs. 2 KSVG steht eine in der Vergangenheit ausgeübte unter das KSVG fallende Tätigkeit (hier publizistische Tätigkeit), die in keinerlei Zusammenhang zur aktuell zu beurteilenden Tätigkeit (hier als Webdesigner) steht, grundsätzlich nicht entgegen.

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Ulm vom 09.03.2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand


Im Streit steht die Versicherungspflicht des Klägers in der Künstlersozialversicherung von Juni 2016 bis Mai 2019.

Der im Jahr 1963 geborene Kläger schloss im September 1989 ein Studium der Rechtswissenschaften ab. Nach einer kurzzeitigen Tätigkeit als Datentypist war er in der Zeit von Februar bis Oktober 1990 arbeitssuchend. Während eines Sprach-Studienaufenthalts in Thailand in der Zeit von Februar bis Oktober 1990 verfasste und veröffentlichte er zusammen mit einem Freund einen Sprachführer „Thai für Touris“ im hierfür gegründeten SVerlag, G und S1 GbR. In der Zeit von November 1990 bis 1997 war der Kläger mit Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit bei verschiedenen Arbeitgebern als Datentypist, kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter tätig. Zeitweise war er als zugelassener Rechtsanwalt von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit (Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 28.05.1990). Von 1997 bis Ende 2014 war er als Insolvenzsachbearbeiter bei der Barmer GEK beschäftigt. Seit Anfang 2015 war er arbeitssuchend. Parallel hierzu absolvierte er bis August 2015 erfolgreich ein Fernstudium „Webdesign“ an der Online-Schule für Gestaltung in L. Im September 2015 begann er an derselben Schule ein Fernstudium „Grafikdesign“, welches er im Februar 2017 abschloss. Bereits am 12.05.2016 nahm er eine selbständige Tätigkeit als Webdesigner auf. Die Agentur für Arbeit bewilligte ihm hierfür nach Vorlage eines Businessplans mit Bescheid vom 20.06.2016 einen Gründungszuschuss. Zum 21.08.2019 gab er seine selbständige Tätigkeit als Webdesigner wieder auf, nachdem er durchgängig keine Gewinne erwirtschaften konnte.

Am 20.06.2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung der Künstlersozialversicherungspflicht.

Mit Bescheid vom 18.01.2017 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da die vom Kläger vorgelegten Unterlagen nicht ausreichend erkennen ließen, dass die selbständige künstlerische Tätigkeit nachhaltig und erwerbsmäßig ausgeübt werde. Berücksichtigt worden sei bei der Entscheidung die Rechnung vom 22.09.2016.

Hiergegen legte der Kläger am 24.02.2017 Widerspruch ein. Da er das zwingend erforderliche Existenzgründungsdarlehen trotz erfolgsversprechenden Businessplans nicht erhalten habe, sei sein Vorhaben ins Stocken geraten, da er geplante Werbemaßnahmen habe nicht durchführen können. Daher habe er sich im September 2016 entschlossen, eine für die Altersvorsorge gedachte Wohnung zu verkaufen. Der Notartermin werde vermutlich im April 2017 stattfinden. Zudem habe er die selbständige Tätigkeit seit Aufnahme mindestens acht Stunden werktäglich ausgeübt, so dass eine erwerbsmäßige Tätigkeit vorliege. Auf Nachfrage der Beklagten teilte der Kläger mit Schreiben vom 29.08.2017,dass er keine weiteren Aufträge habe akquirieren können.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.09.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Am 04.10.2017 hat der Kläger zum Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben und beantragt festzustellen, dass er vom 12.05.2016 bis 21.08.2019 als Webdesigner der Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung unterlegen habe. Zur Begründung hat er vorgetragen, er sei bei der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft freiwillig gesetzlich unfallversichert. Zudem sei er davon ausgegangen, dass er von seinem Bruder, der selbständiger Grafikdesigner sei, Aufträge bekomme. Dies habe sich leider anders entwickelt; bisher habe er keinen einzigen Auftrag erhalten. Aktuell führe er Gespräche und habe einige Aufträge bzw. habe Aufträge konkret in Aussicht. Mit der Veröffentlichung des Sprachführers im Jahr 1990 sei zu keiner Zeit beabsichtigt gewesen, Geld zu verdienen. Es habe sich um einen „Studenten-Gag“ gehandelt und nicht um einen Beruf. Es habe einen einzigen Druckauftrag über 2000 Exemplare gegeben. Eine Kiste stehe noch heute irgendwo im Keller. Der Verlag sei nur gegründet worden, um die Kosten steuerlich absetzen zu können. Auf Anforderung des SG hat der Kläger eine Rechnung vom 16.11.2017 vorgelegt. Der Auftrag sei nicht beendet worden, da der Kunde wegen Aufgabe der selbständigen Tätigkeit kein Interesse mehr an einer Website gehabt habe. Zudem hat der Kläger Monatsreporte für die Monate Februar bis April 2018, ein Buchungsprotokoll und eine betriebswirtschaftliche Auswertung für das Jahr 2017, den Einkommenssteuerbescheid für das Jahr 2016 sowie eine an Büroservice Z gerichtete Abschlagsrechnung vom 22.09.2016 beim SG eingereicht.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, da der Kläger bereits im Jahr 1990 publizistisch tätig gewesen sei, indem er für die Veröffentlichung eines Sprachführers einen Verlag gegründet habe, sei nunmehr davon auszugehen, dass dieser kein Berufsanfänger mehr sei.

Mit Gerichtsbescheid vom 09.03.2021 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 18.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 04.09.2017 aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger in der Zeit vom 20.06.2016 bis 11.05.2019 als Webdesigner der Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung unterlag. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen der Versicherungspflicht des Klägers nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) hätten vom 20.06.2016 bis 11.05.2019 vorgelegen. Nach § 8 Abs. 1 KSVG beginne die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung sowie in der sozialen Pflegeversicherung mit dem Tag, an dem die Meldung des Versicherten nach § 11 Abs. 1 KSVG eingehe, beim Fehlen einer Meldung mit dem Tag des Bescheides, durch den die Künstlersozialkasse die Versicherungspflicht feststelle. Sie beginne frühestens mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen für die Versicherung erfüllt seien. Die Meldung des Klägers bzw. der Fragebogen zur Prüfung der Versicherungspflicht nach dem KSVG sei am 20.06.2016 bei der Beklagten eingegangen. Die Voraussetzungen einer Versicherung in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung nach dem KSVG hätten bereits an diesem Tag vorgelegen, denn der Kläger habe seit dem 12.05.2016 eine künstlerische Tätigkeit nach § 2 Satz 1 KSVG erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend ausgeübt, ohne in diesem Zusammenhang einen Arbeitnehmer zu beschäftigen (§ 1 Nr. 1 und 2 KSVG). Die Tätigkeit als Webdesigner stelle unstreitig eine künstlerische Tätigkeit im Sinne des KSVG dar (vgl. BSG, Urteil vom 07.07.2005 - B 3 KR 37/04 R -). Auch sei die Tätigkeit erwerbsmäßig ausgeübt worden. Dieses Kriterium diene der Abgrenzung zur reinen Liebhaberei. Zu Erwerbszwecken werde eine Tätigkeit dann ausgeübt, wenn sie dazu dienen solle, der Person den Weg zu ebnen, in naher Zukunft ihren Lebensunterhalt nicht nur unwesentlich über die künstlerische Tätigkeit zu bestreiten (Landessozialgericht <LSG> Niedersachsen Bremen, Urteil vom 28.01.2009 - L 1 KR 251/06 -; LSG Hamburg, Urteil vom 30.05.2007 - L 1 KR 2/07 -). Ob das Einkommen aus der künstlerischen Tätigkeit tatsächlich allein ausreiche, um die Kosten des Lebensunterhalts zu decken, sei nicht entscheidend. Denn wie sich aus § 3 KSVG ergebe, sei Sozialversicherungspflicht nach dem KSVG bereits dann anzunehmen, wenn das Jahreseinkommen 3.900,01 € betrage. Sogar ein „Nulleinkommen“ stehe der erwerbsmäßigen Tätigkeit nicht zwingend entgegen.
Vorliegend sei der ernsthafte Wille des Klägers, seinen Lebensunterhalt seit Mai 2016 in nicht nur unwesentlichem Umfang durch seine künstlerische Arbeit zu bestreiten, von Beginn an nachvollziehbar belegt durch den bei der Agentur für Arbeit vorgelegten - und von dieser akzeptierten - Businessplan. Denn hierdurch habe der Kläger die Tragfähigkeit seines Unternehmenskonzepts gegenüber der Agentur nachgewiesen. Auch habe er die Tätigkeit beim Finanzamt angemeldet. Schließlich wiesen die Monatsreporte darauf hin, dass der Kläger regelmäßig mehrere Stunden täglich als Webdesigner tätig gewesen sei, wenn auch überwiegend theoretischer Natur. Dem Kriterium der Erwerbsmäßigkeit stehe nicht entgegen, dass der Kläger kaum Aufträge akquirieren und Einkommen habe erzielen können. Versicherungsfreiheit nach § 3 Abs. 1 KSVG bestehe nicht, obwohl das darin genannte Mindesteinkommen nicht habe erreicht werden können. Denn dies verstieße gegen das Berufsanfängerprivileg nach § 3 Abs. 2 KSVG. Nach dieser Vorschrift trete die Pflichtversicherung nach dem KSVG bis zum Ablauf von drei Jahren nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit auch dann ein, wenn daraus (noch) gar kein Einkommen erzielt werde. Diese Privilegierung berücksichtige gerade die schwierige Berufsanfangssituation, in der sich eine neu aufgenommene Tätigkeit möglicherweise noch nicht in voller Breite habe entfalten können. Die Voraussetzungen einer erwerbsmäßigen und nicht nur vorübergehenden Ausübung der Tätigkeit blieben davon unberührt. Es sei daher grundsätzlich erforderlich und - solange keine Versicherungsfreiheit nach §§ 4, 5 KSVG vorliege - für Berufsanfänger i. S. von § 3 Abs. 2 KSVG auch ausreichend, dass durch die selbständige künstlerische Tätigkeit Einnahmen in nicht nur unerheblichem Umfang erzielt werden „sollen“. Bei Berufsanfängern sei also in erster Linie eine in die Zukunft gerichtete Betrachtung der Zielrichtung der neu aufgenommenen Tätigkeit vorzunehmen. Das gelte sowohl für die Ermittlung der konkreten Tätigkeitselemente, die voraussichtlich das Gesamtbild der neu aufgenommenen Tätigkeit prägen würden, als auch bei der Beurteilung des eigenschöpferischen Anteils der einzelnen Tätigkeitselemente. Auch dies könne sich nicht allein aus vereinzelten Erstaufträgen ergeben. Das Gesamtbild einer neu aufgenommenen Tätigkeit zeige sich vielmehr an der Konzeption der selbständigen Tätigkeit. Wesentliche konzeptionelle Elemente einer neu aufgenommenen selbständigen Tätigkeit ergäben sich in der Regel aus den Plänen für die Finanzierung sowie aus beruflichen Kenntnissen, Fähigkeiten, Erfahrungen und ggf. Kontakten des Berufsanfängers. Für die prognostische Beurteilung könnten zudem neben den eigenen Angaben des Berufsanfängers z.B. auch Werbemaßnahmen in Flyern oder ein Internetauftritt herangezogen werden, um einen Eindruck über das Gesamtbild zu erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2019 - B 3 KS 2/18 R -). Entgegen der Ansicht der Beklagten sei der Kläger zur Überzeugung der Kammer Berufsanfänger. Zwar habe der Kläger im Jahr 1990 einen Verlag gegründet, um einen Sprachführer zu veröffentlichen. Damit habe der Kläger - an seinem Lebenslauf erkennbar- jedoch nie seinen Lebensunterhalt finanziert. Daher habe diesbezüglich zu keinem Zeitpunkt eine erwerbsmäßige Ausübung bestanden, so dass eine Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung von vorneherein ausschied. Des Weiteren habe die publizistische Tätigkeit den Berufseinstieg als Webdesigner in keinster Weise erleichtert. Die Tätigkeit als Webdesigner, die es im Jahr 1990 noch nicht gegeben habe, verlange ganz andere berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die der Kläger erst unmittelbar vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit erworben habe. Mithin könne er die Privilegierung des § 3 Abs. 2 KSVG in Anspruch nehmen, denn es habe ab Mai 2016 gerade die typische schwierige Situation bestanden, in der sich Berufsanfänger zwangsläufig befänden. Der Kläger könne sich somit vom 20.06.2016, dem Tag der Meldung bei der Künstlersozialkasse, bis zum 11.05.2019 auf § 3 Abs. 2 KSVG berufen. Für die Zeit ab 12.05.2019 bis zur Aufgabe der selbständigen Tätigkeit dagegen bestehe nach § 3 Abs. 1 Satz 1 KSVG Versicherungsfreiheit. Denn der Kläger habe sich nicht in der konzeptionell ausgerichteten Weise entwickelt und durchgängig Verluste gemacht. Nach einer längeren Phase der Arbeitsunfähigkeit habe der Kläger die selbständige Tätigkeit als Webdesigner zum 21.08.2019 beendet, da diese gescheitert sei. Die Geringfügigkeitsgrenze von jährlich 3.900 € sei somit auch ab Mai 2019 nicht überschritten worden.

Gegen den ihr am 24.03.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 16.04.2021 Berufung beim LSG Baden-Württemberg eingelegt. Sie macht geltend, der Kläger sei zum Zeitpunkt der Meldung am 20.06.2016 kein Berufsanfänger mehr im Sinne von § 3 Abs. 1 KSVG gewesen.
Der Kläger habe selbst im Fragebogen angegeben, in der Zeit vom Februar 1990 bis Oktober 1990 bereits publizistisch tätig gewesen zu sein. Hierfür habe er einen eigenen Verlag gegründet. Ein entsprechender Erwerbswille sei daher gegeben gewesen. Bei Gründung eines sog. Selbstverlages werde ein Erwerbswille dokumentiert. Dieser Erwerbswille sei nach der neuen Rechtsprechung des BSG (Urteil vorn 04.06.2019 - B 3 KS 2/18 R -) ausreichend für den Beginn der Berufsanfängereigenschaft. Eine Streckung des Berufsanfängerzeitraums sei nicht möglich. Da der Kläger im Zeitraum 20.06.2016 bis 11.05.2019 lediglich Einkünfte von ca. 400,00 € erzielt habe, bestehe Versicherungsfreiheit gern. § 3 Abs. 1 KSVG. Unerheblich sei, dass es sich bei der Tätigkeit im Jahr 1990 nicht um dieselbe künstlerische bzw. publizistische Tätigkeit gehandelt habe. Das Berufsanfängerprivileg des § 3 Abs. 2 Satz 1 KSVG werde mit Aufnahme jedweder Tätigkeit im Sinne des KSVG verbraucht. Dies entspräche Sinn und Zweck der Regelung und der obergerichtlichen Rechtsprechung (unter Verweis auf LSG Berlin, Urteil vom 16.06.1999 - L 9 KR 98/97 -; LSG Hamburg, Urteil vom 30.05.2007 - L 1 KR 2/07 -; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2016 - L 5 KR 756/15 BER -). Andernfalls könnten Betroffene ihr gesamtes Erwerbsleben unter dem Privileg des § 3 Abs. 2 Satz 1 KSVG verbringen. Es wäre nur erforderlich, dass die Kunstsparte gewechselt werde, z.B. als Berufsanfänger im Bereich Musik zum Berufsanfänger im Bereich bildende Kunst. Aber auch - wie hier - wäre es ausreichend, innerhalb der Sparte ein anderes Tätigkeitsprofil anzugeben. Bei entsprechenden Voraussetzungen wäre es dann möglich, das gesamte Erwerbsleben ohne ausreichende Einnahmen zu verbringen und trotzdem sozialversicherungspflichtig zu sein.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 09.03.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe


Der Senat konnte über die Berufung in der mündlichen Verhandlung vom 18.05.2022, zu der der Kläger ordnungsgemäß geladen worden ist, trotz Abwesenheit des Klägers entscheiden, da auf diese Möglichkeit in der Ladung hingewiesen worden ist (§§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist statthaft und zulässig, aber in der Sache unbegründet. Das SG hat der Klage im tenorierten Umfang zu Recht stattgegeben.

Nachdem nur die Beklagte Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 09.03.2021 eingelegt hat, ist Streitgegenstand des Berufungsverfahrens der Bescheid der Beklagten vom 18.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 04.09.2017, soweit die Beklagte darin die Feststellung der Versicherungspflicht des Klägers in der Künstlersozialversicherung in der Zeit ab 20.06.2016 ablehnt, begrenzt auf das tenorierte Ende der Versicherungspflicht mit Ablauf des 11.05.2019.

Die als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage statthafte Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 18.01.2017 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 04.09.2017 ist – im zu prüfenden Umfang – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger unterlag in seiner Tätigkeit als Webdesigner der Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung in der Zeit vom 20.06.2016 bis 11.05.2019.

Nach § 8 Abs. 1 KSVG beginnt die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung sowie in der sozialen Pflegeversicherung mit dem Tag, an dem die Meldung des Versicherten nach § 11 Abs. 1 KSVG eingeht, beim Fehlen einer Meldung mit dem Tag des Bescheides, durch den die Künstlersozialkasse die Versicherungspflicht feststellt. Sie beginnt frühestens mit dem Tag, an dem die Voraussetzungen für die Versicherung erfüllt sind.

Die Meldung des Klägers ging am 20.06.2016 bei der Beklagten ein. Die Voraussetzungen einer Versicherung in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung nach dem KSVG lagen bereits an diesem Tag vor. Denn der Kläger übte seit diesem Tag eine künstlerische Tätigkeit nach § 2 Satz 1 KSVG erwerbsmäßig und nicht nur vorübergehend aus, ohne in diesem Zusammenhang einen Arbeitnehmer zu beschäftigen (§ 1 Nr. 1 und 2 KSVG) und ohne einen Tatbestand der Versicherungsfreiheit nach §§ 3 bis 5 KSVG zu erfüllen.

Die Tätigkeit als Webdesigner stellt unstreitig eine künstlerische Tätigkeit im Sinne des KSVG dar (vgl. BSG, Urteil vom 07.07.2005 - B 3 KR 37/04 R -). Auch ist die Tätigkeit erwerbsmäßig ausgeübt worden.
Der Senat sieht insoweit von einer weiteren eingehenden Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG). Aus der Berufungsbegründung ergeben sich insoweit keine neuen Gesichtspunkte. Die Beklagte war zudem bereits im Verfahren beim SG von ihrer ursprünglichen Begründung für den ablehnenden Bescheid abgerückt.

Der Kläger erfüllte auch keinen Tatbestand der Versicherungsfreiheit nach §§ 3 bis 5 KSVG. Er erreichte zwar nicht das Mindesteinkommen gemäß § 3 Abs. 1 KSVG. Er unterfiel im streitgegenständlichen Zeitraum jedoch dem Berufsanfängerprivileg nach § 3 Abs. 2 KSVG. Nach dieser Norm (in der Fassung des Zweites Gesetz zur Änderung des KSVG und anderer Gesetze vom 13.06.2001, BGBl. I 1027) gilt für die Dauer von drei Jahren nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit kein Mindesteinkommen. Personen, die ihre Tätigkeit erstmalig aufgenommen haben, sind demnach unabhängig davon versichert, ob ihr Arbeitseinkommen das Mindesteinkommen von 3.900,00 € erreicht oder nicht. Durch diese Regelung soll der oftmals schwierigen Anlaufphase und den regelmäßig auftretenden Anfangsschwierigkeiten dieser Personengruppe Rechnung getragen werden.
Berufsanfänger sind somit selbst dann pflichtversichert, wenn sie überhaupt kein Arbeitseinkommen erzielen. Die streitgegenständliche Tätigkeit unterfiel – entgegen der Auffassung der Beklagten – dem Berufsanfängerprivileg. Der Kläger hat unstreitig die der Versicherungspflicht nach dem KSVG unterliegende Tätigkeit als selbständiger Webdesigner erstmals im Mai 2016 aufgenommen. Das Verfassen des Sprachführers und die zur Veröffentlichung erfolgte Gründung eines Selbstverlages im Jahr 1990 stehen dem nicht entgegen. Denn diese publizistische Tätigkeit hatte keinen Erwerbscharakter und wurde zudem nur vorübergehend ausgeübt. Sie unterfiel damit nicht dem KSVG (damals in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des KSVG vom 20.12.1988, BGBl. I 2606). Nach den glaubhaften Angaben des Klägers handelte es sich lediglich um eine Liebhaberei. Die Tätigkeit sollte nicht der Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Der Kläger hat damit nicht die Absicht verfolgt, ein (über der damals geltenden Geringfügigkeitsgrenze liegendes) Arbeitseinkommen zu erzielen; er war in dieser Zeit arbeitssuchend. Dem steht die Gründung des Selbstverlags nicht entgegen. Mit der Gründung des Selbstverlages wurde nicht die Absicht verfolgt, damit den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie diente allein der steuerlichen Absetzbarkeit der mit dem Verfassen des Sprachführers verbundenen Kosten. Der Kläger hat somit im Jahr 1990 keine Tätigkeit aufgenommen, die unter die Versicherungspflicht des KSVG fiel.

Abgesehen davon genügt – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht die Aufnahme jedweder Tätigkeit, die unter das KSVG fällt. § 3 Abs. 2 Satz 1 KSVG spricht von der erstmaligen Aufnahme „der“ Tätigkeit und nicht „einer“ Tätigkeit. Auch Sinn und Zweck der Regelung, Berufseinsteiger in der oftmals schwierigen Anlaufphase zu privilegieren, spricht dafür, nicht jedwede Tätigkeit im Sinne von § 1 KSVG genügen zu lassen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie hier die in der Vergangenheit ausgeübte Tätigkeit in keinerlei Zusammenhang zur aktuell zu beurteilenden Tätigkeit steht. Das Verfassen und die Veröffentlichung des Sprachführers vor über 25 Jahren weist keinerlei Bezug zur Tätigkeit als Webdesigner aus, für die der Kläger zwischenzeitlich eine eigenständige Ausbildung durchlaufen hatte und einen Gründungszuschuss bezog. Es handelte sich nicht lediglich um einen Genrewechsel, sondern um eine völlig andere Tätigkeit (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.01.2009 - L 1 KR 251/06 -, in juris). Die von der Beklagten vorgelegten Entscheidungen anderer LSGe stehen dem nicht entgegen. In dem Sachverhalt, der dem Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 25.03.2014 (- L 4 KR 564/10 -) zugrunde lag, hatte sich die Art der Tätigkeit (Komponist) gerade nicht geändert. Lediglich der Tätigkeitsschwerpunkt hatte gewechselt und weitere Tätigkeiten innerhalb des künstlerischen Schaffens waren hinzugekommen; dies sollte nach Auffassung des LSG Niedersachsen-Bremen für eine Anwendung des Berufsanfängerprivilegs nicht genügen (unter Verweis auf LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 06.04.2005 - L 4 RA 137/03 -, juris, wo es um die Wiederaufnahme einer unterbrochenen künstlerischen Tätigkeit ging). Auch das Urteil des LSG Hamburg vom 30.05.2007 (- L 1 KR 2/07 -) betrifft einen anderen Sachverhalt. Dort war der Kläger von Anfang an publizistisch tätig und hatte lediglich das Genre hin zur Lyrik gewechselt und lediglich den Schwerpunkt innerhalb einer bereits zuvor ausgeübten publizistischen Tätigkeit geändert. Auch der Sachverhalt, der dem Urteil des LSG Berlin vom 16.06.1999 (- L 9 KR 98/97 -) zugrunde lag, unterschied sich von dem vorliegenden, insbesondere deshalb, weil der Kläger dort selbst angegeben hatte, die zu beurteilende künstlerische Tätigkeit schon Jahre zuvor aufgenommen zu haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


 

Rechtskraft
Aus
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