L 5 KR 1811/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 4 KR 3011/2ß
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 KR 1811/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zum (verneinten) Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine Mastektomie zur Behandlung einer sonstigen transidentitären Geschlechtsidentitätsstörung.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 14.04.2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Klage- und Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Kostenerstattung für eine Mastektomie (Operative Entfernung der Brust) beider Brüste nebst erforderlicher Wundversorgung zur Behandlung einer sonstigen transidentitären Geschlechtsidentitätsstörung.

Die.1997 mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geborene und daher personenstandsrechtlich damals als weiblich registrierte klagende Person, die bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert ist, ließ im Oktober 2019 ihren Vornamen und die Geschlechtsangabe im Geburtenregister ändern; als Geschlecht ist nunmehr „ohne Angabe“ eingetragen.

Am 04.12.2019 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung einer Mastektomie beider Brüste. Sie fügte einen undatierten Arztbrief von Herrn B, Assistenzarzt in der Klinik für plastische und ästhetische Chirurgie im F-Krankenhaus in D, bei, in dem als Diagnose Transidentitäre Geschlechtsidentitätsstörung mit dem Therapievorschlag subkutane Mastektomie, stationär, ausgeführt ist. Bei der klagenden Person bestehe der Wunsch der geschlechtsangleichenden Operation. Zwei unabhängige psychologische Gutachten seien in Bearbeitung. Eine Personenstandsänderung sei erfolgt. Eine Hormontherapie werde nicht durchgeführt.

Mit Bescheid vom 05.12.2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Aufgrund der Unterlagen könne eine medizinische Notwendigkeit nicht bestätigt werden. Das Vorliegen eines manifestierten Transsexualismus sei nicht belegt. Insbesondere sei die Alltagserprobung und die Durchführung einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlung von mindestens 18 Monaten Dauer nicht nachgewiesen.

Hiergegen legte die klagende Person mit Schreiben vom 20.12.2019 Widerspruch ein. Wann dieser bei der Beklagten einging, lässt sich der Verwaltungsakte nicht entnehmen. Die erwartete Diagnose Transsexualismus sei von vornherein falsch, da sie nicht auf sie als nicht-binäre Person zutreffe. Die im Bescheid genannten Voraussetzungen der Behandlung verstießen gegen das Leistungsrecht. Sie sei weder Mann noch Frau, also nicht-binär. Daher sei im Personenstandsregister nunmehr „keine Angabe“ erfasst. Die verwendete Begutachtungsanleitung entspreche nicht mehr dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, insofern sei die neue S3-Leitlinie von Februar 2019 zu berücksichtigen. Dort sei auch ausgeführt, dass Dauer und Zeitaufwand für die Diagnostik fallbezogen variabel seien. Nach Möglichkeit sei zu versuchen, den diagnostischen Prozess so kurz wie möglich zu halten, um den Leidensdruck nicht unnötig zu verlängern. Daher sei auch die Alltagserprobung von mindestens 18 Monaten nun nicht mehr Voraussetzung. Vielmehr werde ausgeführt, dass modifizierende Behandlungen körperlicher Geschlechtsmerkmale für Personen, die solche Behandlungen in Anspruch nehmen wollten, die Therapie der ersten Wahl seien. Sie wolle nicht männlich sein, es gebe aber zwischen „männlich“ und „weiblich“ ein breites Spektrum. Sie habe durch ihren weiblichen Körper eine Geschlechtsinkongruenz mit einhergehendem Leidensdruck. Eine Operation in Form der Mastektomie würde ihren Körper in die Mitte des Spektrums schieben und somit der nicht-binären Geschlechtsidentität angleichen, welches auch die Geschlechtsinkongruenz beheben würde. Sie sei transidentitär, durch die Diskrepanz zwischen Geschlechtsidentität und dem durch das Vorhandensein von Brüsten gelebten Geschlecht verspüre sie erheblichen Leidensdruck, weshalb auch von einer Geschlechtsidentitätsstörung gesprochen werden könne, auch wenn die Bezeichnung Geschlechtsinkongruenz treffender sei. Allerdings könne dies bis zur Einführung des ICD-11 nicht als Diagnose angegeben werden. Die Diagnose sei bereits gestellt und nach der S3-Leitlinie auch ausreichend. Zudem liege noch ein Indikationsschreiben einer Diplom-Psychologin vor. Das Verlangen einer Alltagserprobung und einer mindestens 18-monatigen Behandlung widersprächen dem Leistungsrecht und auch dem Wirtschaftlichkeitsgrundsatz. Die Ablehnung sei daher rechtswidrig.

Die klagende Person legte ein Indikationsschreiben der Psychotherapeutin, ein Attest der Hausärztin und einen Auszug aus dem Personenstandsregister vor.

Am 17.01.2020 fragte die klagende Person telefonisch bei der Beklagten nach und teilte mit, ein OP-Termin sei Anfang April geplant. Die Beklagte teilte daraufhin mit, dass der MDK befragt werden solle.

Am 24.01.2020 wurde der Begutachtungsauftrag durch den MDK storniert. Die gesetzliche Krankversicherung erbringe für transsexuelle Personen unter den definierten Voraussetzungen Leistungen. Da kein Transsexualismus vorliege, ergebe sich kein Handlungsbedarf seitens des MDK. Im ICD-10 heiße es zu F64.0 – Transsexualismus –, dass der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, bestehen müsse.

Am 30.01.2020 wurde dies ausweislich der Verwaltungsakte telefonisch der klagenden Person mitgeteilt, welche angab, dass sie das gemäß der S3-Leitlinie nicht nachvollziehen könne. Die Beklagte bat den MDK daraufhin um Erstellung eines Gutachtens unter Berücksichtigung der aktuellen S3-Leitlinie. Transsexualismus liege in diesem Fall nicht vor, daher könne auch nicht unter den Voraussetzungen des Transsexualismus ein Gutachten erstellt werden.

Im Gutachten vom 02.03.2020 kam der MDK zum Ergebnis, es bestehe eine Störung der Geschlechtsidentität, nicht näher bezeichnet (F64.9) sowie als weitere Diagnose Anpassungsstörungen. Zugrunde gelegt werden müsse zur Sicherung einer einheitlichen Begutachtung die Richtlinie des GKV Spitzenverbands „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualität“ mit Stand vom 19.05.2009. Solange keine neue Begutachtungsrichtlinie vorliege, sei diese vom MDK umzusetzen. Nach Aufzählung der in der Begutachtungsrichtlinie vorgesehenen Punkte wurde mitgeteilt, es liege schon keine Transsexualität vor. Auch Punkt fünf werde bei nicht erfolgter gegengeschlechtlicher Hormonersatztherapie nicht erfüllt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) müsse die Maßnahme der Krankenbehandlung unmittelbar an der eigentlichen Krankheit ansetzen. Seitens des MDK gebe es keine Grundlage, die eine geschlechtsangleichende Operation außer bei nachgewiesener Transsexualität begründe. Die Kostenübernahme der beantragten Mastektomie als geschlechtsangleichende Operation könne damit nicht befürwortet werden.

Mit Schreiben vom 06.03.2020 wurde der klagenden Person das Ergebnis der Begutachtung mitgeteilt. Am 26.05.2020 schloss die klagende Person einen Behandlungsvertrag und ließ am 28.05.2020 die Mastektomie im F-Krankenhaus in D komplikationslos durchführen. Sie hat hierfür insgesamt 5.290,59 € gezahlt.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2020 zurück. Es sei zu beurteilen, ob die klagende Person in ihrer Konstellation vergleichbar sei mit dem höchstrichterlich festgestellten Ausnahmefall des Transsexualismus. Denn nur, wenn die Argumentation des BSG auf diesen Fall übertragbar sei, könnten die Kosten übernommen werden. Im Bereich der Intersexualität habe das BSG entschieden, dass Ansprüche auf solche Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielten, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen, gänzlich ausgeschlossen seien. Dies treffe auf den Sachverhalt der klagenden Person zu. Denn sie beantrage die Mastektomie aus Gründen der äußeren Geschlechtsneutralität. Dies diene dazu, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen, was nach dem BSG einen Anspruch auf den operativen Eingriff ausschließe. Es gebe auch kein phänotypisches Erscheinungsbild des „diversen“ Geschlechts. Entsprechend der höchstrichterlichen Rechtsprechung bestehe nur ein Anspruch auf geschlechtsangleichende Maßnahmen, weil diese dazu dienten, sich dem Erscheinungsbild des phänotypisch angestrebten Geschlechts deutlich anzunähern. Dies bestehe im Bereich der non-binären Identifikation nicht. Ein Anspruch auf Kostenübernahme bestehe daher nicht. Die Beklagte verkenne nicht, dass „divers“ als drittes Geschlecht personenstandsrechtlich anerkannt sei. Dies habe jedoch keine Auswirkungen auf Ansprüche der Krankenbehandlung nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Das Personenstandsrecht sei hiervon losgelöst. Solange die höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG beinhalte, dass Behandlungsmaßnahmen, die die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale erhöhen würden, gänzlich ausgeschlossen seien, könne sich die Beklagte darüber nicht hinwegsetzen.

Hiergegen hat die klagende Person am 24.11.2020 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Die Voraussetzungen von § 27 Abs. 1 SGB V lägen vor. Die Indikation für die Behandlung bestehe. Dies stelle auch die Beklagte nicht infrage. Auch die zitierte Rechtsprechung des BSG stehe ihrem Begehren nicht entgegen. In der zitierten Entscheidung vom 04.03.2014 (- B 1 KR 69/12 R -) sei lediglich in Form eines obiter dictum unter Verweis auf ein älteres Urteil des BSG vom 28.09.2010 (- B 1 KR 5/10 R -) mitgeteilt worden, dass Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielten, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen, nicht möglich seien. Berücksichtige man die Entscheidungsgründe des Urteils, ergebe sich keineswegs, dass die Entscheidung dem geltend gemachten Anspruch entgegenstehe. Vielmehr habe man in dieser und anderen Entscheidungen das BSG damals darauf abgestellt, dass eine psychiatrische bzw. psychotherapeutische Indikation zu körperverändernden Operationen aufgrund der Geschlechtsidentität bestehen könne. Das BSG unterscheide Eingriffe in Bezug auf die geschlechtliche Identität von anderen Eingriffen aufgrund der Psyche nicht aufgrund einer rechtlichen Ausnahmeregelung für Transidente, sondern aufgrund des wissenschaftlichen Konsens, dass diese Eingriffe zur Linderung des Leidensdruckes indiziert seien. Im Gegensatz zur Lesart der Beklagten habe das BSG in dem Urteil vom 28.09.2010 nahegelegt, dass auch im vorliegenden Fall die Rechtsprechung zu binären Transsexuellen anzuwenden sein werde. Das BSG habe es nämlich explizit offengelassen, ob körperverändernde Maßnahmen am gesunden Körper bei Intergeschlechtlichen als eigenständiger, dritter Ausnahmebereich neben der Fallgruppe der Entstellungen und der Fallgruppe der binären Transidenten anzusehen sei. Es habe diesen Prüfungsmaßstab als denkmöglich angenommen. Auch das Bayerische Landessozialgericht (LSG) habe in seinem Urteil vom 28.06.2012 (- L 4 KR 96/10 -) die Rechtsprechung zur Transidentität auf weitere Konstellationen eines Auseinanderfallens von geschlechtsspezifischen Körpermerkmalen und der sozial gelebten Geschlechtsidentität angewandt. Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 10.10.2017 (- 1 BvR 2019/16 -) sei anerkannt, dass in der deutschen Rechtsordnung auch Diskriminierungen aufgrund einer nicht binären Geschlechtsidentität verboten seien. Die älteren Urteile des BSG seien daher nunmehr in diesem Licht anzuwenden und würden eine Ungleichbehandlung von transidenten Menschen verbieten. Der MDK habe sich zudem nicht mit ihrem Vorbringen im Widerspruch auseinandergesetzt. Vielmehr habe er sich schlicht geweigert, sich mit der spezifischen Situation zu befassen. Auch sei der anerkannte Stand der medizinischen Forschung unberücksichtigt gelassen worden, insbesondere sei die S3-Leitlinie nicht berücksichtigt worden, trotz ausdrücklicher Bitte der Beklagten. Die vom MDK in Bezug genommene Begutachtungsrichtlinie vom 19.05.2009 sei nicht verbindlich. Zielsetzung sei lediglich die einheitliche Begutachtung durch die verschiedenen regionalen MDK. Die Richtlinie habe damit nur innerdienstlichen Charakter. Maßgeblich für die Beurteilung sei der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Daher sei auch das Abstellen auf die Rechtsprechung des BSG unrichtig. Die 2010 gemachte Feststellung, Behandlungsmaßnahmen, die nicht dem Ziel der Erreichung eines typisierten Erscheinungsbilds dienten, seien ausgeschlossen, seien vor dem Hintergrund der damals aktuellen Wissenschaft entstanden. Diese habe sich aber grundlegend gewandelt. Auch begehre sie keinesfalls Maßnahmen zur optimalen Erreichung eines subjektiven Idealzustands, sondern lediglich eine Mastektomie. Denn dieses sekundäre Geschlechtsmerkmal sei eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuordenbar und stehe damit im Widerspruch zu ihrer Geschlechtsidentität. Da die entsprechenden Urteile des BSG nicht auf speziellen Regelungen für Transsexualität beruhten, sondern auf den gültigen Normen vor dem Hintergrund der jeweiligen Wissenschaft, könne auch dahinstehen, ob es sich bei nicht binären Geschlechtsidentitäten auch um einen Fall der Transsexualität handele oder nicht. Folglich beruhe die Entscheidung im Widerspruchsbescheid auf einem veralteten Wissensstand und widerspreche § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V, nach dem der jeweils anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse Maßstab sei. Hiergegen habe die Beklagte bisher keine substantiierten Einwände vorgebracht. Die klagende Person hat weitere Unterlagen sowie Rechnungen und Zahlungsnachweise vorgelegt.

Die Beklagte ist der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegengetreten. Sie hat ausgeführt, es werde zur Kenntnis genommen, dass die klagende Person die Mastektomie zwischenzeitlich habe durchführen lassen und mithin Kostenerstattung begehre.

Das Gericht hat von der Beklagten bzw. vom MDK, da die Unterlagen der Beklagten nicht mehr vorlagen, die von der klagenden Person mit dem Widerspruch vorgelegten medizinischen Unterlagen (ärztliches Attest der M vom 09.12.2019 und psychologisch-psychotherapeutische Empfehlung einer körpermodifizierenden Behandlung von M1 vom 19.12.2019) beigezogen.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 14.04.2021 hat das SG den Bescheid vom 05.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 22.10.2020 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der klagenden Person die Kosten der am 28.05.2020 erfolgten Mastektomie und der insofern erforderlichen Wundversorgung zu erstatten. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V bestehe Anspruch auf Kostenerstattung von der Krankenkasse, sofern diese eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig habe erbringen können oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt habe und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden seien. Die zweite Alternative dieser Regelung sei vorliegend gegeben. Die Beklagte habe die vorliegend streitige beidseitige Mastektomie zu Unrecht abgelehnt, wodurch der klagenden Person Kosten entstanden seien. Versicherte hätten nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig sei, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V sei ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedürfe oder den Betroffenen arbeitsunfähig mache. Bei der klagenden Person bestehe ausweislich der Diagnosestellung durch die Psychotherapeutin in der Stellungnahme vom 19.12.2019 eine Störung der Geschlechtsidentität, nicht näher bezeichnet, im Sinne einer transidentitären Geschlechtsidentitätsstörung bei nicht-binärer Geschlechtsidentität sowie als begleitende psychische Störung Anpassungsstörungen. An dieser Diagnose zu zweifeln, bestehe kein Anlass. Auch wenn es spätestens seit Herausgabe der 11. Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme im Juni 2018 (ICD-11, in Deutschland zur Diagnosestellung gültig ab 01.01.2022) anerkannt sein dürfte, dass im Bereich der Geschlechtsidentitätsstörungen nicht von Krankheit zu sprechen sei, sondern von Geschlechts-Inkongruenz, so dass Betroffene nicht im umgangssprachlichen Sinne „krank“ seien, sei doch in dieser Regelung auch enthalten, dass die Inkongruenz zwischen Geschlecht und primären bzw. sekundären Geschlechtsmerkmalen als solche den Störungswert ausmache, der beispielsweise nach § 27 SGB V erforderlich sei, um Leistungen zu beanspruchen. Obwohl der Anspruch auf Krankenbehandlung psychischer Krankheiten grundsätzlich nicht körperliche Eingriffe in intakte Organsysteme erfasse, könnten nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zur notwendigen Krankenbehandlung der Transidentität (Bezeichnung des BSG: Transsexualität) und bei Entstellungen – als Ausnahmen von diesem Grundsatz – auch operative Eingriffe in den gesunden Körper zwecks Veränderung der äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gehören. Die genannten operativen Eingriffe in den gesunden Körper müssten medizinisch erforderlich sein. Wie die beklagte (richtig: klagende) Person zu Recht hervorhebe, habe das BSG im Urteil vom 04.03.2014 (B 1 KR 69/12 R) ausdrücklich offengelassen, ob Intergeschlechtlichkeit („Intersexualität“) eine weitere Fallgruppe in diesem Sinne begründe. Es habe aber ausgeführt, dass der Anspruch auf Krankenbehandlung sich nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. § 2 Abs. 1 atz. 3, § 2 Abs. 4, § 12 Abs. 1 SGB V daran auszurichten habe, welche Behandlung unter Beachtung des umfassenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit notwendig und ausreichend sei, um das angestrebte, in § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V bezeichnete Behandlungsziel zu erreichen. Hierzu sei unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse nicht nur dem Grunde nach, sondern auch dem Umfang nach zu ermitteln, welche Reichweite der Therapie indiziert sei. Zwar habe das BSG im selben Urteil bezüglich des Umfangs einer operativen Behandlung einer Geschlechtsentwicklungsstörung mitgeteilt, gänzlich ausgeschlossen seien Ansprüche auf solche Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielten, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen, was auch bei „Intersexualität“ gelte. Allerdings sei hierbei zu berücksichtigen, dass das entsprechende Urteil des BSG im Jahr 2014 ergangen sei. Mittlerweile sei zu berücksichtigen, dass nach der Entscheidung des BVerfG vom 10.10.2017 (1 BvR 2019/16) andere Maßstäbe gelten müssten. Zudem habe sich auch der Stand der Wissenschaft geändert. Die bisher nach der Rechtsprechung für transgeschlechtliche Personen geltenden Ausnahmen in Bezug auf Operationen in den gesunden Körper wegen psychischer Erkrankungen müssten daher unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes auch für nicht-binäre Personen gelten. Die von der S3-Leitlinie genannten Voraussetzungen seien bei ihr gegeben, der Ablauf eingehalten.

Gegen das der Beklagten am 26.04.2021 zugestellte Urteil hat diese am 26.05.2021 Berufung zu Landessozialgericht Baden-Württemberg erhoben.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass die gegenwärtig bestehende Rechtslage keine Kostenerstattung für die gewünschte Maßnahme zulasse. Nach der aktuell gültigen Rechtsprechung des BSG scheide ein Anspruch auf geschlechtsangleichende Maßnahmen, welche darauf gerichtet seien, die Uneindeutigkeit der Geschlechtsmerkmale zu erhöhen, aus (BSG, Urteil vom 03.03.2014 - B 1 KR 69/12 R -). Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) liege auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG nicht vor. Vielmehr würde die Kostenerstattung dazu führen, dass der Leistungsanspruch auf eine Operation zugestanden würde, den psychischen Leidensdruck dadurch zu lindern, dass eine optische Annäherung an das Geschlecht erfolge, dem die betroffene Person sich zugehörig fühle. Es sei nicht definiert, an welches Erscheinungsbild sich bei einer nicht-binären Geschlechtsidentität angenähert werden könne. Ein phänotypisches nicht-binäres Erscheinungsbild, an das sich angeglichen werden könnte, gebe es nicht. Das BVerfG habe sich zudem mit dem Personenstand befasst. Die dortigen Ausführungen seien nicht automatisch auf einen Leistungs-/ Behandlungsanspruch zulasten der GKV übertragbar. Bei der S3-Leitlinie handele es sich lediglich um Empfehlungen.

Die Beklagte beantragt - sachgerecht gefasst -,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 14.04.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die klagende Person beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Anspruch nach § 27 SGB V ergebe sich sowohl bei binären transidenten Personen wie auch bei der klagenden Person aus der Inkongruenz des Körpers zur Geschlechtsidentität und den daraus resultierenden psychischen Auswirkungen mit Leidenswert. Ein hoher Anteil dieses Leidenswerts folge daraus, dass eine nicht-binäre Person aufgrund sekundärer Geschlechtsmerkmale in der sozialen Interaktion geschlechtlich falsch interpretiert, falsch angesprochen, falsch klassifiziert und somit in ihrer grundrechtlich geschützten Geschlechtervariante nicht wahrgenommen, sondern als Frau behandelt werde. Eine stark ausgeprägte Brust werde unzweifelhaft als weiblich verstanden. Die streitgegenständliche Mastektomie sei daher nicht auf das Erreichen eines Idealbilds eines nicht-binären Erscheinungsbilds gerichtet, sondern lediglich als Beseitigung einer deutlichen weiblichen Zuordnung, um die unstrittig bestehende Geschlechtsdysphorie zu mindern. Dass der S3-Leitlinie für sich genommen keine rechtliche Verbindlichkeit zukomme, sei zutreffend. Die Leitlinie erlange aber über § 27 Abs. 1 SGB V mittelbare Geltung.

Die klagende Person hat weitere von ihr bezahlte Rechnungen vorgelegt, womit sich die von ihr erstatteten Kosten auf 5.305,32 € erhöht haben und auf ein beigefügtes aktuelles Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24.01.2022 (- S 29 375/21 -) verwiesen.

Die Beklagte hat mitgeteilt, dass die klagende Person im Juli 2021 einen Antrag auf eine Hysterektomie (Entfernung des Uterus) mit Salpingektomie (Operative Entfernung der Eileiter) gestellt habe. Dazu laufe ein Widerspruchsverfahren.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten des Senats und des SG sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.




Entscheidungsgründe

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten gem. §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und in der Sache begründet.

Gegenstand der Berufung ist der Bescheid vom 05.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2020, mit dem die Beklagte den Antrag der klagenden Person auf Gewährung einer Mastektomie abgelehnt hat.

Das SG hat den Bescheid zu Unrecht aufgehoben und die Beklagte zu Unrecht verurteilt, der klagenden Person die Kosten der am 28.05.2020 erfolgten Mastektomie und der insofern erforderlichen Wundversorgung zu erstatten, denn der Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die klagende Person nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die am 28.05.2020 erfolgte Behandlung.

Ein Anspruch ergibt sich nicht aus dem alleine in Betracht kommenden § 13 Abs. 3 SGB V. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Erstattung von Kosten für eine notwendige, selbstbeschaffte Leistung, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alt.) oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind (2. Alt.).

Der Naturalleistungsanspruch des Versicherten wandelt sich um in einen Kostenerstattungsanspruch bzw. soweit die Kosten tatsächlich noch nicht beglichen sind, in einen Anspruch des Versicherten auf Freistellung von den Kosten. Vorliegend hat die klagende Person die durch die vorgelegten Rechnungen nachgewiesenen Kosten für die Mastektomie in Höhe von insgesamt 5.305,32 € bereits beglichen, so dass insoweit ein Kostenerstattungsanspruch im Raum steht.


Ein Anspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V setzt in beiden Regelungsalternativen einen entsprechenden Primärleistungsanspruch voraus, also einen Sach- oder Dienstleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse und geht in der Sache nicht weiter als ein solcher Anspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl. BSG, Urteil vom 24.09.1996 - 1 RK 33/95 -; BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R -; BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 8/06 R -; alle in juris).

Eine unaufschiebbare Leistung liegt offensichtlich nicht vor. Dies wird auch von der klagenden Person nicht behauptet. Damit scheidet ein Anspruch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. SGB V aus.

Der Anspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V ist nur gegeben, wenn die Krankenkasse die Erfüllung eines Naturalleistungsanspruchs rechtswidrig abgelehnt und der Versicherte sich die Leistung selbst beschafft hat, wenn weiterhin ein Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung besteht, die selbst beschaffte Leistung notwendig ist und die Selbstbeschaffung eine rechtlich wirksame Kostenbelastung des Versicherten ausgelöst hat (BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R -, in juris). Der Versicherte darf sich insbesondere nicht – unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfällt – von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung festgelegt haben (BSG, Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KR 2/08 R -, in juris). Mögliche Anhaltspunkte für eine solche Festlegung können etwa die Vereinbarung eines Behandlungs- oder Operationstermins oder das Verhalten des Versicherten bei der Antragstellung sein (Brandts in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 13 SGB V Rn. 89 ff. mwN).

Der Senat kann offenlassen, ob im vorliegenden Fall aufgrund des Verhaltens und der Äußerungen der klagenden Person im Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie bereits vor der Entscheidung der Beklagten über ihren Antrag auf Kostenübernahme auf die Durchführung der Mastektomie festgelegt war und der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V schon deshalb scheitert. Denn die klagende Person war vorliegend nicht berechtigt, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung die Mastektomie in Anspruch zu nehmen.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die begehrte Mastektomie ist keine notwendige Krankenbehandlung im Fall der klagenden Person.


Die klagende Person hat keinen Anspruch auf Krankenbehandlung mittels Mastektomie, um eine bei ihr bestehende Funktionsbeeinträchtigung durch diese Form der Krankenbehandlung zu erkennen, zu heilen, zu lindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Um die Behandlung einer Körperfunktionsstörung in diesem Sinne geht es der klagenden Person nicht. Unter einer „Krankheit“ im Rechtssinne versteht die Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, einen regelwidrigen, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichenden Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht. Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr grundsätzlich, dass die Abweichung den Versicherten in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt und diese Funktionsbeeinträchtigung durch die notwendige Krankenbehandlung erkannt, geheilt, gelindert oder ihre Verschlimmerung verhütet werden soll. Liegt ein (auch ggf. regelwidriger) Körperzustand ohne wesentliche Funktionseinschränkung und ohne entstellende Wirkung vor, entsteht nicht dadurch am betroffenen Körperteil eine behandlungsbedürftige Krankheit im rechtlichen Sinne, dass er für den Betroffenen zu psychischen Belastungen führt. Dies gilt auch dann, wenn die psychische Belastung ihrerseits zu einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung führen wird oder bereits geführt hat (Fahlbusch in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 27 SGB V, Rn. 40 m.w.N.).

Der Senat lässt offen, ob es sich bei der Störung der Geschlechtsidentität überhaupt um eine Krankheit i.S.d. § 27 SGB V handelt, nachdem sich aus der Entscheidung des BVerfG vom 10.10.2017 (1 BvR 2019/16 - in juris) ergibt, dass intersexuelle Personen allein wegen der Unmöglichkeit, sie dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuordnen, nicht im Sinne der GKV krank sind (so auch Bittner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 2b SGB V Rn. 19).

Jedenfalls beansprucht die klagende Person die Mastektomie nicht, um eine körperliche Funktionsbeeinträchtigung zu heilen, zu lindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Es liegt bei der klagenden Person keine körperliche Auffälligkeit vor, welche mit einer Beeinträchtigung von Körperfunktionen verbunden ist. Die Zielsetzung der gewünschten Behandlung ist es nicht, auf eine Körperfunktion einzuwirken, sondern lediglich das äußere Erscheinungsbild zu beeinflussen, um die von Ärzten festgestellte psychische Störung der Geschlechtsidentität, nicht näher bezeichnet [i.S. einer transidentitären Geschlechtsidentitätsstörung bei nicht-binärer (!) Geschlechtsidentität - so M1 -] - F64.9 – und Anpassungsstörungen (als begleitende psychische Störung) - F43.2 – zu behandeln.


Die klagende Person hat auch keinen Anspruch auf Krankenbehandlung mittels Mastektomie, um ihr äußeres Erscheinungsbild und letztlich mittelbar die psychische Erkrankung zu beeinflussen. Ein Anspruch auf Krankenbehandlung in Form von Eingriffen in intakte, nicht in ihrer Funktion beeinträchtigte Organsysteme kommt lediglich im Ausnahmefall in Betracht. Bejaht hat der Senat mit der Rechtsprechung des BSG die Behandlungsbedürftigkeit und damit solche Ansprüche bisher lediglich bei Abweichungen vom Regelfall, die entstellend wirken (Urteil des erkennenden Senats vom 17.07.2019 - L 5 KR 447/17 -, in juris), oder bei medizinisch gebotener Geschlechtsangleichung in Fällen des gesetzlich besonders geregelten Transsexualismus (Urteil des erkennenden Senats vom 25.01.2012 - L 5 KR 375/10 -, in juris).

Der Anspruch auf Krankenbehandlung hat sich nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 3, § 2 Abs. 4, § 12 Abs. 1 SGB V daran auszurichten, welche Behandlung unter Beachtung des umfassenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit notwendig und ausreichend ist, um das angestrebte, in § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V bezeichnete Behandlungsziel zu erreichen. Hierzu ist unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse grundsätzlich nicht nur dem Grunde nach, sondern auch dem Umfang nach zu ermitteln, welche Reichweite der Therapie indiziert ist.

Ausweislich des Arztbriefes des F-Krankenhauses, in dem sich die klagende Person am 27.11.2019 ambulant vorgestellt hatte, betrug der Brustumfang vor der durchgeführten Mastektomie 86 cm, der Mamillen-Jugulum-Abstand (MJA - Abstand zwischen der Brustwarze und der Drosselgrube am unteren Hals) rechts 24 cm, links 25 cm, der Abstand von Brustwarze zu Brustumschlagfalte (IMF-MAK) rechts 8 cm, links 8 cm, die Brustbasis rechts 13 cm, links 13 cm und der Warzenhof (Areola) rechts und links 5x5 cm. Die klagende Person war demnach – abhängig von der Körperbekleidung – als Frau erkennbar. Eine Anomalie oder Funktionsstörung der Brüste wird nicht beschrieben.

Ein denkmöglicher Anspruch derjenigen, die an körperlichen Geschlechtsentwicklungsstörungen leiden, auf Behandlungen zur äußerlichen Geschlechtszuweisung oder -verdeutlichung geht jedenfalls nicht über das hinaus, worauf an Transsexualismus erkrankte Versicherte Anspruch haben: nämlich auf die Herbeiführung eines äußerlichen Zustandes, der aus der Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des phänotypisch angestrebten (anderen) Geschlechts deutlich angenähert ist. Selbst bei unterstelltem Behandlungsanspruch führt dies nicht dazu, Betroffenen Anspruch auf jegliche Art von geschlechtsangleichenden operativen Maßnahmen im Sinne einer optimalen Annäherung an ein vermeintliches Idealbild und ohne Einhaltung der durch das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung vorgegebenen allgemeinen Grenzen einzuräumen. Ein Anspruch, der bei Entstellung für alle Versicherten, auch für intersexuelle Versicherte, besteht, bleibt hiervon unberührt. Gänzlich ausgeschlossen sind hingegen Ansprüche auf solche Behandlungsmaßnahmen, die darauf abzielen, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen. Dies gilt auch bei Intersexualität und Zisidentität (BSG, Urteil vom 04.03.2014 - B 1 KR 69/12 R -, in juris;
BSG, Urteil vom 28.09.2010 - B 1 KR 5/10 R -, in juris).

Das Vorliegen einer Entstellung nach den von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 19/07 R -, in juris) wird weder behauptet noch sind hierfür Anhaltspunkte erkennbar. Die klagende Person machte vielmehr ausschließlich eine subjektiv empfundene Belastung durch die Eigenwahrnehmung ihrer Brüste geltend und wünschte sich einen flachen Oberkörper (vgl. Anlage zur Widerspruchsbegründung vom 20.12.2019). (Negative) Reaktionen der Mitmenschen werden nicht beschrieben.

Die klagende Person möchte weder als Frau noch als Mann erkennbar sein, sondern ihren Körper an ihre nicht-binäre Identität angleichen. Diesbezüglich scheitert ein Leistungsanspruch schon daran, dass hinsichtlich der nicht-binären Identität aus der Sicht eines verständigen Betrachters kein Erscheinungsbild eines phänotypisch angestrebten Geschlechts existiert. Die Entfernung der Brüste könnte unter Umständen eher zu einem männlichen Erscheinungsbild führen, was dem nicht-binären Verständnis der klagenden Person wiederum ebenfalls nicht entsprechen würde.


Ein Anspruch der klagenden Person ergibt sich auch nicht aus oder aufgrund der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung (Stand 2019)". Unabhängig von der Frage, ob diese Leitlinie überhaupt unmittelbare Verbindlichkeit für das Leistungsniveau der GKV hat, kann ihr schon nicht entnommen werden, dass die bei der klagenden Person (ggf.) bestehende Erkrankung mit der begehrten Operation geheilt werden kann oder (psychische) Beschwerden gelindert werden können. Die Leitlinie setzt sich hinsichtlich der Mastektomie nur mit der Technik von „maskulinisierenden“ chirurgischen Operationen und der insoweit bestehenden Patientenzufriedenheit auseinander.

Ein Anspruch aus oder in Verbindung mit dem Transsexuellengesetz (TSG) vom 10.09.1980 (BGBl. I S. 1654), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 3 des Gesetzes vom 20.07.2017 (BGBl. I S. 2787) geändert worden ist, ergibt sich nicht, da dessen Voraussetzungen offensichtlich nicht vorliegen.

Entgegen der Ansicht des SG ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 10.10.2017 (- 1 BvR 2019/16 -, in juris) kein Anspruch. Denn diese Entscheidung betrifft alleine die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung. Das BVerfG trifft keine Aussage zu Leistungsansprüchen in der GKV bei Geschlechtsidentitätsstörung. Es ist deshalb auch nach der Entscheidung des BVerfG daran festzuhalten, dass Ansprüche auf solche Behandlungsmaßnahmen gänzlich ausgeschlossen sind, die darauf abzielen, die Uneindeutigkeit der äußeren Geschlechtsmerkmale zu erhöhen. Dies gilt auch bei Intersexualität bzw. Geschlechtsidentitätsstörungen. Denn wenn Intersexualität alle Formen des Geschlechts erfasst, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind, so ergibt sich hieraus kein Phänotypus, dem zur Herstellung der Übereinstimmung von Geschlecht und Geschlechtsidentität angeglichen werden könnte (vgl. Bittner in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 2b SGB V, Rn. 20).

Aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ergibt sich kein Anspruch auf Änderung von Geschlechtsorganen bei transidentitärer Geschlechtsidentitätsstörung. Vielmehr würde – wie das BSG mehrfach zum Transsexualismus ausgeführt hat – sogar eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung vorliegen, wenn man transsexuellen Versicherten oder wie hier Menschen mit einer Geschlechtsidentitätsstörung einen umfassenden leistungsrechtlichen Zugang zu kosmetischen Operationen eröffnet würde, der nicht transsexuellen oder nicht an einer solchen Störung leidenden Versicherten, die aus anderen Gründen unter ihrem Erscheinungsbild psychisch leiden, von vornherein versperrt ist (BSG, Beschluss vom 27.05.2020 - B 1 KR 8/19 B; BSG, Urteil vom 11.09.2012 - B 1 KR 9/12 R -, beide in juris).


Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

Die Revision wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.


 

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