Der hilfsweise beantragten Verurteilung eines Beigeladenen steht nicht entgegen, dass über den Hauptantrag im Zugunstenverfahren zu entscheiden war.
Auf die Revisionen der Klägerinnen wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. März 2021 geändert.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen, soweit die Klägerinnen Leistungen nach dem SGB XII von dem Beigeladenen begehren.
Im Übrigen werden die Revisionen zurückgewiesen.
G r ü n d e :
I
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Die Beteiligten streiten im Wege eines sog Zugunstenverfahrens um existenzsichernde Leistungen für EU-Ausländerinnen für August bis Oktober 2012.
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Die 1987 geborene Klägerin zu 1 ist geschieden und die Mutter der 2006 geborenen Klägerin zu 2. Beide sind estnische Staatsangehörige und reisten im Januar 2012 ins Bundesgebiet ein. Die Klägerin zu 1 meldete zum 19.1.2012 ein Gewerbe "Küchenhilfe, Reinigungskraft, Aushilfe im Hotel" an, erzielte hieraus aber keine Einnahmen. Die Klägerin zu 2 besuchte ab dem 1.8.2012 eine Grundschule. Eine abhängige Erwerbstätigkeit nahm die Klägerin zu 1 erst im Dezember 2012 auf.
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Die Klägerinnen erhielten nach ihrer Einreise SGB II-Leistungen zunächst vom Jobcenter B T. Nach einem Umzug innerhalb B im Juni 2012 lehnte das beklagte Jobcenter die beantragte Fortzahlung von Leistungen ab, da die Klägerin zu 1 lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche habe (Bescheid vom 23.7.2012; Widerspruchsbescheid vom 31.7.2012). Die Klägerinnen beantragten später die Überprüfung ua dieser Bescheide (Schreiben vom 12.8.2013). Der Beklagte lehnte diesen Überprüfungsantrag mit der Betreffzeile "Antrag auf Überprüfung meines Bescheides vom 07.06.2013 gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)" ab (Bescheid vom 16.8.2013; Widerspruchbescheid vom 23.9.2013). Die hiergegen erhobenen Klagen wies das SG Berlin - nach Beiladung des auch vorliegend beigeladenen Landes Berlin als Sozialhilfeträger - ab (Urteil vom 23.3.2018). Im Berufungsverfahren (L 25 AS 735/18) schlossen die Beteiligten auf Vorschlag des LSG Berlin-Brandenburg einen Vergleich, in dem sich der Beklagte verpflichtete, den Überprüfungsantrag vom 12.8.2013 zu bescheiden. Er werde den Bescheid vom 23.7.2012 für die Zeit vom 1.8. bis 31.10.2012 in der Sache überprüfen und sich nicht auf eine Verfristung dieses Antrags berufen. Der Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag vom 12.8.2013 im Anschluss ab (Bescheid vom 6.12.2018; Widerspruchsbescheid vom 14.3.2019).
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Die Klägerinnen haben hiergegen Klagen erhoben. Zu diesem Zeitpunkt haben sie in L gewohnt. Das SG hat die auf Leistungen nach dem SGB II oder nach dem SGB XII gerichteten Klagen nach Beiladung abgewiesen (Urteil vom 19.11.2019). Das LSG hat die Berufungen zurückgewiesen (Urteil vom 11.3.2021). Die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X lägen nicht vor. Die Klägerinnen hätten keinen Anspruch auf Alg II bzw Sozialgeld, weil sie kein Aufenthaltsrecht gehabt hätten. Der Hilfsantrag auf Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers sei unzulässig. Der mit der Klage geltend gemachte Anspruch aus § 44 SGB X und der Anspruch gegen den Sozialhilfeträger unterschieden sich nach Rechtsgrund und Rechtsfolgen wesentlich, weshalb eine Verurteilung des Beigeladenen ausscheide. Im Übrigen habe der Beigeladene dem Vergleich seinerzeit nicht zugestimmt. Dies spreche dafür, dass die Beteiligten lediglich die Leistungsverpflichtung des Beklagten hätten klären wollen.
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Mit ihren Revisionen rügen die Klägerinnen eine Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG). Der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung sei verfassungswidrig. Jedenfalls bestehe ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger. Das LSG habe § 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG verletzt, indem es den Hilfsantrag als unzulässig angesehen habe.
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Die Klägerinnen beantragen,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. März 2021 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. November 2019 sowie den Bescheid des Beklagten vom 6. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. März 2019 aufzuheben, den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 23. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. Juli 2012 zurückzunehmen sowie den Klägerinnen Arbeitslosengeld II bzw Sozialgeld für die Zeit vom 1. August 2012 bis 31. Oktober 2012 zu bewilligen,
hilfsweise,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. März 2021 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. November 2019 zu ändern sowie den Beigeladenen zu verurteilen, den Klägerinnen Leistungen nach dem SGB XII für den Zeitraum 1. August 2012 bis 31. Oktober 2012 zu bewilligen.
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Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
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Der Beigeladene beantragt,
die Revisionen hinsichtlich des Hilfsantrags zurückzuweisen.
II
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Die zulässigen Revisionen der Klägerinnen sind teils unbegründet, teils im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 2 SGG). Zu Recht hat das LSG die Berufungen zurückgewiesen, soweit das SG die Klagen gegen den Beklagten abgewiesen hat. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Die Klagen sind jedoch nicht insgesamt abzuweisen, weil eine Verurteilung des Beigeladenen als Sozialhilfeträger auf den Hilfsantrag der Klägerinnen auf Bewilligung von Leistungen nach dem SGB XII in Betracht kommt (§ 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG). Insoweit ist dem Senat eine abschließende Entscheidung verwehrt.
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1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Urteile der Vorinstanzen und der Bescheid vom 6.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.3.2019, mit dem der Beklagte die von den Klägerinnen begehrte Rücknahme des Bescheids vom 23.7.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.7.2012 sowie Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von August bis Oktober 2012 abgelehnt hatte, sowie das gegen den Beigeladenen gerichtete hilfsweise Begehren der Klägerinnen auf Leistungen nach dem SGB XII.
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2. Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Zutreffend verfolgen die Klägerinnen ihr Begehren gegen den Beklagten im Wege der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG). Sie ist gerichtet auf Aufhebung des ablehnenden Überprüfungsbescheids vom 6.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.3.2019 sowie ‑ unter Aufhebung des die Fortzahlung von Leistungen ablehnenden Bescheids vom 23.7.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.7.2012 ‑ auf Erteilung eines Bewilligungsbescheids und auf existenzsichernde Leistungen für den streitigen Zeitraum (vgl nur BSG vom 24.5.2017 ‑ B 14 AS 32/16 R ‑ BSGE 123, 199 = SozR 4‑4200 § 11 Nr 80, RdNr 9 mwN). Zutreffende Klageart für den Hilfsantrag auf Verurteilung des Beigeladenen ist demgegenüber allein die Leistungsklage.
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3. Der angefochtene Überprüfungsbescheid vom 6.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.3.2019 ist rechtmäßig. Zutreffend hat der Beklagte die Fortzahlung von SGB II-Leistungen für den Zeitraum August bis Oktober 2012 abgelehnt.
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Rechtsgrundlage für den von den Klägerinnen geltend gemachten Anspruch auf Alg II bzw Sozialgeld unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 23.7.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.7.2012 sind § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X und §§ 19 ff iVm §§ 7 ff SGB II (Letztere idF des SGB II vor Beginn der streitbefangenen Monate zuletzt durch Gesetz vom 22.12.2011, BGBl I 3057, im Folgenden "SGB II aF"; Geltungszeitraumprinzip - vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f). Keine Anwendung finden vorliegend insbesondere die mit Wirkung vom 29.12.2016 in Kraft getretenen Neuregelungen durch das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22.12.2016 (BGBl I 3155).
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Nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nach seiner Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Für die Frage, ob ein Verwaltungsakt wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit zurückzunehmen ist, ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe entscheidend (vgl nur BSG vom 17.7.2014 ‑ B 14 AS 54/13 R ‑ BSGE 116, 200 = SozR 4-4200 § 7 Nr 37, RdNr 15 mwN), wobei diese vom Überprüfungszeitpunkt her, also rückschauend, zu bewerten ist ("erweist", vgl nur BSG vom 4.6.2014 ‑ B 14 AS 30/13 R ‑ BSGE 116, 86 = SozR 4‑4200 § 21 Nr 18, RdNr 14; Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 44 RdNr 11 mwN). Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (vgl nur BSG vom 30.1.2020 ‑ B 2 U 2/18 R ‑ BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70, RdNr 18 mwN).
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Dem Überprüfungsbegehren steht zwar nicht bereits die einjährige Verfallfrist entgegen (4.). Ebenfalls erfüllten die Klägerinnen zunächst die Grundvoraussetzungen, um Alg II (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II) und Sozialgeld (§ 7 Abs 2 SGB II) zu erhalten (5.). Die Klägerinnen waren allerdings von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen (6.). Dieser Leistungsausschluss ist mit Europa- und Verfassungsrecht vereinbar (7.). Ob die Klägerinnen stattdessen einen Anspruch gegen den Beigeladenen auf Sozialhilfeleistungen haben, kann der Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Feststellungen nicht abschließend entscheiden (8.-10.).
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4. Der Entscheidung des Beklagten stand vorliegend nicht bereits entgegen, dass nach gefestigter Rechtsprechung des BSG die Verwaltung schon eine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs 1 SGB X nicht mehr zu treffen hat, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen (vgl nur BSG vom 12.10.2016 ‑ B 4 AS 37/15 R ‑ BSGE 122, 64 = SozR 4‑4200 § 40 Nr 10, RdNr 16 mwN). Diese Verfallfrist ist vorliegend eingehalten. Soweit für Verfahren nach dem SGB II das SGB X mit der abweichenden Maßgabe gilt, dass anstelle des Zeitraums von vier Jahren gemäß § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X ein Zeitraum von einem Jahr tritt (§ 40 Abs 1 Satz 2 SGB II idF des RBEG/SGB II/SGB XII‑ÄndG vom 24.3.2011, BGBl I 453; ebenso § 40 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II idF des 9. SGB II‑ÄndG vom 26.7.2016, BGBl I 1824), haben die Klägerinnen ihren Überprüfungsantrag rechtzeitig gestellt. Der geltend gemachte Leistungszeitraum vom 1.8. bis 31.10.2012 befindet sich ausgehend von dem am 12.8.2013 gestellten Überprüfungsantrag innerhalb der Jahresfrist. Diese wird nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 44 Abs 4 Satz 2 und 3 SGB X vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag gestellt worden ist.
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5. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG erfüllte die 1987 geborene Klägerin zu 1 die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1, 2 und 4 SGB II. Bei der Klägerin zu 2 waren als minderjähriges, dem Haushalt der Klägerin zu 1 angehörendes Kind die Leistungsvoraussetzungen für Sozialgeld (§ 7 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 3 Nr 4, § 19 Abs 1 Satz 2, § 23 SGB II) gegeben, da sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nur teilweise aus eigenem Einkommen ‑ Kindergeld und Unterhaltsvorschussleistungen ‑ hat bestreiten können. Die Klägerinnen waren auch hilfebedürftig iS von § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3, § 9 SGB II, da sie weder über ausreichendes Einkommen noch über Vermögen verfügten, welches den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft vollständig decken konnte.
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6. Die Klägerinnen waren jedoch nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF von Leistungen ausgeschlossen.
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Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF sind "ausgenommen" ‑ also keine Leistungsberechtigten iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und § 7 Abs 2 SGB II ‑ Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen sowie - erst recht - Ausländer ohne Aufenthaltsrecht (BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 44/15 R ‑ BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 19 ff). Da bereits ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zur Arbeitsuche sozialrechtlich die positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" iS von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF hindert bzw den Leistungsausschluss "von vornherein" entfallen lässt (stRspr; BSG vom 13.7.2017 ‑ B 4 AS 17/16 R ‑ SozR 4‑4200 § 7 Nr 54 RdNr 17 mwN; BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 25/20 R ‑ SozR 4-4200 § 7 Nr 59 RdNr 15), müssten sich die Klägerinnen für einen Anspruch auf Alg II bzw Sozialgeld auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen können, für das vorliegend nichts ersichtlich ist.
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Die Klägerin zu 1 war im streitgegenständlichen Zeitraum weder als Arbeitnehmerin (§ 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU) noch als niedergelassene selbstständige Erwerbstätige (§ 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU) freizügigkeitsberechtigt. Eine abhängige Erwerbstätigkeit nahm die Klägerin zu 1 erst im Dezember 2012 und damit nach dem streitgegenständlichen Zeitraum auf. Die Freizügigkeitsberechtigung als Selbstständige nach § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU setzt voraus, dass eine erwerbsorientierte Tätigkeit als Selbstständige mittels einer bestimmten Einrichtung oder Organisation auf unbestimmte Zeit tatsächlich ausgeübt wird, ohne dass der erzielte Gewinn das Existenzminimum abdecken muss; umgekehrt genügt die bloße Anmeldung eines Gewerbes nicht (BSG vom 19.10.2010 ‑ B 14 AS 23/10 R ‑ BSGE 107, 66 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 21, RdNr 19; BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 44/15 R ‑ BSGE 120, 149 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 43, RdNr 28; BSG vom 16.12.2015 ‑ B 14 AS 18/14 R ‑ RdNr 26). Die Voraussetzungen für eine solche erwerbsorientierte Tätigkeit als Selbstständige sind hier nicht erfüllt. Die Klägerin zu 1 hatte zwar zum 19.1.2012 ein Gewerbe "Küchenhilfe, Reinigungskraft, Aushilfe im Hotel" angemeldet. Anhaltspunkte für eine tatsächliche Ausübung der Tätigkeit sind aber nicht gegeben. Insbesondere erzielte die Klägerin zu 1 nach den Feststellungen des LSG keine Einnahmen aus dem angemeldeten Gewerbe.
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Die Klägerinnen waren auch nicht aus anderen Gründen freizügigkeitsberechtigt. Insbesondere scheidet eine Freizügigkeitsberechtigung als Nichterwerbstätige aus, weil sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 FreizügG/EU). Die Klägerinnen können sich zudem nicht auf ein Aufenthaltsrecht nach der Günstigkeitsregelung des § 11 Abs 1 Satz 11 FreizügG/EU (hier idF des Gesetzes vom 22.11.2011, BGBl I 2258) berufen (vgl hierzu nur BSG vom 20.1.2016 ‑ B 14 AS 35/15 R ‑ SozR 4‑4200 § 7 Nr 47 RdNr 28 f). Zuletzt steht den Klägerinnen auch kein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) 492/2011 zu, weil die Klägerin zu 1 erst nach Ende des streitigen Zeitraums Arbeitnehmerin war. Aus diesem Grund war die Klägerin zu 2 nicht Kind "eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist", als sie im streitigen Zeitraum die Grundschule besuchte.
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7. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF ist mit EU-Recht vereinbar (vgl nur BSG vom 30.8.2017 ‑ B 14 AS 31/16 R ‑ BSGE 124, 81 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 53, RdNr 27; vgl aus der Rechtsprechung des EuGH zum SGB II EuGH vom 11.11.2014 ‑ C-333/13 ‑ Dano, EU:C:2014:2358; EuGH vom 15.9.2015 ‑ C‑67/14 ‑ Alimanovic, EU:C:2015:597; EuGH vom 25.2.2016 ‑ C‑299/14 ‑ Garcia-Nieto, EU:C:2016:114; EuGH vom 6.10.2020 ‑ C-181/19 ‑ Jobcenter Krefeld, EU:C:2020:794, RdNr 58). Das Gleichbehandlungsgebot des Art 1 Europäisches Fürsorgeabkommen (EFA) steht dem SGB II-Leistungsausschluss der Klägerinnen als estnischen Staatsangehörigen ebenfalls nicht entgegen, denn der von der Bundesregierung am 19.12.2011 bezogen auf SGB II-Leistungen erklärte Vorbehalt zum EFA bewirkte eine wirksame Einschränkung der Inländergleichbehandlung (vgl dazu im Einzelnen BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 43/15 R ‑ BSGE 120, 139 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 46, RdNr 18 ff).
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Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF verletzt entgegen der Ansicht der Klägerinnen kein Verfassungsrecht. Er ist mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG) schon deshalb vereinbar, weil die Klägerinnen auf der Grundlage des bis zum 29.12.2016 geltenden Rechts grundsätzlich Zugang zu existenzsichernden Leistungen nach dem SGB XII hatten (vgl nur BSG vom 30.8.2017 ‑ B 14 AS 31/16 R ‑ BSGE 124, 81 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 53, RdNr 29 ff; ferner BVerfG <Kammer> vom 4.12.2019 ‑ 1 BvL 4/16 ‑ RdNr 17).
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8. Der Hilfsantrag der Klägerinnen auf Verurteilung des Beigeladenen, ihnen SGB XII-Leistungen zu gewähren, ist im Sinne der Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Entgegen der Ansicht des LSG ist der Hilfsantrag nicht deshalb unzulässig, weil die Klägerinnen ihren Leistungsanspruch gegenüber dem Beklagten im Rahmen eines Zugunstenverfahrens geltend machen (9.). Auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Feststellungen kann das BSG über die geltend gemachten SGB XII-Ansprüche nicht abschließend entscheiden (10.).
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9. Der Hilfsantrag auf Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers zur Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt ist zulässig. Nach § 75 Abs 5 SGG kann ein Träger der Sozialhilfe nach Beiladung verurteilt werden. Ergibt sich im Verfahren, dass bei der Ablehnung des Anspruchs ua ein Träger der Sozialhilfe als leistungspflichtig in Betracht kommt, so ist er beizuladen (sog unechte notwendige Beiladung, § 75 Abs 2 Alt 2 SGG), wie es hier bereits im erstinstanzlichen Verfahren erfolgt ist.
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Vorliegend liegt ein Fall der (unechten) notwendigen Beiladung vor. Als leistungspflichtig in Betracht kommt ein anderer Träger bereits dann, wenn die ernsthafte Möglichkeit einer Leistungsverpflichtung besteht (vgl BSG vom 28.11.2018 ‑ B 14 AS 48/17 R ‑ BSGE 127, 78 = SozR 4‑4200 § 21 Nr 30, RdNr 23 mwN). Dies trifft hier entsprechend dem - aus Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG abgeleiteten - allgemeinen Begehren der Klägerinnen auf Leistungen zur Existenzsicherung zu (vgl hierzu zuletzt BSG vom 27.1.2021 ‑ B 14 AS 25/20 R ‑ SozR 4‑4200 § 7 Nr 59 RdNr 35 f).
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Der Umstand, dass der Hauptantrag auf Leistungen nach dem SGB II im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X geltend gemacht wird, steht einer Verurteilung des Beigeladenen nicht entgegen. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG (vgl hierzu - allerdings ohne Begründung - BSG vom 7.2.2002 ‑ B 7 AL 28/01 R ‑ RdNr 4, 13; BSG vom 16.12.2015 ‑ B 14 AS 18/14 R ‑ RdNr 13, 39 ff; Anschluss zuletzt durch BSG vom 29.3.2022 ‑ B 4 AS 2/21 R ‑ RdNr 49, vorgesehen für BSGE und SozR).
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§ 75 Abs 5 SGG dient der Prozessökonomie (vgl nur zuletzt BSG vom 26.11.2020 ‑ B 14 AS 23/20 R ‑ SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 13) und ist zugleich eine spezifische Antwort des sozialgerichtlichen Verfahrens auf das gegliederte deutsche Sozialleistungssystem (vgl hierzu bereits BSG vom 11.7.1974 ‑ 4 RJ 339/73 ‑ SozR 1500 § 75 Nr 2 juris RdNr 20; BSG vom 3.4.1986 ‑ 4a RJ 1/85 ‑ juris RdNr 17; Ulmer in Hennig, SGG, § 75 RdNr 44, Stand Juni 2015). Eine Verurteilung des Beigeladenen setzt - neben der noch offenen Möglichkeit einer Klage gegen ihn (hierzu BSG vom 13.8.1981 ‑ 11 RA 56/80 ‑ SozR 1500 § 75 Nr 38 juris RdNr 14; BSG vom 31.5.1988 ‑ 2 RU 67/87 ‑ juris RdNr 16 ff) - voraus, dass der gegen den Beigeladenen gerichtete Anspruch an die Stelle des ursprünglich gegen den Beklagten gerichteten Anspruchs tritt. Inhaltlich identisch müssen sie aber nicht sein (BSG vom 15.11.1979 ‑ 11 RA 9/79 ‑ BSGE 49, 143 = SozR 5090 § 6 Nr 4, juris RdNr 12). Anspruchsgrund und Rechtsfolgen müssen aber im Kern übereinstimmen, weil der in § 75 Abs 5 SGG verwirklichte Grundsatz der Prozessökonomie einen Verzicht auf das ansonsten zwingend vorgeschriebene Verwaltungsverfahren nur rechtfertigt, wenn im Prozess gegen den Beigeladenen im Wesentlichen über dieselben Tat- und Rechtsfragen wie im Ausgangsverfahren gegen den Beklagten zu entscheiden ist (BSG vom 8.5.2007 ‑ B 2 U 3/06 R ‑ SozR 4‑2700 § 136 Nr 3 RdNr 26 mwN).
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Der von den Klägerinnen gegen den Beklagten geltend gemachte Anspruch auf Rücknahme des die Überprüfung der Leistungsablehnung für den streitbefangenen Zeitraum ablehnenden Bescheids sowie auf Erteilung eines entsprechenden Bewilligungsbescheids und auf Leistungen nach dem SGB II geht zwar weiter als der hilfsweise gegen den Beigeladenen erhobene Anspruch auf Sozialhilfeleistungen. Er hängt von weiteren Voraussetzungen ab wie zB der Konkretisierbarkeit des Antrags (BSG vom 13.2.2014 ‑ B 4 AS 22/13 R ‑ BSGE 115, 126 = SozR 4‑1300 § 44 Nr 28) und dass überhaupt rückwirkend Leistungen zu erbringen wären (BSG vom 12.10.2016 ‑ B 4 AS 37/15 R ‑ BSGE 122, 64 = SozR 4‑4200 § 40 Nr 10, RdNr 16). Im Hinblick auf das Leistungsbegehren als dem maßgeblichen Rechtsschutzziel stimmen Anspruchsgrund und Rechtsfolgen aber im Wesentlichen überein. Dies ist für die Möglichkeit der Verurteilung des Beigeladenen ausreichend.
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Soweit das LSG zuletzt erwogen hat, einer Verurteilung des Beigeladenen stehe vorliegend entgegen, dass er dem Prozessvergleich vor dem LSG Berlin-Brandenburg (L 25 AS 735/18) nicht zugestimmt habe, folgt hieraus nichts anderes. In tatsächlicher Hinsicht ist unklar, ob eine solche Zustimmung erfolgt ist oder nicht, denn das LSG hat an anderer Stelle festgestellt, dass "die Beteiligten" den Vergleich geschlossen haben, was den Beigeladenen einschließt (§ 69 Nr 3 SGG; vgl zur Beteiligung des Beigeladenen am Vergleich nur Gall in jurisPK-SGG, § 75 RdNr 154, Stand 15.7.2017). Im Übrigen ist Gegenstand des Vergleichs lediglich die Zusicherung des Beklagten, einen bislang nicht beschiedenen Überprüfungsantrag nunmehr zu bescheiden. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Vergleich von den gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Überprüfungsantrags abgewichen ist, was, sollte hiervon nunmehr die Möglichkeit der Verurteilung des Beigeladenen abhängen, Bedenken hervorrufen könnte. Soweit das LSG meint, die Ausgestaltung des Vergleichs spreche dafür, dass lediglich eine Leistungsverpflichtung des Beklagten geklärt werden sollte, ist jedenfalls nichts dafür ersichtlich, dass die Klägerinnen durch ihre Zustimmung zum Vergleich auf die Geltendmachung von Leistungen nach dem SGB XII verzichten wollten (vgl zum Verzicht § 46 Abs 1 SGB I; hierzu im Rahmen eines Vergleichs BSG vom 15.10.1985 ‑ 11a RA 58/84 ‑ SozR 2200 § 1251 Nr 115 juris RdNr 13; BSG vom 12.12.2013 ‑ B 4 AS 17/13 R ‑ SozR 4-1500 § 192 Nr 2 RdNr 21).
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10. Ob die Klägerinnen gegen den Beigeladenen einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben, kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht entscheiden. Das LSG hat hierzu - ausgehend von seiner Rechtsansicht, der Hilfsantrag sei unzulässig - keine ausreichenden Feststellungen getroffen.
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a) Der Senat kann bereits nicht entscheiden, ob dem Anspruch der Klägerinnen auf Sozialhilfeleistungen der Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 Satz 1 SGB XII aF (hier idF des Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 2.12.2006, BGBl I 2670; hierzu BSG vom 30.8.2017 ‑ B 14 AS 31/16 R ‑ BSGE 124, 81 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 53, RdNr 42) entgegensteht. Dies ist nicht der Fall, wenn die Klägerinnen einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung gemäß Art 1 EFA haben (grundlegend BSG vom 19.10.2010 ‑ B 14 AS 23/10 R ‑ BSGE 107, 66 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 21; BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 43/15 R ‑ BSGE 120, 139 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 46, RdNr 17). Die Klägerinnen sind als estnische Staatsangehörige vom persönlichen Anwendungsbereich des Abkommens umfasst, weil Estland Unterzeichnerstaat ist (vgl Council of Europe Portal, Vertragsbüro, Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 014 ‑ Europäisches Fürsorgeabkommen (SEV Nr 014) ‑ im Internet abrufbar unter https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list?module=signatures-by-treaty&treatynum=014). Zudem hat die Bundesregierung keinen Vorbehalt im Hinblick auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII erklärt. Allerdings erfordert die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots des Art 1 EFA, dass sich die Klägerinnen im streitigen Zeitraum erlaubt iS des Art 11 EFA in Deutschland aufgehalten haben, was eine materielle Freizügigkeitsberechtigung oder ein anderes Aufenthaltsrecht voraussetzt (BSG vom 9.8.2018 ‑ B 14 AS 32/17 R ‑ SozR 4‑4200 § 7 Nr 57 RdNr 34 ff; BSG vom 21.3.2019 ‑ B 14 AS 31/18 R ‑ RdNr 27). Ob die Klägerin zu 1 über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche verfügte, hat das LSG ausdrücklich dahinstehen lassen, weil es hierauf im Hinblick auf den mit dem Hauptantrag geltend gemachten Anspruch auf Alg II bzw Sozialgeld nicht ankam.
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b) Können sich die Klägerinnen nicht auf das EFA berufen, greift zwar der Leistungsausschluss nach § 23 Abs 3 Satz 1 SGB XII aF. Dieser führt jedoch nicht zum Ausschluss von Ermessensleistungen nach § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF, wonach im Übrigen Sozialhilfe geleistet werden kann, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (vgl dazu im Einzelnen BSG vom 30.8.2017 ‑ B 14 AS 31/16 R ‑ BSGE 124, 81 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 53, RdNr 44 ff; BSG vom 21.3.2019 ‑ B 14 AS 31/18 R ‑ RdNr 28). Ob die Klägerinnen Anspruch auf solche Leistungen haben, kann nicht abschließend entschieden werden. Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF ist das Ermessen des Sozialhilfeträgers dann auf Null reduziert, wenn sich das Aufenthaltsrecht verfestigt hat, was regelmäßig ab einem sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland der Fall ist (vgl nur BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 53 ff; BSG vom 30.8.2017 ‑ B 14 AS 31/16 R ‑ BSGE 124, 81 = SozR 4‑4200 § 7 Nr 53, RdNr 53). Zu der Frage, ob trotz des Zeitablaufs eine Ermessensreduzierung ausscheidet, zB weil die tatsächlichen Lebensumstände der Klägerinnen gegen einen dauerhaften Inlandsaufenthalt sprechen oder die Ausländerbehörde konkrete Schritte zur Beendigung des Aufenthalts eingeleitet hatte (zu diesen Beispielen BSG vom 3.12.2015 ‑ B 4 AS 44/15 R ‑ BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43, RdNr 58), hat das LSG ‑ ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt ‑ bislang keine Feststellungen getroffen.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.