Zur Bindungswirkung eines Eingliederungsverwaltungsakt bei der Überprüfung eines Sanktionsbescheides.
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 18. Februar 2022 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Feststellung einer Pflichtverletzung und Minderung des Anspruchs des Klägers auf laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) im Zeitraum vom 1. Februar 2017 bis zum 30. April 2017.
Der im November 1986 geborene Kläger erhielt dem Grunde nach vor und im streitgegenständlichen Zeitraum von der Beklagten Arbeitslosengeld II; konkret hatte sie ihm für die Zeit von Februar 2017 bis Januar 2018 und damit (auch) für den streitigen Zeitraum durch Bescheid vom 9. Januar 2017 Leistungen in Höhe von 759,- Euro monatlich bewilligt. Allerdings setzte sie nachfolgend, zunächst ohne die vorherige Bewilligungsentscheidung aufzuheben, die Leistungen für den Zeitraum von April 2017 bis Januar 2018 durch Bescheid vom 20. April 2017 auf 0,- Euro fest, da sie von einer Bedarfsgemeinschaft des Klägers mit Fr. G. H. und für beide bedarfsdeckendem Einkommen von Frau H. ausging. Auf Widerspruch des Klägers hob die Beklagte diesen Bescheid durch Bescheid vom 29. September 2017 auf und ersetzte ihn durch einen zweiten Bescheid ebenfalls vom 29. September 2017, mit dem sie ausdrücklich die Aufhebung der Leistungsbewilligung für den genannten Zeitraum verfügte.
Während des Leistungsbezugs hatte die Beklagte wiederholt die dem Kläger gewährten Leistungen wegen von ihr angenommener Pflichtverletzungen gemindert: Konkret hatte sie durch Bescheid vom 8. April 2015 eine Minderung der ihm zustehenden Leistungen in einem Umfang von 30 Prozent des für ihn maßgebenden Regelbedarfs für den Zeitraum Mai bis Juli 2015 verfügt, durch Bescheid vom 26. Oktober 2015 eine Minderung um 60 Prozent des für ihn maßgebenden Regelbedarfs für den Zeitraum Dezember 2015 bis Februar 2016 und durch Bescheid vom 22. Juni 2016 eine Minderung um 100 Prozent des für ihn maßgebenden Regelbedarfs für den Zeitraum Juli bis September 2016. Hinsichtlich des letztgenannten Bescheides schlossen die Beteiligten in einem nachfolgend vor dem SG Darmstadt unter dem Aktenzeichen S 33 AS 324/17 geführten Verfahren einen gerichtlichen Vergleich, wonach das Arbeitslosengeld II des Klägers im Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis 30. September 2016 [nur] um 30 Prozent des für ihn maßgebenden Regelbedarfs gemindert werde; die darüber hinaus einbehaltenen Beträge seien an ihn auszuzahlen (feststellender Beschluss des Sozialgerichts vom 22. Januar 2021, Bl. 98 f. der genannten Akte).
Soweit im hiesigen Zusammenhang von Bedeutung hatte die Beklagte den Kläger durch einen eine Eingliederungsvereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt vom 22. Juni 2016 verpflichtet, monatlich jeweils bis zum 28. Kalendertag mindestens zehn aktuelle Bewerbungsbemühungen um ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nachzuweisen. Bei jeder Bewerbung sei auf die speziellen Anforderungen der Stellenausschreibung einzugehen. Serienbewerbungen ohne individuellen Bezug auf die Stellenausschreibung würden als Nichtbewerbung gewertet. Der Bescheid sah eine Erstattung von 4,- Euro je nachgewiesener schriftlicher Bewerbung vor. Weiter enthielt der Bescheid eine Kostenerstattungsregelung für Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen, falls der Arbeitgeber von vorneherein zum Ausdruck gebracht habe, dass keine Kostenerstattung möglich sei. Fahrtkostenerstattungen für Fahrstrecken über 25 Kilometer (ein Weg) bedürften einer Genehmigung der Beklagten. Wegen der Einzelheiten wird auf den Eingliederungsbescheid vom 22. Juni 2016 (Bl. 4 ff. der Akte zum Verfahren des SG Darmstadt zum Aktenzeichen S 27 AS 115/17 ER – im Folgenden: eR –) Bezug genommen.
Der Kläger griff diesen Bescheid zunächst nicht an. Einen später von ihm gestellten Überprüfungsantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) vom 20. Januar 2017 (eR Bl. 55 f.) zu diesem Eingliederungsverwaltungsakt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. März 2017 ab. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid (eR Bl. 58 ff.) Bezug genommen. Den gegen diesen Bescheid gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 7. August 2017 zurück; diesbezüglich wird auf die von der Beklagten elektronisch vorgelegte Leistungsakte „A._ordner_sgg.pdf“ (im Folgenden: eLA SGG) Bl. 286 ff. Bezug genommen. Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt – S 27 AS 805/17 – endete am 12. Juni 2019 durch Klagerücknahme.
Bereits zuvor hatte die Beklagte mit dem im hiesigen Verfahren zur Überprüfung stehenden Sanktionsbescheid vom 25. Januar 2017 die Minderung des Arbeitslosengeldes II des Klägers um 100 Prozent wegen einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 SGB II und damit die Einstellung sämtlicher Arbeitslosengeld II-Leistungen für den streitigen Zeitraum festgestellt und den Leistungsbescheid vom 9. Januar 2017 für diesen Zeitraum aufgehoben, da der Kläger trotz mehrfacher Belehrung keine Bewerbungsbemühungen nachgewiesen habe. Auf eR Bl. 10 ff. wird Bezug genommen.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 2. Februar 2017 Widerspruch ein (eR Bl. 8 f.) und beantragte gleichzeitig einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Darmstadt (eR Bl. 1 f.). Sowohl im Widerspruchs- wie im einstweiligen Rechtsschutzverfahren machte er im Wesentlichen geltend, der Eingliederungsverwaltungsakt sei rechtswidrig und daher keine zureichende Grundlage für eine Minderung, da dieser ihn einseitig zu Bewerbungsbemühungen verpflichte, ohne korrespondierende Verpflichtungen der Beklagten vorzusehen. Auch sei die Minderung von Grundsicherungsleistungen verfassungswidrig. Auf das Vorbringen im Widerspruchs- und im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wird verwiesen.
Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 6. März 2017 zurück. Wegen der Einzelheiten wird auf eR Bl. 38 ff. Bezug genommen. Auch der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz blieb erfolglos (Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 12. April 2017 – S 27 AS 115/17 ER –, eR Bl. 91 ff.). Klage in der Hauptsache erhob der Kläger nicht.
Allerdings stellte er, anwaltlich vertreten, am 1. Oktober 2018 einen Überprüfungsantrag hinsichtlich des Sanktionsbescheides. Die Entziehung von Grundsicherungsleistungen sei wegen einer Bagatelle erfolgt. Außerdem sei er schon mangels Kostenerstattungszusicherung seitens der Beklagten nicht verpflichtet gewesen, irgendwelche Bewerbungsbemühungen zu entwickeln.
Mit Bescheid vom 19. Juni 2019 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag ab, da der Absenkungsbescheid rechtmäßig gewesen sei. Die Weigerung des Klägers, Bewerbungsaktivitäten zu entfalten, sei keine Bagatelle, sondern die Hauptursache für dessen damalige Langzeitarbeitslosigkeit gewesen. Dem Eingliederungsverwaltungsakt sei auch unschwer eine Kostenregelung zu entnehmen gewesen. Zudem habe der Kläger schon damals mit Frau H. in einer Bedarfsgemeinschaft zusammengelebt. Da diese bedarfsdeckendes Einkommen erzielt habe, habe er ohnehin keinen Anspruch auf Leistungen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 3 f. der elektronisch vorgelegten Leistungsakte „A._ordner_zur_person.pdf“ (im Folgenden: eLA) Bezug genommen.
Den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 13. November 2019 zurück. Diesbezüglich wird auf Bl. 21 ff. der Gerichtsakte (im Folgenden: GA) Bezug genommen.
Am 13. Dezember 2019 hat der Kläger daraufhin Klage zum Sozialgericht Darmstadt erhoben. Zur Begründung hat er geltend gemacht, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), wonach 100-Prozent-Sanktionen verfassungswidrig und deshalb aufzuheben seien, könne der Bescheid vom 25. Januar 2017, der seine Leistungen um 100 Prozent gekürzt habe, keinen Bestand haben.
Die Beklagte hat demgegenüber darauf verwiesen, die Sanktionsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019, wonach Minderungen, die über 30 Prozent des jeweiligen Regelbedarfs hinausgingen, verfassungswidrig seien, habe für den vorliegenden Fall keine Auswirkungen. Nach der Entscheidung bleibe es für bestandskräftige Verwaltungsakte bei der Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Der vom Kläger angegriffene Verwaltungsakt sei bestandskräftig geworden. Auch ein im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anhängiger Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X führe nicht dazu, dass der zur Überprüfung gestellte Verwaltungsakt nicht bestandskräftig sei.
Das Sozialgericht hat die Klage durch den angegriffenen Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2022 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, die Klage sei zulässig, insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthaft, denn der Kläger begehre die Aufhebung des den Überprüfungsantrag ablehnenden Bescheides und Widerspruchsbescheides sowie die Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung des Sanktionsbescheides, durch den ihm Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch um 100 Prozent gekürzt worden seien.
Die Klage sei allerdings nicht begründet. Durch den Bescheid vom 25. Januar 2017 sei die Nichteinhaltung des Eingliederungsverwaltungsaktes vom 22. Juni 2016 sanktioniert worden. Auf die Frage, ob es für die Rechtmäßigkeit des Überprüfungsbescheides nach § 44 SGB X auf die Rechtmäßigkeit des Eingliederungsverwaltungsaktes ankomme, und darauf, ob dieser in Bestandskraft erwachsen sei oder sich erledigt habe, komme es vorliegend nicht an, denn der Eingliederungsverwaltungsakt selbst sei rechtmäßig. Für Eingliederungsverwaltungsakte habe das Bundessozialgericht festgehalten: „Ersetzt das Jobcenter eine Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt, sind die ersetzenden Regelungen im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens nach denselben Maßstäben zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen, wie sie für die konsensuale Eingliederungsvereinbarung gelten“ (BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 42/15 R –, BSGE 121, 268).
In dem Eingliederungsverwaltungsakt vom 22. Juni 2016 stünden sich Pflichten des Jobcenters und des Klägers in angemessener Weise gegenüber. Dieser werde verpflichtet, monatlich zehn aktuelle Bewerbungsbemühungen nachzuweisen. Im Gegenzug habe sich die Beklagte verpflichtet, ihn bei der systematischen und zielgerichteten Suche nach einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz zu unterstützen, Vermittlungsvorschläge zu unterbreiten und Bewerbungskosten sowie gegebenenfalls Fahrtkosten zu Vorstellungsgesprächen zu erstatten. Nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei dies als angemessenes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung anzusehen.
Nachdem der Kläger trotz mehrfacher Belehrungen und mehrerer vorangegangener Minderungsbescheide seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei, habe die Beklagte dessen Arbeitslosengeld II gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II um 100 Prozent mindern dürfen. Dass er die im Eingliederungsverwaltungsakt vom 22. Juni 2016 geforderten Bewerbungsbemühungen nicht nachgewiesen habe, sei zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Kläger sei vor Erlass des hier streitgegenständlichen Sanktionsbescheides bereits durch drei vorhergehende Sanktionsbescheide vom 8. April 2015, vom 26. Oktober 2015 und vom 22. Juni 2016 wegen fehlender Eigenbemühungen sanktioniert worden. An dieser Bewertung ändere sich auch nichts dadurch, dass hinsichtlich des dem Sanktionsbescheid vom 25. Januar 2017 vorausgehenden Sanktionsbescheides im damaligen Gerichtsverfahren (Az.: S 33 AS 324/17) ein Vergleichsschluss erfolgt sei, nach dem nur noch eine Minderung von 30 Prozent des Regelbedarfs vorgenommen worden sei. Hintergrund dieses Vergleichs sei gewesen, dass, anders als der hier streitbefangene Bescheid, der vorausgehende Sanktionsbescheid noch nicht bestandskräftig gewesen und sich somit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68-151) auf den dortigen Fall ausgewirkt habe. Doch auch mit dieser Änderung bleibe es dabei, dass dem Bescheid vom 25. Januar 2017 eine wiederholte Pflichtverletzung zugrunde gelegen habe, nämlich die wiederholt fehlenden Bewerbungsbemühungen des Klägers. Hinzu komme, dass der Vergleichsschluss ersichtlich lediglich das Verfahren S 33 AS 324/17 habe beenden sollen, eine Auswirkung auf andere Verfahren sei von den Beteiligten dort erkennbar weder bedacht noch beabsichtigt worden.
An der richtigen Rechtsanwendung hinsichtlich des im hiesigen Verfahren angefochtenen Bescheids ändere auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 nichts. In dieser Entscheidung habe das Bundesverfassungsgericht § 31a Abs. 1 SGB II-Sanktionen, die über 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs hinausgingen, für verfassungswidrig erklärt. § 31b SGB II sei für verfassungswidrig erklärt worden, soweit er eine starre Dauer der Minderung von drei Monaten vorgebe. Allerdings habe das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung die Reichweite seiner Rechtsprechung eingeschränkt. Es schreibe in Rn. 220 der Entscheidung: „Für bestandskräftige Verwaltungsakte bleibt es bei der Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X.“ Daher seien nur Überprüfungsverfahren, die Zeiträume nach dem 5. November 2019 beträfen, oder zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit Widerspruch oder Klage angefochtene, noch nicht bestandskräftige Sanktionsentscheidungen von den Wirkungen des Urteils betroffen. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts laufende Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X seien hingegen von dieser Rechtsprechung nicht betroffen. Die Bestandskraft bleibe auch bei Stellung eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X bestehen. Das Bundessozialgericht habe in seiner Rechtsprechung betont, dass Anträge auf Zugunstenentscheidungen trotz des darin liegenden „Protests“ nicht dazu führten, dass die angefochtenen Entscheidungen nicht rechtskräftig wären (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 2003 – B 7 AL 106/01 R –, Rn. 21).
Der Bescheid vom 25. Januar 2017 sei im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits bestandskräftig gewesen. Der am 6. März 2017 ergangene Widerspruchsbescheid habe den vom Kläger eingelegten Widerspruch zurückgewiesen. Gegen diesen Widerspruchsbescheid sei er zwar im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, aber nicht im Klageverfahren vorgegangen. Damit sei der Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides in Bestandskraft erwachsen, bevor das Urteil zu den 100-Prozent-Sanktionen ergangen sei.
Der Kläger hat mit Eingang beim Sozialgericht am 11. März 2022 Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt. Zur Begründung macht er insbesondere geltend, es treffe nicht zu, wenn die Beklagte in dem angefochtenen Überprüfungsbescheid behaupte, er habe ohnehin im gesamten Minderungszeitraum keinen Anspruch gehabt. Er habe keine Bedarfsgemeinschaft mit Frau H. gebildet. Bezeichnenderweise sei die Beklagte in ihrem Sanktionsbescheid auch selbst noch von dem Regelbedarf für Alleinstehende ausgegangen.
Hinsichtlich des Sanktionsbescheides sei dem Sozialgericht zuzugeben, dass wegen § 40 Abs. 3 SGB II die Verfassungswidrigkeit des § 31 SGB II im vorliegenden Verfahren nicht geltend gemacht werden könne. Gleichwohl sei die Beklagte im vorliegenden Verfahren zu verurteilen, da der Sanktionsbescheid vom 25. Januar 2017 auch aus anderen Gründen rechtswidrig sei. So sei bereits zweifelhaft, ob die Beklagte hier überhaupt einen Eingliederungsbescheid habe erlassen dürfen. Denn soweit sie die Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, allein aus seinem Nichterscheinen zu einem Meldetermin herleite, überzeuge dies nicht. Das Nichterscheinen hätte die Beklagte schließlich nicht daran gehindert, ihm einen entsprechenden Entwurf per Post mit einer entsprechenden Frist zur Rücksendung zu übersenden. Ein ernsthaftes Bemühen der Beklagten zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung könne daher nicht erkannt werden.
Darüber hinaus seien die in dem Eingliederungsbescheid enthaltenen Regelungen auch inhaltlich zu beanstanden. So finde sich in der Regelung über die Bewerbungsbemühungen folgender Passus: „Es ist bei jeder Bewerbung auf die speziellen Anforderungen der Stellenausschreibung einzugehen. Serienbewerbungen ohne individuellen Bezug auf die Stellenausschreibung werden als Nichtbewerbung gewertet.“ Wann genau von einer solchen Serienbewerbung auszugehen sein solle, teile die Beklagte aber in keiner Weise mit. Auf diese Weise werde es der Beklagten ermöglicht, quasi nach ihrem Gusto Bewerbungen wegen zu großer Übereinstimmungen auszusortieren ohne Rücksicht darauf, ob eine solche Bewerbung von vornherein ungeeignet sei, das Ziel der Aufnahme einer Beschäftigung zu erreichen. Die Beklagte ignoriere hierbei insbesondere den Umstand, dass sich auch viele Stellenanzeigen untereinander sehr ähnlich sähen und innerhalb eines Berufsbildes sehr ähnliche Anforderungen an den Bewerber hätten. Bei solchen Stellenanzeigen gebe es keinen Grund dafür, „das Rad jedes Mal neu zu erfinden“, zumal zu erwarten sei, dass Arbeitgeber mit solchen Stellenanzeigen sich ohnehin einen persönlichen Eindruck von den Bewerbern verschafften oder diese nach leicht erfassbaren Kriterien (wie etwa Berufserfahrung, Zeugnisse etc.) aussortierten.
Zudem dürfte eine Verpflichtung zur Verfassung individueller Bewerbungen nicht mit der Vielzahl von der Beklagten geforderte Bewerbungen und der allgemeinen Beschreibung [gemeint offenbar: der Stellen, die für eine Bewerbung in Frage kämen,] in Einklang zu bringen sein. Denn eine individuelle Bewerbung setze voraus, dass das Anforderungsprofil ganz oder weitgehend auf die Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers abgestimmt sei. Es sei aber nicht ersichtlich, dass überhaupt ausreichende Stellen in diesem Sinne zur Verfügung gestanden hätten. Darüber hinaus dürfte eine Pauschale von 4,- Euro, welche ausschließlich für schriftliche Bewerbungen gewährt werde, evident nicht kostendeckend sein. Bereits für ein vernünftiges Foto fielen Kosten von etwa 3,50 Euro an. Hinzu komme ein Betrag in Höhe von 1,44 Euro für das Porto. Er wäre damit gezwungen gewesen, zu jeder schriftlichen Bewerbung etwas hinzuzulegen, was einem Empfänger von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch nicht zumutbar sei. Noch augenfälliger werde das Problem der fehlenden Kostendeckung bei den Kosten für Vorstellungsgespräche. Die Beklagte beschränke den Ersatz solcher Kosten nämlich von vornherein auf Fälle, in denen der Arbeitgeber bereits im Einladungsschreiben die Übernahme der Kosten abgelehnt habe. Hierbei ignoriere sie zunächst geflissentlich, dass der Ausschluss der Kostenerstattung zivilrechtlich auch dann wirksam sei, wenn er nur mündlich vereinbart werde. Außerdem sei darauf hinzuweisen, dass die Kosten auch dann nicht gedeckt seien, wenn der Arbeitgeber grundlos die Übernahme verweigere. Ein gerichtliches Vorgehen gegen den (potentiellen) Arbeitgeber dürfte dem Kläger nicht zumutbar sein. Die Beklagte hätte zudem die Möglichkeit, bei unberechtigter Weigerung des Arbeitgebers die Ansprüche im Wege des Anspruchsübergangs weiterzuverfolgen. Dem Kläger bliebe hingegen keine andere Möglichkeit, als sein Erscheinen beim Arbeitgeber von dessen Zahlung der Fahrtkosten abhängig zu machen, was den Erfolg der Bewerbung offensichtlich gefährde. Schließlich sehe der Eingliederungsbescheid für Fahrten über 25 km eine Genehmigungspflicht der Beklagten vor, ohne dass der Sinn dieser Pflicht erkennbar wäre oder Einzelheiten geregelt würden, unter welchen Voraussetzungen eine solche Genehmigung erteilt werde.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Darmstadt vom 18. Februar 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 25. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 zurückzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt ihre Bescheide sowie die erstinstanzliche Entscheidung.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, die Beklagte durch Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 22. April 2022, der Kläger durch Schreiben seines Bevollmächtigten vom 27. April 2022 und vom 10. Mai 2022.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowohl zum hiesigen Verfahren wie zu den Verfahren des Sozialgerichts Darmstadt zu den Aktenzeichen S 27 AS 115/17 ER, S 33 AS 324/17 und S 27 AS 805/17 sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der streitige Überprüfungsbescheid vom 19. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2019 ist nicht zu beanstanden. Der Kläger kann die Rücknahme des Sanktions- und Aufhebungsbescheides vom 25. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 nicht verlangen.
I. Gegenstand des Verfahrens ist – neben dem Gerichtsbescheid vom 18. Februar 2022 – der Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. November 2019, mit dem diese das Überprüfungsbegehren des Klägers hinsichtlich des Minderungsbescheides vom 25. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 abgelehnt hat. Der Kläger verfolgt sein Begehren statthaft mit einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und Alt. 2 SGG): Sein erkennbares Klageziel, nämlich die ungeminderte Weiterzahlung von Arbeitslosengeld II im streitigen Zeitraum, könnte er grundsätzlich bereits dann erreichen, wenn die Beklagte im hiesigen Verfahren verpflichtet würde, die Minderungs- und die daran anknüpfende Aufhebungsverfügung aus dem Sanktionsbescheid zurückzunehmen. Dann wäre sie aus der vorangegangenen Leistungsbewilligung vom 9. Januar 2017 verpflichtet, dem Kläger ungeminderte Leistungen zu erbringen. Dies gilt zwar nicht für den April 2017, für den die Beklagte die Leistungsbewilligung (auch) aus ganz anderen Gründen – wegen der nach ihrer Auffassung bestehenden Bedarfsgemeinschaft des Klägers mit Frau H. und deren Einkommen – aufgehoben hat. Der entsprechende Bescheid vom 29. September 2017 ist allerdings bindend geworden und vom Kläger, soweit irgend ersichtlich, auch nicht zur Überprüfung gestellt worden. Leistungen für April 2017 kann der Kläger daher ohnehin nicht und jedenfalls nicht durch eine Leistungsklage im hiesigen Verfahren erreichen, so dass auch hieraus kein Grund folgt, sein Klagebegehren erweiternd im Sinne (auch) einer Leistungsklage auszulegen.
Nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens ist auch der eine Eingliederungsvereinbarung ersetzende Verwaltungsakt vom 22. Juni 2016. Diesbezüglich hatte der Kläger bereits im Januar 2017 eine Überprüfung auf der Grundlage von § 44 SGB X beantragt, war damit jedoch erfolglos geblieben: Die gegen den ablehnenden Bescheid vom 15. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2017 gerichtete Klage zum Sozialgericht Darmstadt – S 27 AS 805/17 – hat er zurückgenommen. Im hiesigen Verfahren hat er keinen diesbezüglichen Antrag gestellt: Weder der an die Beklagte gerichtete Überprüfungsantrag noch die im Klageverfahren formulierten Anträge beziehen sich auf den Bescheid vom 22. Juni 2016. Es besteht vorliegend auch kein Anlass zu einer erweiternden Auslegung, die sonst in entsprechenden Fällen vielfach anzunehmen ist (vgl. zur Sperrzeit nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – BSG, Urteil vom 21. März 2022 – B 7 AL 44/01 R –, SozR 3-4100 § 119 Nr. 23): Zum einen ist der Kläger anwaltlich vertreten; in diesem Fall ist bei einem deutlich bezeichneten Klagegegenstand regelmäßig und auch hier kein Raum für eine davon abweichende Auslegung, umso mehr, als ein Überprüfungsverfahren gegen den Eingliederungsbescheid bereits durchgeführt wurde und die (mögliche und notwendige) rechtliche Unterscheidung zwischen diesem und dem Minderungsbescheid auf Klägerseite also ersichtlich bekannt ist. Zudem hat der Kläger erstinstanzlich nur geltend gemacht, der Sanktionsbescheid sei rechtswidrig, weil eine sogenannte 100-Prozent-Sanktion verfassungswidrig und deshalb aufzuheben sei. Die Klagebegründung bezog sich damit nur auf den Regelungsgehalt des Minderungsbescheides und des daran anknüpfenden Aufhebungsbescheides und gab damit keinen Anlass für eine ausdehnende Auslegung, so dass das Sozialgericht zu Recht über den Eingliederungsverwaltungsakt nicht entschieden hat. Erst die Berufungsbegründung vom 27. April 2022 bezieht sich nunmehr auf die (vermeintliche) Rechtswidrigkeit des Eingliederungsverwaltungsaktes. Eine Klageerweiterung in der Berufungsinstanz ist auch diesem Vorbringen jedoch nicht zu entnehmen: Ein entsprechender Antrag ist trotz anwaltlicher Vertretung nicht formuliert. Er wäre zudem (offensichtlich) unzulässig, weil es an einem auf den (bestandskräftigen) Eingliederungsverwaltungsakt bezogenen Überprüfungsbescheid, der in zulässiger Weise im hiesigen Verfahren angegriffen werden könnte, fehlt.
II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere statthaft (vgl. § 143, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt (vgl. § 151 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGG).
III. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angegriffene Überprüfungsbescheid ist nicht zu beanstanden. Ein Anspruch auf Rücknahme des Sanktionsbescheides besteht nicht.
1. Allerdings ist die Klage für den April 2017 bereits unzulässig. Insofern fehlt es dem Kläger an einem Rechtsschutzbedürfnis. Die Beklagte hat die Leistungsbewilligung ab April 2017 unabhängig von den im hiesigen Verfahren streitigen Fragen durch den Bescheid vom 29. September 2017 wegen der von ihr angenommenen Bedarfsgemeinschaft des Klägers mit Frau H. und deren Einkommen vollständig aufgehoben. Dieser Bescheid ist bindend geworden. Er kann wegen der zeitlichen Grenzen aus § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II auch mit einem Überprüfungsbegehren nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Mit einem Erfolg im hiesigen Verfahren könnte der Kläger daher seine Rechtsposition mit Blick auf die Leistungsgewährung für April 2017 nicht mehr verbessern. Auch ist der hiesige Bescheid für eine Steigerung des Minderungsumfangs bei nachfolgenden weiteren Pflichtverletzungen, wie sie nach § 31a Abs. 1 SGB II in der bis zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 maßgeblichen Fassung vorgesehen waren, nach dieser Entscheidung nicht mehr von Bedeutung. Im Ergebnis kann der Kläger daher durch das hiesige Verfahren seine Rechtsstellung, soweit der Minderungs- und Aufhebungsbescheid den April 2017 betrifft, nicht mehr verbessern, so dass es ihm insoweit an einem Rechtsschutzbedürfnis für sein Überprüfungsbegehren fehlt.
2. Für Februar und März 2017 hat das Sozialgericht die Klage zu Recht in der Sache abgewiesen (und für April 2017 würde das Gleiche gelten, wenn man, entgegen der hier vertretenen Auffassung, von einem Rechtsschutzbedürfnis auch für diesen Monat ausginge).
a) Das Sozialgericht hat den angegriffenen Bescheid zutreffend an § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II) gemessen. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht (oder Beiträge zu Unrecht erhoben) worden sind. Die Regelungen aus § 44 SGB X sind – mit zeitlichen Einschränkungen – auch im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende anwendbar (§ 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II)
Die Regelung aus § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (i.V.m § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II), also die bindend vorgegebene Korrektur eines von Anfang an rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes (auch) für die Vergangenheit, gilt anerkanntermaßen nicht nur dann, wenn der Betroffene unmittelbar (weitere) Leistungen geltend macht, sondern auch, wenn er sich gegen die Einschränkung oder die Aufhebung einer Leistungsbewilligung wehrt, durch die der Leistungsträger auf seinen Leistungsanspruch einwirkt (vgl. für viele BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 – B 10 KG 2/07 R –, SozR 4-5870 § 1 Nr. 2, Rn. 12; BSG, Urteil vom 3. Mai 2018 – B 11 AL 3/17 R –, SozR 4-1300 § 44 Nr. 37, Rn. 11; Schütze, in: ders., SGB X, 9. Aufl. 2020, § 44 Rn. 17). Sowohl die Minderungs- als auch die Aufhebungsverfügung aus dem überprüften Bescheid vom 25. Januar 2017 unterfallen daher ohne Weiteres dem Anwendungsbereich von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Nach Auffassung des Senats spricht viel dafür, § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II) darüber hinaus auch für einschlägig zu erachten, soweit es um die Überprüfung der Pflichtverletzung beziehungsweise ihrer Feststellung, also die weitere Regelung aus dem Bescheid vom 25. Januar 2017, geht, sofern man dieser – neben der Minderung selbst – überhaupt eigenständige Bedeutung zumisst. Eine entsprechende Verfügung beträfe, falls ihr eigenständiger Regelungscharakter zukäme, zwar nicht unmittelbar die Erbringung von Leistungen (oder die Erhebung von Beiträgen). Sie ist jedoch inhaltlich unmittelbar mit der Minderungsverfügung und der damit verbundenen Einwirkung auf die Leistungsbewilligung verknüpft. Letztlich kann dies aber sogar offenbleiben: Die gegebenenfalls alternativ anzuwendende Regelung aus § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X (i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II) setzt ebenso wie Abs. 1 Satz 1 voraus, dass der Leistungsträger bei Erlass des zur Überprüfung stehenden Bescheides entweder das Recht unrichtig angewandt hat oder von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist und der Bescheid auf Grund dieses Fehlers zu korrigieren ist. Beides hat das Sozialgericht zu Recht verneint.
b) Die Beklagte hatte den Sanktionsbescheid zutreffend auf § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 31a Abs. 1 SGB II in der bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 maßgeblichen Fassung gestützt.
Formelle Fehler des Sanktionsbescheides sind nicht zu erkennen, könnten einem Überprüfungsbegehren überdies ohnehin nicht zum Erfolg verhelfen.
Der Bescheid vom 25. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2017 ist auch in der Sache nicht zu korrigieren.
aa) Die Feststellung einer Pflichtverletzung und einer darauf beruhenden Minderung des Anspruchs des Klägers auf Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 1. Februar 2017 bis zum 30. April 2017 ist nicht zu beanstanden.
(1.) Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie sich trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis weigern, in einer Eingliederungsvereinbarung oder in einem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen. Folge einer Pflichtverletzung war nach § 31a Abs. 1 SGB II in der bei Bescheiderlass maßgeblichen (im Übrigen bis heute nur unmittelbar durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019, nicht aber den Gesetzgeber selbst geänderten) Fassung eine Minderung des Arbeitslosengeldes II in einer ersten Stufe um 30 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs (Satz 1). Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 minderte sich das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs (Satz 2). Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 entfiel das Arbeitslosengeld II vollständig (Satz 3). Eine wiederholte Pflichtverletzung lag nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt worden war (Satz 4). Sie lag nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurücklag (Satz 5).
Der Auszahlungsanspruch mindert sich in diesem Fall mit Beginn des Kalendermonats, der auf das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes folgt, der die Pflichtverletzung und den Umfang der Minderung der Leistung feststellt (§ 31b Abs. 1 Satz 1 SGB II). Der Minderungszeitraum beträgt drei Monate (§ 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II). Die Feststellung der Minderung muss innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Pflichtverletzung erfolgen.
(2.) Der Kläger hat – entgegen der Vorgaben aus dem Eingliederungsverwaltungsakt – keine Bewerbungsbemühungen entfaltet; dies wird von ihm auch gar nicht behauptet. Er hat somit seinen Pflichten aus dem Bescheid vom 22. Juni 2016 nicht genügt.
Dabei ist der Senat der Auffassung, dass die Rechtmäßigkeit des Eingliederungsverwaltungsaktes und der durch ihn begründeten Pflichten des Klägers einer Prüfung im hiesigen Verfahren entzogen sind. Der Bescheid vom 22. Juni 2016 ist bestandskräftig und damit bindend geworden (§ 77 SGG). Seine Regelungswirkung ist auch nicht etwa nachträglich wieder entfallen. Namentlich besteht nach Auffassung des Senats kein Grund für die Annahme, dass er sich zwischenzeitlich erledigt hätte. Zwar regelt er unmittelbar Pflichten des Klägers zu regelmäßigen Bewerbungsbemühungen nur für die Zeit bis zum 28. Dezember 2016. Dennoch ist nicht vom Erlöschen der Regelungswirkung mit diesem Tag auszugehen, wenn der Eingliederungsverwaltungsakt – wie hier – noch Grundlage für daran anknüpfende Entscheidungen oder sonstige Folgewirkungen ist (vgl. ähnl. BSG, Urteil vom 14. März 2013 – B 13 R 5/11 R –, SozR 4-1200 § 51 Nr. 1, Rn. 20; anders dagegen BSG, Urteil vom 14. Dezember 2021 – B 14 AS 77/20 R –, juris, Rn. 15). Gerade bei abgeschichtetem Verwaltungshandeln, wie es im hiesigen Zusammenhang gesetzlich vorgesehen ist, sind die durch einen Verwaltungsakt begründeten Rechtswirkungen, die sogenannte innere Wirksamkeit (vgl. hierzu nur Roos/Blüggel, in: Schütze, SGB X – Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 39 Rn. 8), auch dann noch von Bedeutung, wenn der Zeitraum, für den die Verhaltenserwartungen formuliert sind, abgelaufen ist. Dies wird etwa im Falle der hier in Rede stehenden Eingliederungsbemühungen besonders deutlich: Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht unmittelbar erzwungen werden können, sondern ihre Verletzung mittelbar nachteilige Folgen für den Betroffenen in Gestalt von Leistungsminderungen wie der hier streitigen hat. Ein die erwarteten Eingliederungsbemühungen regelnder Verwaltungsakt hat daher nicht zuletzt dadurch Bedeutung, dass er gegebenenfalls die Grundlage für diese mittelbaren leistungsrechtlichen Folgen darstellt. Damit wäre es nicht vereinbar, von seiner Erledigung durch reinen Zeitablauf auszugehen, solange derartige Folgen noch möglich oder bereits tatsächlich gezogen worden sind.
Der Bescheid vom 22. Juni 2016 erledigte sich daher nicht mit Ablauf des 28. Dezember 2016. Das Überprüfungsverfahren, das der Kläger bezüglich dieses Bescheides einleitete, blieb erfolglos (Bescheid der Beklagten vom 15. März 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2017) und hatte daher auf dessen Bindungswirkung ebenfalls keine Auswirkungen.
Gründe, die es (dennoch) erzwingen oder auch nur erlauben würden, die durch den Eingliederungsverwaltungsakt getroffene Regelung inzident bei der Feststellung einer Pflichtverletzung zu überprüfen, greifen nach Auffassung des Senats letztlich nicht durch (anders – für eine Meldeaufforderung – BSG, Urteil vom 29. April 2015 – B 14 AS 19/14 R –, BSGE 119, 17 Rn. 30 und BSG, Urteil vom 14. Dezember 2021 – B 14 AS 77/20 R –, juris, Rn. 15; wie hier LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Oktober 2020 – L 32 AS 2354/15 –, juris, Rn. 45 ff.). Der Wortlaut legt eine Inzidentprüfung des Eingliederungsverwaltungsaktes – vorbehaltlich seiner Nichtigkeit, für die vorliegend keine Anhaltspunkte ersichtlich sind – nicht nahe; namentlich ist der Tatbestand von § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II nicht dahin formuliert, dass nur die Verletzung materiell rechtmäßiger Pflichten eine Minderung auslösen könnte. Noch weniger sprechen systematische Gründe für eine Inzidentprüfung: Es sind keine Gesichtspunkte erkennbar, warum (gerade) die Regelungen eines Eingliederungsverwaltungsakts auch im Falle der Bestandskraft die Beteiligten nicht binden sollten. Die mit der Bestandskraft einhergehende Bindungswirkung (§ 77 SGG) ist vielmehr gerade konstitutives Element eines Verwaltungsaktes und zielt auf die rechtssichere Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses der Beteiligten, im Übrigen, etwa wenn es um die verlässliche Grundlage eines Kostenerstattungsanspruches wegen der Bewerbungskosten geht, auch zu Gunsten des Leistungsberechtigten. Unter systematischen Gesichtspunkten kommt Folgendes hinzu: Nach § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II haben die Leistungsträger die Vorgaben, die sie beim Nichtabschluss einer Eingliederungsvereinbarung den Betroffenen ersatzweise machen können und müssen, in Form eines Verwaltungsaktes zu regeln. Damit macht der Gesetzgeber deutlich, dass es ihm bereits in diesem Stadium um die verbindliche Regelung der beiderseitigen Rechte und Pflichten im Eingliederungsprozess geht. Dies gilt umso mehr mit Blick auf den Zweck einer Eingliederungsvereinbarung beziehungsweise eines an deren Stelle tretenden Verwaltungsaktes: Der Idee nach handelt es sich dabei um ein austariertes Gleichgewicht wechselseitiger Rechte und Pflichten, die durch die Vereinbarung oder den ersetzenden Verwaltungsakt für beide Seiten verbindlich festgeschrieben werden (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 2016 – B 14 AS 42/15 R –, BSGE 121, 268, Rn. 12 ff.). Wird eine entsprechende Vereinbarung abgeschlossen oder ein diese ersetzender Verwaltungsakt nicht oder erfolglos angegriffen, steht daher nach Auffassung des Senats der Umfang der wechselbezüglichen Pflichten für beide Seiten und damit im konkreten Fall, da Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit des Eingliederungsbescheides nicht erkennbar sind, auch der Umfang der vom Kläger zu erwartenden Bewerbungsbemühungen fest.
Mit seinen Einwänden gegen die in der Eingliederungsvereinbarung vorgegebenen Eingliederungsbemühungen kann der Kläger daher im hiesigen Verfahren von vornherein nicht durchdringen. Im Übrigen sind diese aber auch in der Sache nicht begründet. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts zur Rechtmäßigkeit des Eingliederungsverwaltungsaktes Bezug und weist zudem darauf hin, dass ihm insbesondere die Pflicht, Bewerbungsschreiben zu individualisieren, weder unzureichend bestimmt noch sonst rechtlich bedenklich erscheint. Vielmehr wird sich jeder Stellenbewerber, der ernsthaft an einer Stelle interessiert ist, von sich aus und selbstverständlich um eine derartige Individualisierung bemühen. Soweit der Kläger darauf verweist, dass dies, je nach Ausgestaltung des Stellenangebotes, im Einzelfall in ganz unterschiedlicher Weise möglich ist, trifft dies als solches zwar sicherlich zu; der Senat vermag jedoch nicht zu erkennen, dass der Eingliederungsverwaltungsakt deswegen Unmögliches von ihm verlangen würde; vielmehr sind dessen Vorgaben unschwer dahin zu verstehen, dass der Kläger sich (gerade nur, aber immerhin) um die im Einzelfall mögliche und sachgerechte Differenzierung bei der Ausgestaltung eines Bewerbungsschreibens zu bemühen habe.
Der Bescheid war auch mit einer ausreichenden und zutreffenden Rechtsfolgenbelehrung versehen. Diese musste sich am damaligen Rechtsstand orientieren und konnte namentlich die spätere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 nicht vorwegnehmen (vgl. hierzu ausfl. Hess. LSG – erkennender Senat –, Urteil vom12. November 2021 – L 6 AS 147/21 –, juris, Rn. 68 ff.).
Der Annahme eines (zu sanktionierenden) Verstoßes gegen die Eingliederungsvereinbarung steht weiter nicht entgegen, dass die in dem Eingliederungsverwaltungsakt vorgesehenen Bewerbungsbemühungen und/oder die an ihre Verletzung anknüpfende Sanktion – ausnahmsweise – nicht dazu hätten führen können, die Zwecke des Rechts der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erreichen (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68, Rn. 142 f.). Entgegen der vom Kläger geäußerten Auffassung handelt es sich bei dessen unzureichenden Bewerbungsbemühungen keineswegs nur um eine Bagatelle.
Einen wichtigen Grund für sein Verhalten hat der Kläger nicht dargelegt; ein solcher ist auch sonst nicht erkennbar.
(3.) Auch die an die Pflichtverletzung anknüpfende Festsetzung der Minderung nach Höhe, Beginn und Dauer sowie der Feststellungszeitpunkt sind nicht zu beanstanden, so dass auch insoweit eine Rücknahme des Minderungsbescheides im Rahmen der Überprüfung nicht geboten ist.
Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die ausführliche und zutreffende Begründung des Sozialgerichts, die er sich nach Überprüfung zu eigen macht (§ 153 Abs. 2 SGG). Namentlich hat das Sozialgericht zu Recht ausgeführt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 angesichts der zuvor eingetretenen Bestandskraft des hier zur Überprüfung stehenden Bescheides für diesen keine Bedeutung entfalten kann. Dies wird auch von Klägerseite im Berufungsverfahren nicht weiter in Frage gestellt; weiterer Ausführungen hierzu bedarf es angesichts des vom Bundesverfassungsgericht BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, BVerfGE 152, 68, Rn. 220) selbst deutlich formulierten und vom Sozialgericht bereits zitierten Verweises auf § 40 Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht.
Schließlich ist auch durch das sogenannte Sanktionsmoratorium keine maßgebliche Änderung der Rechtslage eingetreten. Nach § 84 Abs. 1 SGB II ist § 31a SGB II bis zum Ablauf des 1. Juli 2023 nicht anzuwenden. Die Vorschrift ist allerdings erst durch Art. 1 Nr. 2 des Elften Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 19. Juni 2022 (BGBl. I S. 921) in das Gesetz eingefügt worden und zum 1. Juli 2022 in Kraft getreten (vgl. hierzu Art. 3 des Gesetzes). Der Senat lässt offen, ob die Regelung dazu führen muss, dass noch nicht bestandskräftige Bescheide zu korrigieren sind, auch wenn die Pflichtverletzung und gegebenenfalls der Minderungszeitraum zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits in der Vergangenheit lagen. Jedenfalls vermag das Sanktionsmoratorium nach Auffassung des Senats eine Korrektur bereits bindender Sanktionsbescheides im Wege der Überprüfung nach § 44 SGB X nicht zu tragen. Auch die Begründung des Entwurfs des Elften Änderungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch Zweites Buch gibt für ein so weitreichendes Verständnis keinen Anlass, verdeutlicht vielmehr, dass (nur) – als „Zwischenschritt“ (BR-Drucks. 126/22 S. 3) – gegenwärtig keine Sanktionen verfügt werden sollen, bis die geplante Neuregelung des Sanktionenrechts erfolgt ist (vgl. auch BR-Drucks. 126/22 S. 3 und S. 5).
c) Weiter hat die Beklagte bei der Aufhebung der Leistungsbewilligung für den Minderungszeitraum auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II weder das Recht unrichtig angewandt noch ist sie von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
V. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der in § 160 Abs. 2 SGG abschließend aufgezählten Zulassungsgründe vorliegt. Das gilt auch für die Annahme der Bindungswirkung eines bestandskräftigen Eingliederungsverwaltungsaktes im Verfahren wegen eines Sanktionsbescheides: Diese Frage ist vorliegend nicht klärungsfähig, weil der Eingliederungsverwaltungsakt auch in der Sache nicht zu beanstanden ist.