L 10 R 3772/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 2920/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 3772/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der „Gerichtsbescheid“ des Sozialgerichts Heilbronn vom 30.06.2021 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Heilbronn zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Berufung als unzulässig verworfen.


Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt der Schlussentscheidung des Sozialgerichts Heilbronn vorbehalten.


Tatbestand


Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Die 1970 geborene Klägerin beantragte am 19.06.2018 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, die die Beklagte mit Bescheid vom 18.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2019 ablehnte, da die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.09.2019 Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn erhoben (S 15 R 2920/19). Nach Durchführung einer Beweisaufnahme durch schriftliche Anhörung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen bei dem R hat das SG die Klage mit „Gerichtsbescheid“ vom 30.06.2021 - den Prozessbevollmächtigen der Klägerin am 01.07.2021 zugestellt - abgewiesen. Die in der Gerichtsakte befindliche Urschrift des „Gerichtsbescheids“ enthält lediglich den maschinenschriftlich eingefügten Namen der Kammervorsitzenden, er ist jedoch nicht unterschrieben.

Am 22.07.2021 hat die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg einen isolierten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Vorlage des Entwurfs einer Berufungsschrift gestellt. Mit Beschluss vom 06.12.2021 (L 10 R 2389/21 PKH), den Prozessbevollmächtigten der Klägerin und der Beklagten am 08.12.2021 zugestellt, hat der Senat PKH für das beabsichtigte Berufungsverfahren bewilligt. Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf die Beschlussgründe verwiesen.

Am 08.12.2021 hat die Klägerin gegen den „Gerichtsbescheid“ Berufung zum LSG eingelegt.

Die Klägerin beantragt (teilweise sachdienlich gefasst),

ihr wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 30.06.2021 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2019 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), ist, soweit mit ihr die Aufhebung des „Gerichtsbescheides“ des SG Heilbronn vom 30.06.2021 begehrt wird, statthaft (§§ 143, 144 SGG). Zwar handelt es sich, was der Senat bereits in seinem PKH-Beschluss vom 06.12.2021 (mit weiteren Nachweisen sowie Bundessozialgericht - BSG -, Beschluss vom 17.12.2015, B 2 U 150/15 B, Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 03.12.1992, 5 C 9/89; alle Entscheidungen zitiert nach juris) dargelegt hat, bei dem „Gerichtsbescheid“ auf Grund der fehlenden Unterschrift der Kammervorsitzenden lediglich um eine nicht wirksame Scheinentscheidung, die grundsätzlich nicht rechtsmittelfähig ist (vgl. Bolay in Berchtold, SGG-HK, 6. Auflage 2021, § 125 Rdnr. 22; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 125 Rdnr. 5 c, § 143 Rdnr. 2a). Jedoch ist zur Beseitigung des äußeren Rechtsscheins einer gerichtlichen Entscheidung, insbesondere, wenn diese - wie hier - zugestellt wurde, das Rechtsmittel eröffnet, das im Falle einer wirksamen Entscheidung statthaft wäre (vgl. BSG, a.a.O.; Bundesgerichtshof - BGH - Beschluss vom 03.11.1994, LwZB 5/94; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, a.a.O.), vorliegend mithin die Berufung (§ 105 Abs. 2, §§ 143, 144 SGG).
Die Berufung ist insoweit auch im Übrigen zulässig. Insbesondere steht die Tatsache, dass die Klägerin erst im Dezember 2021 und damit erst nach Ablauf von mehr als fünf Monaten nach Zustellung des „Gerichtsbescheides“ Berufung eingelegt hat, nicht entgegen. Denn bei der Zustellung einer - wie hier vorliegenden - Scheinentscheidung wird der Lauf von Fristen - mithin auch jener der Berufungsfrist (§ 151 Abs. 1 SGG) - nicht in Gang gesetzt (vgl. BGH, Beschluss vom 03.11.1994, LwZB 5/94). Darüber hinaus wäre der Klägerin ohnehin antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren. Denn sie war bis zur Entscheidung über ihren - zulässigerweise (vgl. BSG, Urteil vom 13.10.1992, 4 RA 36/92; BGH, Beschluss vom 15.09.1999, XII ZB 114/99, jeweils m.w.N.) vor Einlegung der Berufung eingelegten - PKH-Antrag gehindert, den Rechtsbehelf der Berufung einzulegen.

Ein Kläger, der innerhalb der Berufungsfrist die Bewilligung von PKH beantragt hat, ist bis zur Entscheidung über den Antrag so lange als ohne sein Verschulden an der Einlegung der Berufung verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrages aus den Gründen der fehlenden Bedürftigkeit rechnen muss (vgl. BSG, a.a.O.; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, a.a.O., § 73a Rdnr. 5c ff). Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin innerhalb der Berufungsfrist einen vollständigen PKH-Antrag und nach Zustellung des PKH-Beschlusses am 08.12.2021 innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 67 Abs. 2 SGG auch einen entsprechenden Antrag auf Wiedereinsetzung und entsprechende Sachanträge gestellt. Mithin wäre ihr nach den obigen Grundsätzen die Wiedereinsetzung zu gewähren.

Die Berufung ist, soweit mit ihr die Aufhebung des „Gerichtsbescheides“ begehrt wird, auch begründet. Denn der Senat kann nur durch klarstellende Aufhebung des wirkungslosen "Gerichtbescheides" den von ihm ausgehenden falschen Rechtsschein beseitigen.

Dahingestellt bleiben kann, ob die Unterschrift der Kammervorsitzenden auch noch nach Ablauf der Fünfmonatsfrist (vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 27.04.1993, - GmS - OGB 1/92) mit heilender Wirkung nachgeholt werden kann (verneinend: BSG, Beschluss vom 17.12.2015, B 2 U 150/15 B; offengelassen BSG, Beschluss vom 10.10.2018, B 13 R 265/17 B; bejahend für Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung BVerwG, Beschluss vom 14.02.2003, 4 B 11/03), da jedenfalls im jetzigen Zeitpunkt mangels Unterschrift (noch) keine erstinstanzliche Entscheidung vorliegt.

Da nach alledem das erstinstanzliche Klageverfahren gerade nicht wirksam durch den „Gerichtsbescheid“ vom 30.06.2021 beendet wurde, ist es weiterhin beim SG Heilbronn anhängig und hierüber vom SG (wirksam) zu entscheiden. Die Nichtexistenz einer erstinstanzlichen Entscheidung war daher durch die Aufhebung des den Beteiligten zugestellten „Gerichtsbescheides“ klarzustellen und die Sache an das erstinstanzliche Gericht zwecks Beendigung des noch nicht abgeschlossenen Verfahrens zurückzuverweisen (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.12.1992, 5 C 9/89; BGH, Beschluss vom 03.11.1994, LwZB 5/94; LSG Bayern, Urteil vom 21.03.2012, L 19 R 97/12 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.04.2008, L 4 R 23/07; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, a.a.O., § 125 Rdnr. 5 c; keine Zurückverweisung nur bei zwischenzeitlichem Abschluss des Verfahrens durch wirksame Entscheidung: BGH, Urteil vom 04.02.1999, IX ZR 7/98). Es handelt sich dabei nicht um eine gemäß § 159 SGG im Ermessen des Berufungsgerichts stehende Zurückverweisung, sondern um die zwingend gebotene Klarstellung, dass es an der erstinstanzlichen Entscheidung fehlt und deshalb zurückzuverweisen ist.

Soweit die Klägerin mit der Berufung darüber hinaus die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 18.01.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.08.2019 und die Gewährung von Leistungen begehrt, ist die Berufung unzulässig, da es - wie der Senat dargelegt hat - an einer wirksamen erstinstanzlichen Sachentscheidung fehlt und damit eine zweitinstanzliche Zuständigkeit des LSG für dieses Begehren nicht gegeben ist. Daher ist die Berufung insoweit zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung des Berufungsverfahrens bleibt der Schlussentscheidung des SG vorbehalten.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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