S 13 KG 13/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 13 KG 13/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid

 

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.


T a t b e s t a n d :

Streitig ist ein Anspruch auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) seit Januar 2020.

Der am 2001 geborene Kläger ist afghanischer Staatsbürger. Er reiste am 20.12.2015 als Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland ein und erhielt mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.04.2017 subsidiären Schutzstatus. Vom 01.04.2020 bis 31.08.2020 gewährte das Jobcenter Dachau dem Kläger aufgrund schwankenden Einkommens aus geringfügiger Beschäftigung vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von monatlich 832 Euro. Seit 01.09.2020 bis voraussichtlich 29.02.2024 absolviert der Kläger eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. Hierfür erhält er Ausbildungsvergütung in Höhe von 809 Euro im ersten Ausbildungsjahr, 837 Euro im zweiten Ausbildungsjahr und 958 Euro im dritten Ausbildungsjahr.

Am 23.06.2020 beantragte der Kläger Kindergeld bei der Beklagten. Der Vater sei im Jahr 2015 verstorben, seine Mutter sei wohnhaft in L. (Afghanistan). Mit Bescheid vom 20.07.2020 wurde der Antrag ab Januar 2020 abgelehnt, da dem Kläger der Aufenthalt seiner Mutter bekannt sei. Hiergegen legte der Kläger am 11.08.2020 Widerspruch ein. Seit der Flucht nach Deutschland sei er faktisch Vollwaise. Von seiner in Afghanistan in prekären Verhältnissen lebenden Mutter könnten weder finanzielle Unterstützung noch sonstige Hilfen erwartet werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 20.08.2020 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen, da der Kläger den Aufenthaltsort seiner Mutter kenne und telefonischen Kontakt zu ihr habe.

Am 21.09.2020 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben. Sein Vater sei im Jahr 2015 von der Taliban ermordet worden, seine Mutter lebe als unmündige und mittellose Frau. Ihr letztbekannter Aufenthalt sei in der Kleinstadt L., eine Postadresse gebe es allerdings nicht. Telefonisch könne der Kläger seine Mutter erreichen, zurückrufen könne sie jedoch nicht, da sie keine finanziellen Mittel hierfür und auch kein Internet habe. Der Kläger habe selten und sporadisch telefonischen Kontakt mit der Mutter. Ob die Mutter noch in L. wohne, sei dem Kläger nicht bekannt. Es könne sein, dass die Mutter vertrieben werde. Unkenntnis vom Aufenthalt der Eltern habe, wer nicht jederzeit wisse, wo sich die Eltern gerade aufhalten und in Bezug auf die geleistete oder leistbare Unterstützung der Eltern sozial wie ein Vollwaise dastehe.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 20.07.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.08.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Kindergeld in gesetzlicher Höhe seit Januar 2020 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
            die Klage abzuweisen.

Zur Begründung werde im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen. Es liege jedenfalls eine missbräuchliche Unkenntnis des Aufenthaltsorts der Mutter vor, da eine einfache Nachfrage zur positiven Kenntniserlangung genügen würde.

Die Beteiligten wurden zum beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheids angehört. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Das Gericht hat den Rechtsstreit gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der entscheidungsrelevante Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden ausweislich der Empfangsbekenntnisse vom 27.01.2022 und 31.01.2022 ordnungsgemäß angehört.

Streitgegenstand ist ein Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG ab Januar 2020.

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Statthaft ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG auf Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 20.07.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.08.2020 und Leistung von Kindergeld nach BKGG.

Allerdings ist die Klage unbegründet. Es besteht kein Anspruch des Klägers auf Kindergeld, der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer in Deutschland seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Nr. 1), Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (Nr. 2) und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Nr. 3). Bei den Voraussetzungen handelt es sich um anspruchsbegründende Voraussetzungen, welche nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislast vom Kläger zu beweisen sind.

Höchstrichterlich ist geklärt, dass sich die Nichtkenntnis vom Aufenthalt der Eltern nach subjektiven Maßstäben beurteilt. Mangels sonstiger näherer Anhaltspunkte bleibt für die Auslegung der Formulierung "den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt" allein der Wortlaut maßgebend. Während etwa bei den Vorschriften über die öffentliche Zustellung Voraussetzung ist, dass der "Aufenthalt ... unbekannt ist", also von niemanden zu ermitteln ist und damit ein objektiver Maßstab anzulegen ist, ist § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab (vgl. BSG, Urteil vom 08.04.1992 - 10 RKg 12/91). Sinn und Zweck der Einführung eines Anspruchs auf Kindergeld für sich selbst war es, alleinstehende Kinder mit einem eigenen Anspruch auszustatten, damit zum persönlichen Verlust der Eltern nicht zusätzliche finanzielle Verschlechterungen durch den Wegfall des Kindergeldes eintreten (vgl. Gerlach in: Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber, Gesamtkommentar SRB, 2. Aufl. 2018, § 1 BKGG, Rn. 43). Aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass der Gesetzgeber unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Kindergeldes und von gesetzessystematischen Bedenken eine eng begrenzte Ausnahmeregelung unter Härtegesichtspunkten schaffen und Kindergeld für sich selbst nur einem entsprechend eng begrenzten Personenkreis zukommen lassen wollte. Im Gesetzgebungsverfahren wurde durchaus gesehen, dass die Ausnahmeregelung auch zu einem Ausschluss von Personen führt, insbesondere im Falle eines Auslandsaufenthalts beider Eltern von im Inland wohnenden oder sich gewöhnlich aufhaltenden Kinder. Dementsprechend wollte der Gesetzgeber den engen Anwendungsbereich der aus Härtegesichtspunkten geschaffenen Ausnahmeregelung nicht auch auf den bloßen Auslandswohnsitz bzw. gewöhnlichen Auslandsaufenthalt der Eltern und erst recht nicht auf Eltern, die "bloß" ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen, ausdehnen (vgl. dazu LSG Hessen, Urteil vom 25.06.2014 - L 6 KG 3/11).

Aus § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG lässt sich in keinerlei Hinsicht ein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte. Zu erwägen ist deshalb (unter Hinweis auf die zivilgerichtliche Rechtsprechung zu § 852 BGB), ob nicht lediglich eine missbräuchliche Nichtkenntnis einer Kenntnis im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 08.04.1992 - 10 RKg 12/91). Nach Rechtsprechung des BGH sind Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis: Das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis, oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangen weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreiche Schriftwechsel erforderlich würden (vgl. BGH, Urteil vom 15.03.2011 - II ZR 204/09).

Nach dem Vorbringen des Klägers wurde sein Vater im Jahr 2015 von der Taliban ermordet. Der ungefähre Aufenthalt der Mutter in der Kleinstadt L. in Afghanistan ist, wenngleich es sich hier nicht um eine Postanschrift in dem in Deutschland geläufigen Sinne handelt, bekannt. Es besteht nach eigener Auskunft des Klägers sporadisch telefonischer Kontakt mit der Mutter, so dass deren konkreter Aufenthaltsort durch einfaches Nachfragen des Klägers in Erfahrung gebracht kann. Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 BKGG sind damit nicht erfüllt. Der Kläger hat nach Auffassung des Gerichts positive Kenntnis über den Aufenthaltsort seiner Mutter und die Unkenntnis des Klägers wäre bei der vorliegenden Sachlage jedenfalls missbräuchlich. Ob die Mutter in der Lage war, den Kläger wirtschaftlich zu unterstützen, ist nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes unerheblich. Eine erweiternde Auslegung der Norm auf Kinder, deren Eltern ihre Unterhaltspflicht nicht erfüllt haben bzw. nicht erfüllen konnten, ist sowohl nach dem Wortlaut, als auch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung mit eng begrenztem Ausnahmecharakter nicht möglich.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 15 BKGG i.V.m. § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Sache.

 

Rechtskraft
Aus
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