S 9 R 2835/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 2835/20
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet ist nicht bereits deshalb im Vollbeweis nachgewiesen, weil sie von einem behandelnden oder begutachtenden Arzt oder Therapeuten in der Diagnoseliste aufgeführt wird; dies stellt für das Gericht zunächst nur einen Anhaltspunkt dafür dar, dass diese Gesundheitsstörung vorliegen könnte (Anschluss an: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.07.2018, Az.: L 3 U 3108/17, juris Rn. 59).

2. Die Diagnostik von psychiatrischen Erkrankungen fuß weitestgehend auf der Selbst- sowie Fremdbeschreibung. Nichts anderes kann für die Bestimmung der im Rahmen der Prüfung der medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung entscheidenden Funktionsbeeinträchtigungen auf psychiatrischem Gebiet gelten.

3. Anamnestische Schilderungen krankheitstypischer Symptome erreichen den Status eines psychopathologischen Befundes, wenn diese glaubhaft sind.

 

Tenor:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 16.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.2020 verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften mit Wirkung der Antragstellung zu gewähren.

 

2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

 

 

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die Klägerin die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung erfüllt.

 

Die 1975 geborene Klägerin erlernte den Beruf der Arzthelferin und war zuletzt als angestellte Sachbearbeiterin bei der Deutschen Bahn sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 18.03.2019 ist sie wegen psychischen Erkrankungen arbeitsunfähig erkrankt. Stationäre Krankenbehandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen blieben erfolglos. Die Klägerin beantragte daher am 23.04.2020 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

 

Die Beklagte zog daraufhin medizinische Unterlagen bei und ließ diese durch die Fachärztin für Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. H. auswerten. Diese stellte folgende Funktionsdiagnose: Funktionell mittelgradiger psychischer Systemkomplex mit Depression auf Basis einer posttraumatischen Belastungsstörung und dissoziative Symptome. Trotz dieser Gesundheitsstörungen bestehe weiterhin ein quantitativ uneingeschränktes Leistungsvermögen für leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Beklagte lehnte im Anschluss gestützt darauf den Antrag mit Bescheid vom 16.06.2020 ab.

 

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.08.2020 als unbegründet zurück. Sie war der Auffassung, dass unter Berücksichtigung aller Gesundheitsstörungen und der sich daraus ergebenden funktionellen Einschränkungen sowie erhöhten Anforderungen an die psychomentale Belastbarkeit keine quantitative Leistungsminderung begründbar sei.  Eine geistig-seelisch anspruchsarme Tätigkeit sei der Klägerin noch im arbeitstäglichen Umfang von mindestens sechs Stunden zumutbar.

 

Dagegen hat die Klägerin am 22.09.2020 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Sie hält sich unter Verweis auf den Entlassbericht der G.-Klinik vom 20.05.2019 und auf den Entlassbericht des K.-Klinikums vom 15.01.2020 für voll erwerbsgemindert. Ihre dissoziative Identitätsstörung habe ein derart erhebliches Ausmaß erreicht, dass an eine geregelte Arbeit nicht mehr zu denken sei.

 

Das Gericht hat im Laufe des Klageverfahrens die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständigen Zeugen schriftlich befragt. Der Dipl.-Psych. Herr R. hat mit sachverständiger Zeugenauskunft vom 12.12.2020 berichtet, die Klägerin sei aufgrund der klinisch bestätigten Vielzahl dissoziativer Amnesien und Identitätswechsel aktuell nicht arbeitsfähig. Durch die Persönlichkeitswechsel sei keine Kontinuität von Aufmerksamkeit und Konzentration und Wissenserwerb bzw. -abruf möglich. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. hat mit sachverständiger Zeugenauskunft vom 14.12.2020 ausgeführt, bei voller Orientierung würden sich immer mnestische Defizite und Lücken im Zeiterleben zeigen. Dissoziative Amnesien hätten, fremdanamnestisch untermauert, auch längere Zeit andauernd eruiert werden können. Die Klägerin finde sich zum Teil an ihr fremden Orten wieder im Sinne einer dissoziativen Fugue. Es bestehe ein Depersonalisationserleben, oft unvorhersehbar ausgelöst durch Hinweisreize auf früher als traumatisierend erlebte Situationen. Aufgrund der Schwere der dissoziativen Erkrankung und der damit verbundenen Beeinträchtigungen sei eine Arbeitsfähigkeit nicht gegeben. Mit einer jahrelangen Behandlungszeit bei gleichzeitig offenem Behandlungsergebnis sei zu rechnen. Die Hausärztin Frau H. hat mit sachverständiger Zeugenauskunft vom 28.12.2020 vertreten, eine körperlich leichte und nervlich wenig belastende Berufstätigkeit in einem zeitlichen Umfang von mindestens drei Stunden und mehr täglich sei gegenwärtig ausgeschlossen. Die orthopädischen Leiden der Klägerin stünden im Vergleich zur dissoziativen Identitätsstörung nicht im Vordergrund.

 

Die Beklagte hat die sachverständigen Zeugenauskünfte der Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie Frau R. zur Auswertung vorgelegt. Diese hat mit sozialmedizinischer Stellungnahme vom 28.01.2021 mitgeteilt, die sachverständigen Zeugenauskünfte könnten nicht überzeugen. Es liege seitens der Hausärztin keine plausible Erklärung für die von ihr – fachfremd – ausgesprochene Einschränkung der Leistungsfähigkeit vor. Auch die Aussage des behandelnden Psychotherapeuten sei nicht plausibel und konsistent. Denn er benenne nur Symptome, nicht aber aus der Symptomebene abgeleitete Funktionseinschränkungen. Die von Dr. H. angegebenen Befunde seien für eine Leistungsbeurteilung ungenau und diffus. Es sei nicht daran zu zweifeln, dass die Klägerin an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leide. Die Schwere der beschriebenen Symptomatik sei aber nicht nachvollziehbar. Dr. H. beschreibe die Herstellung eines therapeutischen Bündnisses, welches aber bei der beschriebenen schweren Symptomatik kaum herstellbar sein dürfte. Wenn die Klägerin hochmotiviert für die weitere Behandlung sei, dann verfüge sie auch über gute Ressourcen, welche vom Therapeuten im Sinne der Integration ins Leben, damit auch ins Berufsleben, eingesetzt werden sollten. Zuletzt benenne Dr. H. keine Funktionseinschränkungen nach dem etablierten Mini ICF-APP (Kurzinstrument zur Fremdbeurteilung von Aktivität- und Partizipationsstörung bei psychischen Erkrankungen in Anlehnung an die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO).

 

Das Gericht hat sodann von Amts wegen ein Gutachten bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. in Auftrag gegeben. Dieser hat nach ambulanter Untersuchung am 02.03.2021 mit Gutachten vom 12.04.2021 ausgeführt, die Klägerin sei für leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig leistungsfähig. Der neurologische Befund sei unauffällig gewesen. Der psychische Befund sei ebenso unauffällig gewesen. Eine psychische Störung sei nach den diagnostischen Kriterien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde bei der Klägerin nicht zu diagnostizieren. Die Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung seien bei der Klägerin weder aktuell zu beobachten noch in den Akten beschrieben. Von den Behandlern sei verschiedentlich das Vorliegen dissoziativer Störungen, alternativ eines zerebralen organischen Anfallsleidens (Epilepsie) in Betracht gezogen, jedoch niemals objektive Befunde erhoben worden, die die eine oder die andere Diagnose tatsächlich begründen könnten. Bei der psychologischen Untersuchung hätten sich im Wesentlichen normgerechte kognitive Leistungen ergeben. Gleichzeitig habe die Klägerin in den entsprechenden Validierungsverfahren jeweils den kritischen Grenzwert für die Annahme negativer Antwortverzerrung bei weitem überschritten, so dass von einem bewussten Manipulationsversuch auszugehen sei. Die Klägerin erscheine suggestibel, habe sie doch im Rahmen der diversen psychotherapeutischen Behandlungen immer mehr Symptome geschildert und schließlich auch demonstriert. Das Verhalten der Klägerin werde auch durch sekundären Krankheitsgewinn aufrechterhalten.

 

Die Klägerin hat gegen das Gutachten des Prof. Dr. S. mit Schriftsatz vom 14.05.2021 Einwendungen erhoben. Der im Anschluss ergänzend gutachterlich gehörte Prof. Dr. S. hat mit Schreiben vom 08.06.2021 an seiner Expertise vom 12.04.2021 festgehalten.

 

Das Gericht hat sodann auf Kostenrisiko der Klägerin ein Gutachten bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. in Auftrag gegeben. Dieser hat nach ambulanter Untersuchung am 10.01.2022 mit Gutachten vom 26.04.2022 ausgeführt, der Klägerin seien ausschließlich Tätigkeiten im Umfang von unter drei Stunden arbeitstäglich unter kontinuierlicher Begleitung und Strukturierung sowie Anleitung und gegebenenfalls Fehlerkontrolle durch Dritte möglich. Grund hierfür sei die ausgeprägte Störung der Bewusstseinskonsistenz durch immer wieder auftretende Wechsel in dissoziierte Persönlichkeitsanteile verbunden mit einer erheblichen Störung von Handlungskontrolle, Kommunikation, Gedächtnis und emotionaler Kontrolle. Die klinische Exploration habe keinen Anlass einer dramatischen oder inszenierten Vorstellung von Symptomen gegeben. Vielmehr habe sich die Klägerin um Klarheit bemüht. Anamnestische Inkonsistenzen bestünden nicht. Die Beschwerdeschilderung sei fast affektdistanziert, sehr konzentriert aber auch mit großer Anstrengung erfolgt. Weiterhin habe sich eine Suggestibilität, z.B. durch mehr Nachfragen nach Beschwerden mehr Schilderungen hervorzurufen, nicht nachweisen lassen. Das Antwortverhalten der Klägerin sei differenziert gewesen. Widersprüchliche Fragen hätten zu Irritation und Nachfragen geführt. Untypische Symptomkombinationen seien nicht aufgetaucht. Die Herangehensweise von Prof. Dr. S. verunmögliche die Diagnose psychischer Erkrankungen.

 

Das Gericht hat Prof. Dr. S. sodann das Gutachten des Dr. W. vom 26.04.2022 mit der Bitte um ergänzende gutachterliche Stellungnahme übersandt. Prof. Dr. S. hat mit Schreiben vom 13.05.2022 an seinem gutachterlichen Ergebnis festgehalten. Dr. W. habe selbst auf körperlichem und neurologischem Gebiet keine Auffälligkeiten feststellen können, behaupte aber ohne Durchführung der entsprechenden testpsychologischen Diagnostik gleichwohl wesentliche kognitive Beeinträchtigungen. Noch schwerer wiege, dass er keine Validierung der angegebenen Beeinträchtigungen durchgeführt habe, sondern diese Beschwerdeangaben unkritisch als Befunde gewertet habe.

 

Die Klägerin erachtet die Klage unter Verweis auf das Gutachten des Dr. W. sowie der Angaben ihrer behandelnden Ärzte weiterhin für begründet. Insbesondere aus dem Befundbericht der Psychologischen Psychotherapeutin Frau K. vom 02.08.2022 ergebe sich deutlich die dissoziative Identitätsstörung (vgl. Gerichtsakte Bl. 347-348).

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.2020 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften mit Wirkung der Antragstellung zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

          die Klage abzuweisen.

 

Sie erachtet die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und stützt sich hierzu im Wesentlichen auf die Ausführungen ihres sozialmedizinischen Dienstes sowie den gutachterlichen Ausführungen des Prof. Dr. S..

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

I. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG sowohl zulässig, als auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 16.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.08.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin dadurch in ihren Rechten (vgl. § 54 Abs. 2 SGG). Sie hat einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung seit dem 01.05.2020.

 

1.Gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 des Sechsten Sozialgesetzbuchs (SGB VI) haben Versicherte bis zur Vollendung der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben – bei im Übrigen identischen Tatbestandsvoraussetzungen – Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (vgl. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI). Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich – bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche – ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (vgl. § 43 Abs. 3 SGB VI).

 

2. Davon ausgehend steht der Klägerin eine Erwerbsminderungsrente zu. Eine volle Erwerbsminderung aufgrund der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen ist zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen. Sie ist nicht mehr in der Lage, einer wirtschaftlich verwertbaren Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens drei Stunden arbeitstäglich nachzugehen. Diese Leistungseinschränkung besteht seit dem 11.04.2019 (Aufnahme in die erste stationäre Behandlung).

 

Für diese Überzeugung stützt sich die erkennende Kammer auf das umfassend begründete und nachvollziehbare Gutachten des Dr. W. vom 26.04.2022 sowie ergänzend dazu auf die sachverständige Zeugenauskunft des Dr. H. vom 11.12.2020 sowie den Befundbericht der Frau K. vom 02.08.2022. Basierend darauf leidet die Klägerin danach unter folgender für ihre berufliche Leistungsfähigkeit in qualitativer wie auch quantitativer Hinsicht bedeutsamen Erkrankung: Dissoziative Identitätsstörung.

 

Die Störung der Identität umfasst eine deutliche Diskontinuität des Bewusstseins des eigenen Selbst und des Bewusstseins des eigenen Handelns, begleitet von damit verbundenen Veränderungen des Affektes, des Verhaltens, des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, des Denkens und oder sensorisch/motorischer Funktionen. Der Wechsel in unterschiedliche dissoziierte Persönlichkeitsanteile bringt mit sich, dass die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile für einander in aller Regel eine Amnesie erleben, so dass Inkohärenzen im Selbsterleben mit amnestischen Lücken entstehen, abhängig davon, welcher Persönlichkeitsanteil in Kommunikation treten kann. Abhängig vom Grad der Fragmentierung der Identität gelingt ein Zusammenspiel der Persönlichkeitsanteile relativ rasch, teilweise gelingt dieses Zusammenspiel aber überhaupt nicht, so dass betroffene Menschen in ihrem Alltag nur noch zeitweise auf bestimmte Fähigkeiten zurückgreifen können, die bestimmten Persönlichkeitsanteilen zugeordnet sind, während andere Persönlichkeitsanteile in ihrer Präsenz bestimmte Fähigkeiten nicht wieder aufgreifen können. Darüber hinaus besteht eine potentielle Gefährdung der Erkrankten im Straßenverkehr, so dass die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, vor allem aber auch das eigene Führen eines PKWs grundsätzlich nicht möglich ist (vgl. S. 44-45 des Gutachtens des Dr. W. vom 26.04.2022).

 

Dr. W. legt in seinem Gutachten vom 26.04.2022 einen entsprechend beeinträchtigten psychopathologischen Befund dar (vgl. S. 45-47 des Gutachtens). Die körperlichen Beeinträchtigungen, insbesondere Schmerzen im Rahmen der lumbalen Bandscheibenvorfälle sind dagegen zu vernachlässigen.

 

a) Entgegen dem Gutachten des Prof. Dr. S. vermag das Gericht unter Heranziehung des Gutachtens des Dr. W. eine quantitative Leistungsminderung mit dem erforderlichen Vollbeweis festzustellen.

 

Gemäß § 128 Abs. 1 S. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Sozialrecht kennt drei Beweismaßstäbe: den Vollbeweis, die Wahrscheinlichkeit und die Glaubhaftmachung. Die Die Beweismaßstäbe der Wahrscheinlichkeit oder der Glaubhaftmachung müssen jeweils ausdrücklich im Gesetz angeordnet sein oder sich aus der Auslegung des Gesetzes ergeben (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 15.12.2016, Az.: B 5 RS 4/16 R). Ansonsten gilt – wie auch hier – der Maßstab des Vollbeweises. Vollbeweis bedeutet, dass sich das Gericht grundsätzlich die volle Überzeugung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen der Tatsachen verschaffen muss (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, zu § 128 SGG, Rn. 3b). Absolute Gewissheit ist dabei so gut wie nie möglich und auch nicht erforderlich (vgl. Keller, a.a.O). Ausreichend ist daher eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 07.06.2006, Az.: B 2 U 20/04 R; BSG, Urteil vom 17.04.2013, Az.: B 9 V 1/12 R). Mit anderen Worten: Gewisse Zweifel sind unschädlich, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 31.01.2012, Az.: B 2 U 2/11 R; BSG, Urteil vom 15.12.2016, Az.: B 9 V 3/15 R).

 

Eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet – wie z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung oder die vorliegende dissoziative Identitätsstörung – ist nicht bereits deshalb im Vollbeweis nachgewiesen, weil sie von einem behandelnden oder begutachtenden Arzt oder Therapeuten in der Diagnoseliste aufgeführt wird; dies stellt für das Gericht zunächst nur einen Anhaltspunkt dafür dar, dass diese Gesundheitsstörung vorliegen könnte (vgl. Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 11.07.2018, Az.: L 3 U 3108/17, juris Rn. 59). Die Diagnostik von psychiatrischen Erkrankungen fuß weitestgehend auf der Selbst- sowie Fremdbeschreibung. Nichts anderes kann für die Bestimmung der im Rahmen der Prüfung der medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderung entscheidenden Funktionsbeeinträchtigungen auf psychiatrischem Gebiet gelten. Auch diese müssen von fachkundigen Ärzten eigen- (sowie gegebenenfalls) fremdanamnestisch erhoben werden. Soweit die Einlassungen des Patienten/Probanden zu seinem psychischen Beschwerdekomplex glaubhaft sind, können diese als Befund einer psychiatrischen Begutachtung zugrunde gelegt und entsprechend von den Gerichten herangezogen werden. Mit anderen Worten formuliert bedeutet dies: Anamnestische Schilderungen krankheitstypischer Symptome erreichen den Status eines psychopathologischen Befundes, wenn diese glaubhaft sind.

 

An eben dieser Glaubhaftigkeit des Beschwerdevortrags hat das erkennende Gericht im Fall der Klägerin keine vernünftigen Zweifel. Es wird dabei nicht verkannt, dass sich in Anbetracht teilweise schwer nachvollziehbarer oder auch bizarrer Symptomausprägungen im Rahmen schwerer funktioneller psychischer Störungen dem unbefangenen Beobachter immer wieder der Eindruck aufdrängen mag, dass entsprechend erkrankte Menschen Symptome aggravieren würden, sie möglicherweise nur vorspielen würden, möglicherweise suggestibel seien und einen entsprechenden Krankheitsgewinn anstreben würden. Das kann vorliegend jedoch ausgeschlossen werden.

 

Die klinische Exploration durch Dr. W. gab keinen Anlass einer dramatischen oder inszenierten Vorstellung von Symptomen. Die Klägerin zeigte sich gerade bemüht um Klarheit und Darstellung der als merkwürdig erlebten Symptome. Im Hinblick auf tendenziöse Haltungen, die nach Kriterienlisten entsprechend der AWMF-Leitlinie Begutachtung (nach Schneider et al 2012) beurteilt werden können, zeigten sich keine Inkonsistenzen im Selbstbericht zur biografischen Anamnese, auch keine Inkonsistenzen im Hinblick auf Selbstbericht versus Fremdbericht oder Selbstbericht/Fremdbericht versus beobachtbarem Verhalten während der Untersuchungssituation durch Dr. W.. Das Gleiche gilt für die familiäre Anamnese und die berufliche Anamnese. Die Beschwerdeschilderung erfolgte fasst affektdistanziert, sehr konzentriert aber auch mit großer Anstrengung, die Affektdistanzierung brach situationsangemessen und unvorhersehbar, auch für die Klägerin nicht unmittelbar kontrollierbar in der Konfrontation mit traumatisierenden Erinnerungsinhalten. Sowohl im Hinblick auf die Exploration von Krankheitsverlauf, wahrgenommenen Therapien und Behandlungen, der Umsetzung der Behandlung, Krankheitsbewältigungsverhalten bzw. Behandlungswirkung und im Hinblick auf verfügbare psychische Funktionen sowie die Gestaltung von Aktivtäten und Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen zeigten sich weder im Selbstbericht noch im Vergleich von Selbstbericht zu Fremdbericht noch im Vergleich zu beobachtbarem Verhalten während der Untersuchung durch Dr. W. Inkonsistenzen. Weiterhin ließ sich die noch von Prof. Dr. S. vermutete Suggestibilität z.B. durch mehr Nachfragen nach Beschwerden durch Dr. W. entsprechend mehr Schilderungen durch die Klägerin hervorzurufen nicht nachweisen. Das Antwortverhalten war differenziert, widersprüchliche Fragen führten zu Irritation und Nachfragen, untypische Symptomkombinationen tauchten nicht auf, die Klägerin konnte deutlich machen, wenn sie selbst unterschiedliche Erlebensweisen nicht zuordnen konnte. Gegenüber der Population mit einem ähnlichen Störungsbild war die Schilderung der Symptomausprägung weder plakativ noch übertrieben, es wurden keinerlei absurde oder phantastische Symptome im Hinblick auf Traumafolgestörungen geschildert. Die Darstellung war detailliert aber nicht unrealistisch präzise und es musste nach Einzelsymptomen wie in der psychopathologischen Befunderhebung üblich explizit nachgefragt werden, da sie im Spontanbericht nicht auftauchten, die Beantwortung der Nachfragen war in der Regel prompt und wirkte durchgehend nicht übertrieben. Darüber hinaus betreffen alle geschilderten Störungen vor allem Aktivitäten außerhalb ärztlicher Untersuchungen und therapeutischer Kontakte, wobei sie natürlich auch während Untersuchungen und therapeutischer Kontakte auftauchen können. D.h. die Annahme, dass die genannten Störungen nur gelegentlich, insbesondere in dramatischer Weise z.B. bei ärztlichen oder psychotherapeutischen Untersuchungen auftauchen würden ist falsch.

 

Somit ist davon auszugehen, dass die dissoziative Störung nicht vorgetäuscht wird. Da es sich bei den geschilderten Beschwerden um nicht willkürlich beeinflussbare Veränderungen im Erleben und Verhalten und der Identität geht, können diese wie bei anderen funktionalen psychischen Erkrankungen nicht aus eigener Kraft überwunden werden.

 

b) Wie bereits angedeutet folgt das Gericht dem Gutachten des Prof. Dr. S. trotz dessen umfassenden Einlassungen und ergänzenden gutachterlichen Stellungnahmen nicht.

 

Prof. Dr. S. ist zwar insofern beizupflichten, dass ein organisches Korrelat für den klägerischen Beschwerdekomplex nicht existiert. Allein hieraus aber ohne weitere Prüfung abzuleiten, dass eine relevante psychische Erkrankung in der Person der Klägerin nicht vorhanden ist, entspricht nicht dem gutachterlichen Standard. Unter dem von Herrn Prof. Dr. S. zugrunde gelegtem Paradigma wären ansonsten psychische Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenien, Angsterkrankungen, somatoforme Erkrankungen oder eben Traumafolgeerkrankungen nicht diagnostizierbar, da das Wesen dieser Erkrankungen nach dem heutigen Stand des Wissens ist, dass objektivierbare Befunde neben der konsequenten Erhebung der psychopathologischen Befunde nicht möglich sind. Niemand zweifelt z.B. daran, dass es Albträume gibt. Solche wie auch sonstige Intrusionen oder Flashbacks, die für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung und anderer psychischer Krankheiten relevant sein können und entsprechende Einschränkungen in der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit nach sich ziehen können, können nur über die subjektiven Einlassungen des Patienten/Probanden erhoben werden. Eine gegebenenfalls notwendig durchzuführende organische Diagnostik dient lediglich der Abgrenzung zu anderen Begleiterkrankungen (bspw. im Fall der Klägerin: Epilepsie). Da die vorliegende Herangehensweise des Prof. Dr. S. die Befunderhebung im Zusammenhang psychischer Erkrankungen verunmöglicht, können seine Schlussfolgerungen nicht zutreffend sein.

 

Die knappen Angaben des Prof. Dr. S. zur Beschwerdevalidierung können in Anbetracht der von Dr. W. durchgeführten umfassenden Konsistenzprüfung (s.o.) die erkennende Kammer nicht überzeugen. Dr. W. weist zurecht auf den Widerspruch im Gutachten des Prof. Dr. S. hin, dass er einerseits unter Verweis auf das Ergebnis des SRSI-Tests angibt, die Befragung der Klägerin sei auch durch strukturierte Interviews oder Fragebögen nicht zu leisten, gleichzeitig aber das Validierungsinstrument ausgerechnet auf eben dieser Fähigkeit basiert. Somit ist die Aussagekraft der eingesetzten Instrumente nicht plausibel. Das Gutachten des Prof. Dr. S. hat es versäumt, die durch Fremdbeobachtung validierte Beschwerdesymptomatik entsprechend zu würdigen.

 

Die ergänzend auf das Gutachten des Dr. W. eingeholte gutachterliche Stellungnahme des Prof. Dr. S. vom 13.05.2022 führt zu keinem Abweichen der Ansicht der erkennenden Kammer. Wenn er bemängelt, dass weder die Untersuchungsdauer der ambulanten Untersuchung am 10.01.2022 dokumentiert sei, noch das Gutachten innerhalb von drei Monaten nach Abschluss der ambulanten Untersuchung verfasst worden ist, so bleibt Prof. Dr. S. eine Erklärung schuldig, inwiefern hierdurch das Gutachten verfälscht wurde. Unstrittig zwischen allen Verfahrensbeteiligten ist, dass die Klägerin im nicht-dissoziierten Zustand nicht leistungsgemindert ist und sich in genau diesem Zustand eine rentenrechtliche Leistungsminderung nicht begründen lässt. Das alleinige Abstellen des Prof. Dr. S. auf diese Befundlage lässt die in Zeiten von Dissoziation bestehende Befundlage wie auch die mit dem Vorgang der Dissoziation verbundenen Beeinträchtigungen (z.B. Amnesie) zu Unrecht außer Acht. Des Weiteren kann das Gericht nicht erkennen, inwiefern Dr. W. Beschwerden und Befund unzulässigerweise vermengt haben soll. Dr. W. erhebt eine geordnete und für den medizinisch laienhaften Leser klar verständliche Anamnese, aufgetrennt in „Aktuelle Beschwerden“, „Aktuelle körperliche Beschwerden“, „Aktueller Tagesablauf und aktuelle Lebenssituation“, „psychiatrische Vorgeschichte“, „vegetative und somatische Anamnese“, „Substanzanamnese“, „Aktuelle Medikation“, „Familienanamnese“, „Biographische Anamnese mit schulischer und beruflicher Entwicklung“. Erst dann folgen ab Seite 31 des Gutachtens die erhobenen Untersuchungsbefunde. Entsprechend obiger Ausführungen durfte Dr. W. die erhobene Anamnese nach Prüfung der Aussagevalidität diese in den psychopathologischen Befund übertragen. Aus der Anamnese sowie den entsprechenden Befund wie auch aus den Einlassungen der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 12.08.2022 wird deutlich, dass die Klägerin zu unvorhersehbaren Zeiten und Umständen in eine von mehreren kindlichen Persönlichkeiten dissoziiert (das „verspielte Kind“, das „ängstliche Kind“, das „weinerliche Kind“). Sobald die Klägerin in eine kindliche Persönlichkeit dissoziiert, ist sie – eben wie eine Minderjährige – nicht erwerbsfähig. Dies lässt bereits die Problematik der retrograden Amnesie außen vor. Es bedürfte sozusagen ständiger Anleitung und Überwachung der Klägerin, dass diese überhaupt noch eine Arbeit von wirtschaftlichem Wert abliefern könnte. Gerade diese Notwendigkeit ständiger Kontrolle führt jedoch zur vollen Erwerbsminderung. Ausnahmsweise fußt die Erwerbsminderung wegen einer Dissoziativen Identitätsstörung gerade aus den damit verbundenen und für eine Diagnose notwendigen streng formulierten Symptomkatalog.

 

Prof. Dr. S. widerspricht sich selbst, wenn er einerseits im Rahmen seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13.05.2022 anführt, dass Dr. W. weder ärztliche noch psychologische Validierungsverfahren eingesetzt hat, andererseits aber mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 08.06.2021 auf Beanstandung, das strukturierte Interview SKID sei nicht durchgeführt worden, in Anspruch nehmen möchte, der Gutachter sei in der Auswahl seiner Methoden frei. Letztlich bedurfte es nach Auffassung des Gerichts des zusätzlichen Einsatzes ärztlicher bzw. psychologischer Validierungsverfahren nicht, da Dr. W. bereits über die durchgeführte Konsistenzprüfung (vgl. S. 48 ff. des Gutachtens) eine Aggravation bzw. Simulation ausschließen konnte. Die Testung über den SRSI ist zudem nicht mängelfrei: Wie Prof. Dr. S. in seinem Gutachten vom 12.04.2021 selbst auf Seite 11 darauf hin, dass bei dem verwendeten Cutoff von größer als neun durchschnittlich 62 von 100 Probanden, die keine authentischen Beschwerden schildern, auch als solche korrekt erkannt werden. Das Gericht erachtet es als vernachlässigbar unwahrscheinlich, dass sowohl Dr. W., als auch sämtliche Behandler, allen voran Frau K. einem Irrtum unterlegen sind, mithin die Klägerin, seit sie 20 Jahre alt ist, ihre Beschwerden durchwegs vorgetäuscht haben soll. Denn nichts anderes postuliert Prof. Dr. S.. Gründe, die für eine Validität der klägerischen Beschwerden sprechen könnten, stellt er in seinen gutachterlichen Erwägungen nicht ein. Im Ergebnis folgt aus der von Prof. Dr. S. durchgeführten psychometrischen Testung für die erkennende Kammer nach reiflicher Überlegung gerade nicht, dass der Beschwerdevortrag aggraviert oder gar simuliert ist, sondern dass lediglich eine unbeachtliche Verdeutlichungstendenz nachgewiesen werden konnte.

 

Der Klage war nach alledem im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben.

 

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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