1. Die frühere positive Kenntnis des Aufenthalts der Eltern i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG kann durch Zeitablauf in eine bloße Vermutung umschlagen und somit Unkenntnis eintreten. Ob und wann das der Fall ist, ist durch eine wertende Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Norm zu beurteilen.
2. Die objektive Beweislast für die positive Kenntnis des Aufenthalts liegt bei der Behörde.
3. Zwangsehe und häusliche Gewalt stehen in so eklatantem Widerspruch zur grundgesetzlichen Rechts- und Werteordnung, dass die Weigerung, zu daran beteiligten Personen Kontakt aufzunehmen um den Aufenthalt der Eltern zu erfahren, nicht rechtsmissbräuchlich sein kann.
rechtskräftig
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Tatbestand
Die Klägerin begehrt Kindergeld für sich selbst.
Die am XXX geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige. Sie reiste am XXX in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid vom XXX erkannte ihr das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Flüchtlingseigenschaft zu. Vom September 2017 bis Juli 2018 absolvierte die Klägerin XXX einen Schwerpunktkurs zur Vorbereitung auf XXX Studiengänge sowie ab Oktober 2018 ein Freiwilliges Soziales Jahr im XXX. Die Familienkasse XXX bewilligte ihr mit Bescheid vom 30.01.2017 Kindergeld für sich selbst für den Zeitraum von Oktober 2016 bis einschließlich Mai 2018, nachdem die Klägerin im Antragsverfahren angegeben hatte, ihre Heimat aufgrund vielfältiger Probleme u.a. mit ihren Eltern verlassen zu haben. Auf den Folgeantrag der Klägerin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 05.12.2018 das Kindergeld für die Zeit von Juni 2018 bis einschließlich April 2019 weiter. Der Beklagten gegenüber hatte die Klägerin erklärt, seit September 2015 keinen Kontakt zu ihrer Familie mehr gehabt zu haben und die Anschrift Ihrer Eltern nicht zu kennen.
Mit Schreiben vom 02.08.2019 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld für sich selbst. Sie teilte mit, sie habe ihren Vertrag für das Freiwillige Soziale Jahr verlängert und beabsichtige, im September eine Ausbildung zur Krankenschwester aufzunehmen. Auf dem Antragsformular der Beklagten gab sie nunmehr als letzte bekannte Anschrift ihrer Eltern an: „Afghanistan, XXX“. Auf die Frage, ob ihr der aktuelle Aufenthalt ihrer Eltern bekannt sei, war das Kästchen „ja“ angekreuzt. Mit Bescheid vom 22.08.2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab dem Monat Februar 2019 ab. Zur Begründung führte sie aus, §§ 1 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) setze für den Anspruch auf Kindergeld für sich selbst neben einem Wohnsitz oder Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes u.a. voraus, dass der Betreffende Vollwaise sei oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kenne. Da der Klägerin der Aufenthalt ihrer Eltern bekannt sei, sei diese Anspruchsvoraussetzung nicht erfüllt. Dieser Bescheid wurde bindend.
Am 12.05.2020 beantragte die Klägerin ein weiteres Mal Kindergeld für sich selbst. Sie teilte unter Vorlage einer Studienverlaufsbescheinigung mit, dass sie im Oktober 2019 ein XXXstudium an der XXX aufgenommen habe. Auf Anfragen der Beklagten zum Aufenthalt ihrer Eltern erklärte die Klägerin mit Schreiben vom 31.08.2020: Sie habe ihr Heimatland wegen der Unsicherheiten und Familienproblemen verlassen und sei seither weder nach Afghanistan zurückgereist noch habe sie Kontakt zu ihren Eltern gehabt. Sie wisse nicht, ob sie noch am Leben seien oder wo sie überhaupt seien. Als sie BAföG beantragt habe, habe das BAföG-Amt einen Brief zur letzten bekannten Adresse der Eltern geschickt; dieser Brief sei nicht angekommen und an das Amt zurückgeschickt worden.
Mit Bescheid vom 12.08.2020 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kindergeld ab Februar 2020 ab. Zur Begründung führte sie aus, es seien keine Bemühungen der Klägerin oder Anderer dargelegt worden, den Aufenthalt der Eltern zu ermitteln. Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 18.08.2020 Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2020 als unbegründet zurückwies.
Am 26.10.2020 erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage zum Sozialgericht Freiburg.
Der Bevollmächtigte trägt vor: Grund der Flucht der Klägerin sei ihre Zwangsverheiratung als „Zweitfrau“ mit einem Bekannten ihres Vaters aus XXX gewesen. Grund und Möglichkeit der Flucht sei auch gewesen, dass die Klägerin mit einem selbst gefundenen Freund habe zusammen sein, also (aus Sicht des „Zwangsehemannes“) Ehebruch habe begehen wollen. Die Klägerin habe durch die Flucht aus dem Haushalt die eigene Familie und die Familie des „Zwangsehemannes“ entehrt. Die Flucht zum Zwecke des „Ehebruches“ werde weder von der Dorfgemeinschaft, noch den eigenen Eltern, und schon gar nicht vom „Zwangsehegatten“ akzeptiert. Die Klägerin habe daher erhebliche Angst davor, dass ihre Eltern oder die Familie des „Zwangsehegatten“ den derzeitigen Aufenthaltsort der Klägerin erfahren könnten. Sie sei hier in Sicherheit und sehe diese Sicherheit durch eine Offenlegung ihres Aufenthaltsortes bedroht.
Das Verlangen der Beklagten an die Klägerin, selbst Ermittlungen über den Aufenthalt der Eltern einzuleiten und durchzuführen, sei als Mitwirkungsaufforderung i.S.v. § 60 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) anzusehen. Die Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 SGB I bestünden gemäß § 65 SGB I u.a. dann nicht, wenn dem Betroffenen ihre Erfüllung aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden könne. Hier bestehe auf Seiten der Klägerin ein solcher wichtiger Grund: Die Klägerin könne Ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland verlieren, wenn Sie selbst nach Afghanistan zurückkehre. Sie müsse mit Repressalien und einer Gefahr für ihre körperliche Unversehrtheit durch die eigene Familie und die des „Zwangsehegatten“ fürchten, wenn im Rahmen der Ermittlungen oder Nachfragen eigene Kontaktdaten der Klägerin an jene übermittelt würden. Aufgrund der psychischen Belastung durch den Vollzug der Zwangsverheiratung durch die Eltern sei ihr auch aus diesen Gründen eine Kontaktaufnahme nicht zuzumuten. Es bestehe die begründete Gefahr des Auftretens einer Akuten Belastungsreaktion (ABR) oder Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Soweit die Beklagte z.B. auf den Suchservice des DRK verweise, so seien dort auch die Daten des „Suchenden“ einzugeben.
Im Übrigen habe das Studierendenwerk aufgrund des BAföG-Antrags der Klägerin deren Eltern angeschrieben. Hierzu habe das Studierendenwerk mitgeteilt: „Anbei der Brief an Ihre Eltern vom 30.09.2019, den das bisher zuständige Studentenwerk XXX im Rahmen Ihrer BAföG-Antragstellung verschickt hatte. Es kam keine Rückantwort von Ihren Eltern. Auch der Auslandsrückschein kam nicht zurück. Im weiteren Antrag auf BAföG wurde auf erneutes Anschreiben der Eltern verzichtet, weil es keine neuen Kenntnisse zum Aufenthaltsort gab.“
Schließlich werde auf ein Urteil des SG Kassel vom 20.08.2020 in einem vergleichbaren Fall verwiesen (Az. S 11 KG 1/20).
Der Bevollmächtigte hat ferner die Niederschrift des BAMF über die Anhörung der Klägerin gemäß § 25 des Asylgesetzes (AsyIG) vom XXX zur Akte gereicht, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 12.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Kindergeld nach dem BKGG zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Geschichte der Klägerin werde gewürdigt, entbinde diese aber nicht von jeglichen Kontaktaufnahmeversuchen. Beispielweise könne die Klägerin auch ohne Angabe einer Adresse oder ihres Aufenthaltsortes Suchbemühungen nach ihren Eltern im Ausland anstrengen. So habe der Kläger im Fall des SG Altenburg (Urteil vom 20.10.2020, Az. S 25 KG 1712/19) von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Übermittlung von Daten an die Behörden seines Heimatlandes auszuschließen. Ebenso sei es der Klägerin möglich und zumutbar, über ihre Geschwister oder die in die Zwangsverheiratung nicht involvierte Familienmitglieder beispielsweise per SMS, E-Mail, Whats-App oder Skype Informationen zum Verbleib der Eltern zu erhalten. Zum Zeitpunkt des letzten Kontakts im September 2015 hätten die Eltern der Klägerin in XXX, Afghanistan, gelebt. Im Rahmen der Anhörung vor dem BAMF habe die Klägerin erklärt, dass es sich (dabei) nicht um einen großen Ort handele. Daraus könne man schließen, dass es dort über ehemalige Bekannte oder Freunde oder aber auch über Behörden möglich sein könnte, etwas über den Verbleib der Eltern zu erfahren. Darüber hinaus werde auf das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 08.02.2018 (Az. L 14 KG 2/16) verwiesen, wonach der bloße Aufenthalt der Eltern im Ausland, im vorliegenden Falle mit einem Zerwürfnis verbunden, keinen Anspruch des Kindes auf Kindergeld an sich selbst begründe.
Das Gericht hat die Klägerin in der öffentlichen Sitzung vom 24.05.2022 persönlich angehört. Dabei gab die Klägerin zu ihren aktuellen beruflichen, wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen insbesondere an, sie studiere nach wie vor XXX an der Universität XX und habe kürzlich XXX absolviert. Ihren Lebensunterhalt bestreite sie mit BAföG-Leistungen und Einkünften aus einem Nebenjob. Die Klägerin lebt danach mit ihrem Partner zusammen. Eigene Kontakte oder solche ihres Partners zu Eltern, anderen Verwandten und überhaupt in ihr Herkunftsland Afghanistan seit September 2015 wurden verneint; sie wisse nicht, wo sich ihre Eltern seither aufhalten würden. Hinsichtlich weiterer Einzelheiten der Angaben der Klägerin wird auf die Sitzungsniederschrift und die nachfolgenden Entscheidungsgründe Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte und die Verfahrensakte des Gerichts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig und als im Wege der objektiven Klagenhäufung kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs. 1 und 4, 56 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>). Die sachliche Zuständigkeit folgt aus § 15 BKGG, da der im Streit stehende Anspruch sich nicht nach dem Einkommenssteuergesetz (EStG), sondern nach dem BKGG richtet.
Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Kindergeld für sich selbst ab Februar 2020. Der diesen Anspruch ablehnende angefochtene Bescheid ist daher rechtswidrig. Er war dementsprechend aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung der streitgegenständlichen Leistung zu verurteilen.
Der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für sich selbst beruht auf § 1 Abs. 2 S. 1 und 2, Abs. 3 BKGG i.V.m. §§ 2 Abs. 2, 9 BKGG.
Kindergeld für sich selbst erhält nach § 1 Abs. 2 S. 1 BKGG, wer in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Nr. 1 a.a.O.), nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist (Nr. 3 a.a.O.) - beides ist bei der Klägerin offenkundig und unstreitig der Fall - und Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt (Nr. 2 a.a.O.). Die Klägerin ist nicht Vollwaise. Vollwaise ist, wessen Eltern verstorben sind oder für verschollen erklärt wurden. Die Eltern der Klägerin sind weder für tot noch für verschollen erklärt, jedenfalls ist dies nicht bekannt. Die Klägerin kennt aber den Aufenthalt ihrer Eltern nicht und erfüllt hierdurch die Tatbestandsvoraussetzung des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG.
Für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt“ ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) allein der Wortlaut maßgebend (Urteil vom 08.04.1992, Az. 10 RKg 12/91, Rn. 17 nach <juris>). § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG ist danach „erkennbar subjektiv ausgerichtet und stellt auf die Nichtkenntnis des das Kindergeld beanspruchenden Kindes ab“; die Norm rechtfertigt es insbesondere nicht, positive Kenntnis aufgrund eines Verschuldens des Kindes an seiner Unkenntnis zu unterstellen (a.a.O. Rn. 18). Der Tatbestand von § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 BKGG ist mithin nur bei positiver Kenntnis des Aufenthalts der Eltern nicht erfüllt. Kenntnis oder Unkenntnis des Aufenthalts festzustellen, obliegt im Rahmen der Amtsermittlung der Behörde bzw. dem Sozialgericht. (a.a.O. Rn. 18). Nur wenn positive Kenntnis nicht festgestellt werden kann, ist in einem zweiten Schritt zu erwägen, ob eine rechtsmissbräuchliche Nichtkenntnis in Anlehnung an die zivilrechtliche Rechtsprechung zu § 852 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung einer Kenntnis i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichgestellt werden kann (a.a.O; diesem Prüfungsaufbau folgt z.B. auch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23.06.2016, Az. L 5 KG 1/15, <juris>). Aus der Gleichstellung von rechtsmissbräuchlicher Nichtkenntnis mit positiver Kenntnis und der Obliegenheit der Behörde, die Nichtkenntnis festzustellen, ergibt sich, dass Zweifel auf der ersten Prüfungsstufe zu Lasten der Behörde gehen, diese also die objektive Beweislast für den Fall trägt, dass positive Kenntnis nicht festgestellt werden kann.
Die Klägerin hat nach Überzeugung der Kammer keine positive Kenntnis des Aufenthalts ihrer Eltern. Sie hat eine solche im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Kindergeldantrag durchgehend und erneut in der öffentlichen Sitzung vom 24.05.2022 - nach dem persönlichen Eindruck der Kammer glaubhaft - verneint. Angesichts der objektiven Gesamtumstände ist plausibel, dass die Klägerin den Aufenthalt ihrer Eltern im streitgegenständlichen Zeitraum allenfalls vermuten, aber nicht positiv kennen kann.
Mangels zwischenzeitlicher Kontakte nach Afghanistan hat die Klägerin objektiv nur positive Kenntnis vom Aufenthalt ihrer Eltern im Zeitpunkt ihrer Flucht im September 2015. Was mit ihren Eltern danach geschah, entzieht sich ihrem Wissen. Die auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogene positive Kenntnis über den Aufenthalt der Eltern kann nicht zeitlich unbegrenzt als fortbestehend unterstellt werden. Denn bereits kurze Zeit nach Verlassen eines Orts und Abbruch des Kontakts zu den dort verbliebenen Personen besteht objektiv keine Gewissheit mehr darüber, dass diese sich dort weiterhin aufhalten, sondern lediglich die - mit fortschreitender Zeit immer unwahrscheinlicher werdende - Möglichkeit. „Kenntnis“ wird als „das Kennen einer Tatsache“ bzw. „das Wissen von etwas“ definiert (https://www.duden.de/node/77585/revision/77621, zuletzt abgerufen am 01.06.2022). Demnach entspricht das bloße Kennen einer Möglichkeit bzw. die Vermutung von „etwas“ - hier des Aufenthalts der Eltern - nicht der Kenntnis dieser Tatsache. Um aus einer solchen Vermutung Wissen zu generieren, müsste sich die Klägerin des möglichen Aufenthalts vergewissert haben, was nicht erfolgt ist. Sinn und Zweck des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG würde es andererseits widersprechen, den Anspruch auf Kindergeld für sich selbst sogleich anzunehmen, sobald sich ein Kind, überspitzt formuliert, außer Sichtweite der Eltern bzw. des Elternhauses begibt. Es ist daher durch eine wertende Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG zu beurteilen, ob und ggf. wann eine ehemals gegebene positive Kenntnis in eine bloße Vermutung bzw. Möglichkeit umschlägt und somit Unkenntnis i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG eintritt.
Hier sind zwischen der Flucht der Klägerin aus Afghanistan und dem Kontaktabbruch zu ihren Eltern im September 2015 und dem Beginn des Streitzeitraums (Februar 2020) gut viereinhalb, bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sogar mehr als sechseinhalb Jahre vergangen. Die nicht wohlhabende Familie der Klägerin lebte damals in einer einfachen Behausung im ländlichen Afghanistan (...). In Afghanistan herrscht seit Jahrzehnten Krieg; seit 2015 wurde das Land zusätzlich zur Gewalt der Taliban auch vom sogenannten „Islamischen Staat“ mit Anschlägen überzogen (https://de.wikipedia.org/wiki/Afghanistan, zuletzt abgerufen am 01.06.2022). Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 (auch im Raum XXX, vgl. etwa XXX, zuletzt abgerufen am 01.06.2022) verschärfte sich die politische und insbesondere auch die wirtschaftliche Lage weiter. Die Herkunftsfamilie der Klägerin dürfte darüber hinaus bereits durch deren Flucht wirtschaftlich - wegen der hieraus vermutlich resultierenden Rückforderung des „Brautpreises“ - und gesellschaftlich unter Druck geraten sein, auch wenn die Klägerin - was die Glaubwürdigkeit ihrer Angaben nur noch unterstreicht - auf Frage des Gerichts nachvollziehbar erklärte, hierzu ebenfalls keine Kenntnisse zu besitzen.
All diese Umstände lassen zwar nicht den Schluss zu, dass sich der Aufenthalt der Eltern der Klägerin seit September 2015 sicher oder auch nur wahrscheinlich verändert hat; dies ist lediglich möglich. Die o.g. Tatsachen erlauben es jedoch nach Überzeugung der Kammer umgekehrt auch nicht, mit Gewissheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit von einem seit September 2015 unveränderten Aufenthalt auszugehen. Zusammenfassend geht die Klägerin somit zu Recht davon aus, dass ein seit ihrer Flucht unveränderter Aufenthalt der Eltern ebenso möglich ist wie eine zwischenzeitliche Veränderung, ohne dass das eine begründet als wahrscheinlicher bezeichnet werden könnte als das andere. Dieses Wissen um eine bloße Möglichkeit ohne überwiegende Wahrscheinlichkeit ist bereits sprachlich mit der von § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG zum Ausschluss des Kindergeldanspruchs geforderten positiven Kenntnis der Tatsache „Aufenthalt der Eltern“ nicht vereinbar. Selbst wenn man dies anders sehen würde, wäre aufgrund der objektiven Beweislast der Beklagten und der aus den o.g. Gründen erheblichen Zweifel am Fortbestehen des ehemaligen Aufenthalts von der Unkenntnis der Klägerin hierüber auszugehen.
Die fehlende Kenntnis vom Aufenthaltsort ihrer Eltern kann der Klägerin auch nicht als rechtsmissbräuchlich vorgeworfen und deshalb der positiven Kenntnis gleichgestellt werden. Im Unterschied zu anderen Normen wie z.B. § 122 Abs. 2 BGB oder § 15 Abs. 2 Handelsgesetzbuch (HGB) lässt sich § 1 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 Alt. 2 BKGG kein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen positive Kenntnis unterstellt werden könnte (BSG a.a.O.). Ein reines „Kennenkönnen“ oder auch „Kennenmüssen“ genügt daher nicht. Das BSG hat allenfalls die Gleichstellung einer missbräuchlichen Nichtkenntnis mit einer Kenntnis im Sinne des § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG in Anlehnung an die zivilrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zur Kenntnis der Person des Schädigers i.R.v. § 852 a.F. BGB in Betracht gezogen. Danach wird eine Kenntnis angenommen, wenn ein Geschädigter eine sich ihm ohne Weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit, die weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht, nicht wahrnimmt, was z.B. bereits nicht mehr zutreffe, wenn lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreicher Schriftwechsel erforderlich würden (vgl. BGH-Urteil vom 05.02.1985, Az. VI ZR 61/8 = NJW 1985, 2022). Das LSG Sachsen-Anhalt (a.a.O.) hat in Weiterentwicklung der Überlegungen des BSG ausgeführt, Kindergeld für sich selbst erhalte nicht, wer den Aufenthalt seiner Eltern kenne; dem stehe ein missbräuchliches „sich verschließen“ vor der Kenntnis gleich. Ein solches liege etwa vor, wenn der Aufenthalt der Eltern durch eine einfache Nachfrage bei einer Behörde ermittelt werden könne.
Die von der Beklagten aufgezeigten Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich des Aufenthalts der Eltern bestehen allerdings bereits objektiv nicht:
Die Klägerin ist XXX mit ihrem jetzigen Partner aus Afghanistan nach Deutschland geflohen. Sie lebte bis dahin in einem kleinen Ort in XXX abwechselnd in ihrer Herkunftsfamilie, bestehend aus XXX sowie im Haushalt ihres damaligen Ehemanns. Mit ihm war sie gegen ihren Willen, den lokalen Gepflogenheiten entsprechend gegen Zahlung eines „Brautpreises“ an ihre Eltern, XXX verheiratet worden; ihr Ehemann hatte nach ihren Angaben gegenüber dem BAMF bereits vor der Eheschließung sexualisierte Gewalt gegen sie ausgeübt. Die Behandlung durch ihn und dessen erste Ehefrau schilderte die Klägerin als schlecht. Eine solche gemeinsame Flucht mit einem selbst gewählten Partner aus einer Zwangsehe stellt einen totalen Verstoß gegen fundamentale Erwartungen und Konventionen der betroffenen Familien und der gesamten Gesellschaft des Herkunftsortes dar, als „Ehebruch“ aber auch gegen rechtliche Normen und religiöse Moralvorstellungen in Afghanistan. Dort waren außereheliche Beziehungen bereits vor der erneuten Machtergreifung der Taliban sowohl im staatlichen Strafgesetz als auch gemäß der Scharia verboten. Ehebruch stellt in der afghanischen Gesellschaft einen ernsten Verstoß gegen die islamische Moral dar und wird als Todsünde betrachtet, hat den Status eines Verbrechens und „entehrt“ nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern deren gesamte Familien. Deshalb kam und kommt es zu Sanktionen bis hin zur Tötung der Beteiligten durch das staatliche Justizsystem, traditionelle Rechtsmechanismen oder sogenannte „Ehrenmorde“ (vgl. etwa VG Magdeburg, Urteil vom 05.01.2018, Az. 5 A 179/17 MD, veröff. in https://www.asyl.net/rsdb/M25874, zuletzt abgerufen am 01.06.2022). Leben und körperliche Unversehrtheit der Klägerin und ihres Partners würden daher objektiv gefährdet, wenn Angehörige einer der betroffenen Familien Kenntnis von ihrem Aufenthalt erlangen würden. Auch ist die Sorge der Klägerin, bereits durch einen Kontakt retraumatisiert und/oder psychisch beeinträchtigt zu werden, in Anbetracht der Vorgeschichte ohne weiteres plausibel. Es ist daher glaubhaft und nachvollziehbar, dass die Klägerin und ihr Partner seit ihrer Flucht nicht nur keinen Kontakt zu ihren Familien oder zu Personen aufgenommen haben, die Kontakt zu diesen Familien haben könnten, sondern darüber hinaus bemüht sind auszuschließen, dass die Familien ihrerseits ihren Aufenthaltsort erfahren könnten. Ebenso glaubhaft ist, dass die Klägerin und ihr Partner aus diesem Grund über keinerlei Kontaktdaten (E-Mail-Adressen oder Telefonnummern) der Familien oder sonstiger Personen aus dem Herkunftsland verfügen. Die Kammer hat daher keine Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Angaben. Die Beklagte hat diese auch nicht bestritten. Somit kommt eine unmittelbare Kontaktaufnahme der Klägerin oder ihres Partners zu Angehörigen oder Bekannten in Afghanistan zur Aufenthaltsklärung mangels Kontaktdaten nicht in Betracht.
Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) dürfte der Klägerin bereits deshalb nicht weiterhelfen können, weil sie den Kontakt zu ihren Eltern nicht „auf der Flucht oder im Zuge von Migration (...) verloren“ hat, wie dies für die internationale Suche des DRK-Suchdienstes vorausgesetzt wird (vgl. https://www.drk-suchdienst.de/wie-wir-helfen/suchen/internationale-suche/#c53086, abgerufen am 01.06.2022). Diese dient der Wiederherstellung des Kontakts zwischen Angehörigen, die aufgrund eines bewaffneten Konflikts oder einer Naturkatastrophe oder auf der Flucht bzw. im Zuge von Migration voneinander getrennt wurden, z.B. auf der Flucht- bzw. Migrationsroute (ebda.). Die Situation der Klägerin, die sich allein bzw. mit ihrem Partner auf den Weg gemacht und die Familie zurückgelassen hat, dürfte nicht hierunter fallen, denn es ist nicht Aufgabe des DRK-Suchdienstes - gleichsam wie eine weltweite Meldebehörde oder ein internationales Adressverzeichnis - den Aufenthalt von Personen im Ausland zu ermitteln, die von Flucht oder Migration persönlich überhaupt nicht betroffen waren. Dass der DRK-Suchdienst, wie die Beklagte meint, die Übermittlung jeglicher Daten des Suchenden an Stellen im vermuteten Aufenthaltsland ausschließen könnte, erscheint schon aus datenschutzrechtlichen Gründen zweifelhaft: Wie wäre es zu rechtfertigen, dem Suchenden den Aufenthalt des Gesuchten mitzuteilen, ohne dem Gesuchten zu offenbaren, dass und von wem er gesucht wird und wo sich der Suchende befindet? In seinen Datenschutzinformationen teilt der DRK-Suchdienst jedenfalls mit, er benötige zur Suche auch die Kontaktdaten der suchenden Person und Angaben zum Verwandtschaftsverhältnis. Weiter wird dort ausgeführt, dass für Verarbeitung und Übermittlung der Daten des Suchenden und des Gesuchten dieselben Grundsätze gelten. Zwar kann der Suchende die Übermittlung von Daten an bestimmte Länder, andere Stellen oder auch eine Veröffentlichung ausschließen; dies aber nur insgesamt, nicht etwa beschränkt auf die Daten des Suchenden (zuletzt abgerufen am 01.06.2022 unter: https://www.drk-suchdienst.de/fileadmin/user_upload/03_Wie-wir-arbeiten/
05_Datenschutz/Informationen_Datenschutz_ISU_Website_2020.pdf).
Weiter besteht für die Klägerin jedenfalls seit der Machtübernahme der Taliban auch keine Möglichkeit, diplomatische oder konsularische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Taliban-Regierung keine solchen Beziehungen bestehen. Aktuell könnte die Klägerin die Zweifel am Aufenthaltsort ihrer Eltern daher ausschließlich durch eine direkte Anfrage bei afghanischen Behörden oder eine Reise nach Afghanistan sowie persönliche Nachforschungen bei dortigen Behörden oder im Heimatort bestätigen oder ausräumen. Diese „Möglichkeiten“ - die im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan im Übrigen den Flüchtlingsstatus der Klägerin gefährden könnten - liegen ebenso wie alle anderen in Betracht kommenden Erkenntnisquellen (Kontaktaufnahme mittels Telekommunikation, DRK-Suchdienst) weder „gleichsam auf der Hand“ noch sind sie nicht mit „nennenswerter Mühe“ verbunden, wie für die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Unkenntnis erforderlich. Dass die Klägerin sie nicht wahrnimmt, überschreitet auch nicht die Schwelle zur Rechtsmissbräuchlichkeit, aufgrund derer allein ihre Nichtkenntnis einer Kenntnis gleichgestellt werden könnte. Denn jede dieser Möglichkeiten kann zu einer die Klägerin psychisch belastenden Retraumatisierung führen und birgt objektiv die Gefahr, dass ihr gegenwärtiger Aufenthalt einer der von ihrer Flucht betroffenen afghanischen Familien bekannt wird, was eine Erhöhung ihres Risikos für Leib und Leben bedeuten würde. Aus diesen Gründen ist ihr die Wahrnehmung einer dieser Erkenntnisquellen nicht zumutbar.
Vor allem aber ist der erklärte Wunsch der Klägerin, den Aufenthalt ihrer Eltern nicht erfahren zu wollen, solange dies notwendigerweise einen Kontakt zu oder die Offenbarung ihres Aufenthalts gegenüber Personen in Afghanistan voraussetzt, unter keinen Umständen als rechtsmissbräuchlich zu werten. Das u.a. für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgebliche Schicksal der Klägerin, konkret ihre Zwangsverheiratung, die ihr durch den Ehemann zugefügte Gewalt und die ihr aufgrund der Flucht aus der Ehe nach der Rechts- und Gesellschaftsordnung ihres Herkunftslandes drohenden Konsequenzen, stehen in eklatantem Widerspruch zur grundgesetzlichen Rechts- und Werteordnung, namentlich zu der in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verbürgten Menschenwürde, dem Recht auf freien Entschluss zur ehelichen Lebensgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 GG), dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG), sowie den Rechten auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 GG). Die Entscheidung der Klägerin, den Kontakt nicht nur zu ihrer Familie abzubrechen, sondern zu allen Personen und Stellen, die die der Zwangsehe zugrunde liegende Staats- und Gesellschaftsordnung bejahen oder stützen bzw. ihrerseits zu ihren Angehörigen Kontakt haben könnten, ist in Anbetracht dessen zu respektieren und auch rechtlich soweit möglich zu schützen. Erkenntnismöglichkeiten nicht wahrzunehmen, die einen solchen Kontakt zur Folge haben können, kann daher nach Überzeugung der Kammer nicht rechtsmissbräuchlich sein.
Die weiteren Anspruchsvoraussetzungen sind unproblematisch erfüllt. Als Kind ist nach § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 lit. a) i.V.m. § 1 Abs. 2 S. 2 BKGG u.a. zu berücksichtigen, wer noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und in einem Beruf ausgebildet wird. Dies ist bei der am XXX geborenen Klägerin, die ein Studium XXX absolviert, der Fall. Als nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist die Klägerin gleichwohl gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 4, 3 lit. c BKGG anspruchsberechtigt, weil sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt im Bundesgebiet aufhält. Der gemäß § 9 BKGG erforderliche Antrag schließlich wurde ebenfalls gestellt.
Ob die Klägerin gemäß § 5 Abs. 2 BKGG Anspruch auf rückwirkendes Kindergeld bereits für Zeiträume vor Februar 2020 hat, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens und bedarf ggf. noch einer gesonderten Entscheidung der Beklagten, da sich die Regelung des angefochtenen Bescheids auf die Zeit ab Februar 2020 beschränkt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG und trägt dem Unterliegen der Beklagten Rechnung.