L 9 SO 360/20

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 28 SO 48/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 360/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.10.2020 geändert. Der Bescheid vom 04.05.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2019 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 3.582,36 € zu erstatten. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.                                               

Die Beklagte hat die Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Kosten iHv 3.582,36 € für die Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl nebst Zubehör für den Besuch einer Kindertageseinrichtung (Kita) streitig.

Bei dem am 00.00.2016 geborenen Kläger besteht eine infantile spinale Muskelatrophie Typ 1 mit muskulärer Hypotonie und motorischer Entwicklungsverzögerung. Er ist bei der Z BKK krankenversichert, die von dem Sozialgericht beigeladen worden ist. Der medizinische Dienst der Beigeladenen stellte ab dem 01.10.2017 den Pflegegrad 2 und ab dem 01.05.2018 den Pflegegrad 3 fest. Der Kläger verfügt über einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 100 und den Merkzeichen aG, B und H. Für den häuslichen Gebrauch wurde der Kläger von der Beigeladenen mit einem Therapiestuhl versorgt.

Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Dr. B verordnete unter dem 28.02.2018 einen weiteren Therapiestuhl „Madita Fun“ mit Zubehör für den ab dem 01.04.2018 geplanten Besuch der Kita. In ihrem Attest vom 21.03.2019 führte die Ärztin aus, der Kläger könne nicht selbstständig sitzen, stehen oder laufen. Der Körper könne aufgrund der massiven Muskelschwäche nicht selbstständig gehalten werden und müsse beim Sitzen mit genau angepassten Hilfsmitteln versorgt werden. Um am Kita-Alltag, zB an gemeinsamen Mahlzeiten, teilnehmen zu können, benötige der Kläger einen Therapiestuhl. Dieser sei darüber hinaus erforderlich, um schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen in Form von Wirbelsäulenverkrümmungen zu vermeiden.   

Der Kläger übersandte die Verordnung und einen Kostenvoranschlag vom 12.03.2018 für den Therapiestuhl „Madita Fun 2“ über 3.636,82 € an die Beigeladene. Die Beigeladene leitete den Kostenvoranschlag mit Schreiben vom 13.03.2018 an die Beklagte weiter. Nach Eingang des Schreibens forderte die Beklagte den Kläger auf, einen Antrag auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zu stellen, den dieser bei der Beklagten schriftlich am 21.03.2018 einreichte. Mit Schreiben vom 22.03.2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie habe den Antrag an die Beigeladene weitergeleitet. Dem Schreiben war ein Anschreiben an die Beigeladene beigefügt, in dem die Beklagte ausführt, die Übersendung des Kostenvoranschlags sei nicht als Antrag zu werten. Der Antrag sei nunmehr gestellt worden und liege als Anlage bei. Dagegen wendete die Beigeladene ein, aus dem übersandten Kostenvoranschlag nebst Verordnung gehe eindeutig hervor, was beantragt sei und wofür es genutzt werden solle.

Die Eltern des Klägers stimmten einer von der Beklagten mit Schreiben vom 06.04.2018 geforderten Vermögensprüfung nicht zu. Sie meinten, ein Anspruch auf Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl ergebe sich unabhängig von ihren wirtschaftlichen Verhältnissen aus dem SGB V.  

Mit Schreiben vom 04.05.2018 führte die Beklagte gegenüber dem Kläger aus, sie sei zwar für Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe zuständig. Eine Leistung nach dem SGB V komme dagegen nicht in Betracht, weil die gesetzlichen Krankenkassen nach der Rechtsprechung des BSG einem Kind erst ab einem Alter von drei Jahren eine Zweitversorgung mit dem begehrten Hilfsmittel bewilligen müssten. Eine Bewilligung nach dem SGB XII ohne Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen könne nicht vorgenommen werden. Die Anschaffung des Therapiestuhls sei insoweit nicht privilegiert.

Gegen das Schreiben legte der Kläger am 13.05.2018 Widerspruch ein. Die Anschaffung des Therapiestuhls sei nach § 92 Abs. 2 Nr. 5 SGB XII privilegiert. Außerdem sei die Nahrungsaufnahme, die ihm nur im Stuhl sitzend möglich sei, als Grundbedürfnis zu werten. Die Einstandspflicht der Krankenkassen für Mobilitätshilfen zum mittelbaren Behindertenausgleich bei Kindern und Jugendlichen reiche weiter als bei erwachsenen Versicherten. Zentrales Ziel des Kita-Besuchs seien nicht nur die Betreuung, sondern auch Bildung und Erziehung.

Mit Bescheid vom 09.07.2018 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da aufgrund fehlender Einkommensnachweise eine Hilfebedürftigkeit nicht feststellbar sei. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 12.07.2018 Widerspruch ein. Mit weiterem Bescheid vom 25.07.2018 hob die Beklagte den Bescheid vom 09.07.2018 auf und versagte die Leistung nunmehr bis zur Nachholen der Mitwirkung. Gegen den Versagungsbescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 10.08.2018 Widerspruch ein, dem die Beklagte mit Bescheid vom 08.09.2021 abgeholfen hat.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.01.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ein Leistungsanspruch nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V scheide aus, da nach dem Urteil des BSG vom 03.11.2011 - B 3 KR 8/11 R Kindern erst nach Vollendung des dritten Lebensjahres ein Anspruch auf Zweitversorgung mit einem Hilfsmittel für den Besuch einer Kita zustehe. Erst dann bereite der Besuch einer Kita auf den verpflichtenden Schulbesuch vor. Die Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl stelle auch keine privilegierende Maßnahme der Eingliederungshilfe dar, weil mit ihr kein spezifisches Bildungsziel verfolgt werde. Die Leistung sei daher nur unter Berücksichtigung des Einkommens und Vermögens der Eltern zu erbringen. Ob die Eltern des Klägers über bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen verfügten, könne ohne Nachweise nicht geprüft werden.

Am 03.02.2019 haben die Eltern des Klägers den Therapiestuhl für 3.582,36 € gekauft.

Am 04.02.2019 hat der Kläger beim Sozialgericht Düsseldorf Klage erhoben. Sein Anspruch ergebe sich aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Die Zweitversorgung mit dem Therapiestuhl diene dem mittelbaren Behindertenausgleich. Der Therapiestuhl sei ein Hilfsmittel im Sinne dieser Vorschrift, weil er kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sei. Die von der Beklagten genannte Entscheidung des BSG stehe seinem Anspruch nicht entgegen. Das BSG habe nicht ausdrücklich entschieden, dass ein Anspruch auf eine Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl in der Kita erst ab dem dritten Lebensjahr besteht. Die Ausführungen des BSG zu über dreijährigen Kindern seien auch auf jüngere Kinder übertragbar. Ohne Therapiestuhl könne er die Kita nicht besuchen. Der Besuch der Kita sei als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens zu bewerten. Er würde massive Nachteile erfahren, wenn ihm diese frühkindliche Förderung verwehrt würde.

Der Kläger hat beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 04.05.2018 und 25.07.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den beantragten Therapiestuhl im Wege der Kostenerstattung zu gewähren und an den Kläger 3.582,36 € zzgl. Zinsen zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an der angefochtenen Entscheidung festgehalten.

Die Beigeladene hat sich für nicht zuständig gehalten, da sie den Antrag fristgerecht an die Beklagte weitergeleitet habe. Im Übrigen lasse sich der Anspruch des Klägers nicht aus den Vorschriften des SGB V herleiten, da der Kita-Besuch nicht der Hinführung zur Schulfähigkeit diene.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 07.10.2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Anspruch lasse sich nicht aus § 33 SGB V herleiten, weil ein Fall des mittelbaren Behindertenausgleichs nicht vorliege. Als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens bei dem Besuch der Kita komme lediglich das Hinführen zur Schulfähigkeit in Betracht. Im Hinblick auf die Förderung der Schulfähigkeit gehöre der Besuch der Kita erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres zu den Grundbedürfnissen im Sinne der medizinischen Rehabilitation. Der Anspruch lasse sich auch nicht aus den Vorschriften der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe herleiten. Eine solche Leistung sei von der Einkommens- und Vermögenssituation der Eltern abhängig, die diese aber nicht offen legen wollten. Eine vermögensprivilegierte Hilfe liege nicht vor. 

Gegen das ihm am 18.10.2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11.11.2020 Berufung eingelegt. Das erstinstanzliche Urteil verkenne die Entwicklungen und Forschungsergebnisse der frühkindlichen Förderung gerade auch im Hinblick auf die Vorbereitung auf die Schule. Aus einem vom Sozialgericht Nürnberg im Verfahren S 11 KR 328/17 eingeholten Gutachten ergebe sich, dass ein früher Eintritt in die institutionelle Betreuung mit besseren kognitiven Leistungen assoziiert sei. Es habe positive Auswirkungen auf die Schulreife, wenn Vorschulangebote bereits im Alter von zwei bis drei Jahren wahrgenommen würden. Dies gelte insbesondere für Kinder mit Behinderungen. An einer frühkindlichen Förderung habe er nur mit einem Therapiestuhl teilnehmen können, weil er im Alter zwischen einem und drei Jahren weder stabil sitzen noch laufen oder krabbeln habe können, weshalb es ihm nicht möglich gewesen sei, ohne Therapiestuhl zu essen oder mit anderen Kindern zu spielen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.10.2020 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 04.05.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2019 die verauslagten Kosten in Höhe von 3.582,36 € nebst Zinsen zu erstatten.       

 Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene verweisen auf ihr bisheriges Vorbringen. Am 11.12.2020 hat die Beigeladene den Kläger mit einem zweiten Therapiestuhl versorgt, nachdem dieser das vierte Lebensjahr vollendet hatte.

Der Senat hat die Ausführungen bei „Kinderbetreuung Kompakt, Ausgabe 05a, Ausbaubedarf und Bestand 2019“ des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beigezogen und den Beteiligten übersandt.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten und der beigezogenen Gerichtsakte des Sozialgerichts Düsseldorf S 28 SO 103/18 ER Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG entschieden hat, hat teilweise Erfolg. Hinsichtlich der Hauptforderung war das Urteil des Sozialgerichts vom 07.10.2020 war zu ändern und der Klage stattzugeben. Hinsichtlich des Zinsanspruchs ist die Berufung unbegründet.

Die Berufung des Klägers ist statthaft und auch im Übrigen zulässig, §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 04.05.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2019 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die beantragte Zweitversorgung mit einem Therapiestuhl für den Besuch der Kita abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG). Das Schreiben vom 04.05.2018 ist trotz der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung als Verwaltungsakt iSv § 31 SGB X auszulegen, denn für den Kläger als Erklärungsempfänger ist erkennbar (§§ 133, 157 BGB), dass die Beklage eine Ablehnungsentscheidung mit einem verbindlichen Regelungswillen getroffen hat. Der Widerspruch ist damit zu Recht von der Beklagten als zulässig angesehen und sachlich bescheiden worden. Der Aufhebungs- und Versagungsbescheid vom 25.07.2018 ist hingegen nicht mehr Gegenstand des Berufungsverfahrens, weil dieser von der Beklagten mit Bescheid vom 08.09.2021 aufgehoben worden und deshalb erledigt ist (§ 39 Abs. 2 SGB X).

Der Kläger ist prozessführungsbefugt und aktivlegitimiert. Nachdem seine Eltern für ihn den Therapiestuhl angeschafft und hierfür einen Betrag iHv 3.582,36 € aufgewendet haben, verfolgt er seinen ursprünglich gegen die Beigeladene bestehenden Sachleistungsanspruch als Kostenerstattungsanspruch weiter. Der Umstand, dass die Eltern den Therapiestuhl erworben haben, ändert an der Prozessführungsbefugnis und Aktivlegitimation des Klägers nichts. Der Kläger selbst war als bei der Beigeladenen Versicherter hinsichtlich des Sachleistungsanspruchs aktivlegitimiert. Wandelt sich der Sachleistungsanspruch in einen Kostenerstattungsanspruch um, ändert dies an der Anspruchsberechtigung des Versicherten nichts. Auch wenn die Leistung durch Dritte – hier die Eltern des Klägers – beschafft wird, tritt der Kostenerstattungsanspruch ohne Veränderung des Inhaberschaft des Anspruchs als dessen Surrogat an die Stelle des Sachleistungsanspruchs.

Die Berufung des Klägers hat hinsichtlich der Hauptforderung Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 04.05.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.01.2019 ist rechtswidrig und der Kläger iSd § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert. Er hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Kostenerstattung iHv 3.582,36 €.  

Rechtsgrundlage für den Anspruch ist § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX. Die Regelung greift den im Bereich der Krankenversicherung bestehenden Sekundäranspruch bei Systemversagen auf (BT-Drucks. 14/5800, S. 26) und normiert trägerübergreifend die Kostenerstattung für selbstbeschaffte Teilhabeleistungen. Für die Kostenerstattung von selbstbeschafften Leistungen der medizinischen Rehabilitation (vgl. § 5 Nr. 1 SGB IX), zu denen auch die Hilfsmittel zum mittelbaren Behindertenausgleich gehören, ist das Regelungssystem des SGB IX vorrangig (vgl. BSG Urteil vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R).

Nach § 18 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 SGB IX besteht die Pflicht zur Erstattung selbstbeschaffter Leistungen, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Leistungspflichtig ist der zuständige Rehabilitationsträger.

Die Beklagte ist als zweitangegangener Rehabilitationsträger unabhängig von der materiellen Rechtslage für die Entscheidung gem. § 14 Abs. 2 Satz 4, Satz 1 SGB IX gegenüber dem Kläger zuständig geworden. Denn die Beigeladene hat den Antrag des Klägers innerhalb der Frist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX an die Beklagte weitergeleitet. Die Übersendung des Kostenvoranschlags ist entgegen der Ansicht der Beklagten als Teilhabeantrag iSd § 14 SGB IX zu verstehen. Von einem Antrag iSv § 14 SGB IX ist auszugehen, wenn dieser unter Angabe des konkreten Leistungsbegehrens und der Identität des Betroffenen allein auf Leistungen zur Teilhabe gerichtet ist (Benedix in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 7. Aufl. 2021, § 14 SGB IX Rn. 6). Eine formlose Übersendung eines Kostenvoranschlags als Versorgungsanzeige ist hierfür ausreichend (BSG Urteil vom 24.01.2013 – B 3 KR 5/12 R). Die Beigeladene hat den an sie durch die Beklagte weitergeleiteten Formantrag des Klägers vom 21.03.2018 zu Recht zurückgewiesen, weil eine zweite Weiterleitung nur unter den (hier nicht gegebenen) Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 SGB IX zulässig ist. Die nach § 14 Abs. 1 SGB IX begründete Zuständigkeit der Beklagten erstreckt sich im Außenverhältnis zum Versicherten auf alle Rechtsgrundlagen, die in dieser Bedarfssituation rehabilitationsrechtlich vorgesehen sind (BSG Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R). Daher hat die Beklagte den Versorgungsanspruch des Klägers unter Berücksichtigung aller in seiner Bedarfssituation in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen.

Der Kläger hatte einen sich aus § 33 SGB V ergebenden Sachleistungsanspruch. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Der von Dr. B am 28.02.2018 verordnete Therapiestuhl stellt ein Hilfsmittel iSv § 33 SGB V dar. Hilfsmittel sind für die speziellen Bedürfnisse kranker und behinderter Menschen entwickelt und hergestellt worden und werden von diesem Personenkreis ausschließlich oder überwiegend benutzt (BSG Urteil vom 16.04.1998 – B 3 KR 9/97 R). Der Therapiestuhl ist kein Gegenstand, der im täglichen Leben von nicht behinderten Menschen verwendet wird, sondern zielt auf die speziellen Bedürfnisse eines behinderten Kindes ab (BSG Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R). Er dient Kindern mit Beeinträchtigung des Sitzens zur Einhaltung einer möglichst physiologischen Sitzposition sowie der Sicherung des stabilen Sitzens. Er ist für gesunde Kinder nicht erforderlich.

Ein Ausschluss von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen durch die Rechtsverordnung nach § 34 Abs. 4 SGB V ist nicht erfolgt. 

Der Therapiestuhl war im Zeitpunkt der Versorgung durch den Kläger erforderlich, um die Behinderung auszugleichen (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1 Alt. 3 SGB V). Erforderlichkeit ist gegeben, wenn das Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und notwendig iSv § 12 Abs. 1 SGB V ist. Dies ist der Fall, wenn es die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich fördert (Nolte in Kasseler Kommentar, SGB V, 16. EL 2021, § 33 Rn. 18).

Der Therapiestuhl war zum Ausgleich der Behinderung des Klägers medizinisch erforderlich. Wie sich aus dem Attest von Frau Dr. B vom 21.03.2019, dessen Richtigkeit anzuzweifeln kein Anlass besteht, ergibt, konnte der Kläger im Zeitpunkt der Versorgung nicht selbstständig sitzen, stehen oder laufen, weshalb er insbesondere für gemeinsame Mahlzeiten und gemeinsames Spiel auf den Therapiestuhl angewiesen war. Die medizinische Erforderlichkeit eines speziell an die Körpermaße angepassten Therapiestuhls ist zwischen den Beteiligten und der Beigeladenen unstreitig. Zu Recht hat die Beigeladene für den Haushalt des Klägers ein entsprechendes Hilfsmittel bewilligt und diesen ab dem 11.12.2020 mit einem weiteren Therapiestuhl für den Besuch der Kita versorgt. Die Versorgung mit dem Therapiestuhl war auch vor dem 11.12.2020 erforderlich. Die Ausstattung eines im Bereich der Sitzfähigkeit behinderten Kindes mit nur einem Therapiestuhl ist wegen der Ungeeignetheit eines täglichen Transports nicht ausreichend (vgl. Sächsisches LSG Urteil vom 18.06.2020 – L 9 KR 761/17).

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen umfasst das Versorgungsziel der Krankenkassen die mit dem zweiten Therapiestuhl verfolgten Zwecke. Die medizinische Rehabilitation durch die gesetzliche Krankenversicherung ist auf eine möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges gerichtet, um ein selbstständiges Leben zu führen und die Anforderungen des täglichen Lebens bewältigen zu können (BGB Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R). Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist Aufgabe anderer Sozialleistungsträger. Daher hat die Krankenkasse ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behindertenausgleich im Sinne eines Basisausgleichs nur zu bewilligen, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist (BSG Urteile vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R und vom 23.07.2002 – B 3 KR/02 R). Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören die allgemeinen Verrichtungen wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören und in Bezug auf die Mobilität unter anderem die Erschließung des Nahbereichs um die Wohnung (hierzu BSG Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R). Für Kinder und Jugendliche gehören darüber hinaus die Hinführung zur Schulfähigkeit (BSG Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R) sowie die Eingliederung in die Gruppe der Gleichaltrigen zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens (BSG Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R, Urteil vom 16.04.1998 – B 3 KR 9/97 R; Gerlach in Hauck/Noftz SGB V, 5 EL 2022, § 33 Rn. 101).

Der Senat lässt die streitige Frage, ob die Zweitversorgung eines unter Dreijährigen mit einem Therapiestuhl für den Besuch einer Kita der Hinführung auf die Schulfähigkeit dient (ablehnend Sächsisches LSG Urteil vom 18.06.2020 – L 9 KR 761/17; SG Dortmund Urteil vom 05.08.2020 - S 83 KR 6564/19; bejahend SG Nürnberg Urteil vom 19.09.2018 – S 11 KR 328/17) ebenso wie das BSG (so ausdrücklich BSG Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R) offen.

Zumindest benötigt der Kläger den Therapiestuhl zur Integration in den Kreis der gleichaltrigen Kinder durch den Besuch der Kita. Nur mit dem Therapiestuhl wurde der Kläger in die Lage versetzt, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen und seinen Altersgenossen im Spiel zu folgen. Der Therapiestuhl diente dem Kläger damit zur Ermöglichung des Kita-Besuchs bei Vermeidung von Ausgrenzung aus der Gruppe der anderen Kinder. Dies ist dem Basisausgleich zuzurechnen (abweichend wohl BSG Urteil vom 03.11.2011 – B 3 KR 8/11 R).

Zur Förderung der Integration in der kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphase dienen Hilfsmittel, die eine Teilnahme an den allgemein üblichen Betätigungen Gleichaltriger ermöglichen sollen (BSG Urteil vom 16.04.1998 – B 3 KR 9/97 für ein Rollstuhl-Bike). Damit sollen behinderte Kinder und Jugendliche vor behinderungsbedingter Ausgrenzung im täglichen Leben bewahrt oder diese abgemildert werden, um Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung entgegenzuwirken (BSG Urteil vom 18.08.2011 – B 3 KR 10/10R). Die Krankenkassen sollen diejenige Unterstützung leisten, die erforderlich ist, um sie trotz der Behinderung in das übliche Leben ihrer Altersgenossen zu integrieren (BSG Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 9/97). Zu den Grundbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen zählt ebenso wie der Schulbesuch auch die Möglichkeit, spielen zu können bzw. allgemein an der üblichen Lebensgestaltung der Gleichaltrigen als Bestandteil des sozialen Lernprozesses teilnehmen zu können (vgl. BSG Urteile vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R und vom 16.04.1998 – B 3 KR 9/97 R; Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, 5. EL 2022, § 33 Rn. 101). Anders als Hilfsmittel, die darauf begrenzt sind, die behinderungsbedingten Folgen im beruflichen oder familiären Bereich zu beseitigen oder zu mildern (BSG Urteil vom 12.08.2009 – B 3 KR 11/08 R zum Therapie-Tandem) oder allgemein dem Bedürfnis nach Freizeitgestaltung an sich dienen (BSG Urteil vom 18.05.2011 – B 3 KR 10/10 R zum Vereinssportrollstuhl) und insofern lediglich die Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten beabsichtigen, für die die Krankenkassen nicht zuständig sind, fällt die Versorgung mit einem Hilfsmittel, das entwicklungsbedingt unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse zur notwendigen Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen erforderlich ist, in den Verantwortungsbereich der Krankenkassen.

Im Zeitpunkt der Versorgung mit dem Hilfsmittel im Jahre 2019 entsprach die institutionelle Betreuung von zweijährigen Kindern einer üblichen Lebensgestaltung dieser Altersgruppe. Dies wird dadurch belegt, dass 2019 81,2% der Eltern für ihre zweijährigen Kinder einen Betreuungsbedarf angemeldet hatten, wobei die tatsächliche Betreuungsquote wegen fehlenden Betreuungsangeboten bei 63,2% lag (so die vom Senat beigezogenen Ausführungen bei „Kinderbetreuung Kompakt“, S. 19). Die Aufnahme von zweijährigen Kindern in einer Kinderbetreuungseinrichtung erfolgt dabei nicht lediglich zur Entlastung der Eltern von ihren Fürsorgepflichten. Vielmehr dient deren institutionelle Betreuung daneben eigenen, selbstständigen Zielen. Nach § 22 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII sollen Tageseinrichtungen für Kinder die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern Nach § 13 Abs. 3 des Gesetzes zur frühen Bildung und Förderung von Kindern (Kinderbildungsgesetz - KiBiz) Nordrhein-Westfalen (in der bis zum 31.07.2020 gF) sollen die Kindertageseinrichtungen auf der Basis der Eigenaktivität des Kindes vielfältige Bildungsmöglichkeiten anbieten, die seine motorische, sensorische, emotionale, ästhetische, kognitive, kreative, soziale und sprachliche Entwicklung ganzheitlich fördern und die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Menschen einschließen. Die institutionelle Betreuung ist im Wesentlichen auf die Begleitung und Förderung eines sozialen Entwicklungsprozesses der Kinder gerichtet. Kinder mit Behinderungen und Kinder, die von Behinderungen bedroht sind, sollen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen gefördert und Ausgrenzung soll vermieden werden (§ 8 KiBiz). Die Krankenkassen müssen daher die notwendige Unterstützung leisten, damit behinderte Kinder in ihrer Umgebung nicht mehr als ohnehin schon isoliert werden und diese vom üblichen Leben ihrer Altersgruppe ausgeschlossen, sondern trotz ihrer Behinderung integriert werden.        

Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob der Kläger im Zeitpunkt der Beschaffung des Therapiestuhls auch einen Anspruch aus § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der bis zum 31.12.2019 gF) iVm § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX in der am 31.12.2017 gF hatte. Der Kläger erfüllte die personenbezogenen Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der bis zum 31.12.2019 gF) für den Bezug von Eingliederungsleistungen. Bei ihm bestand in Form der infantilen spinalen Muskelathrophie Typ 1 und den daraus resultierenden Folgen eine Behinderung iSd § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (in der bis zum 31.12.2019 gF) iVm § 2 Abs. 1 Satz 1  SGB IX. Die Zweitversorgung mit dem Therapiestuhl war – wie ausgeführt - medizinisch indiziert und zur sozialen Integration des Klägers unter Gleichaltrigen angemessen. Ob der Kläger einen Anspruch auf Kostenübernahme ohne Berücksichtigung von Vermögen und ohne Berücksichtigung seines Einkommens und des Einkommens seiner Eltern hatte, war mit Blick auf den Nachranggrundsatz der Sozialhilfe (§ 2 SGB XII) nicht zu entscheiden, weil ein Anspruch nach § 33 SGB V besteht. Der Senat hatte daher nicht zu prüfen, ob die Anschaffung des Therapiestuhls für den Besuch einer Kita eine vermögensprivilegierende Hilfe nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB XII (idF bis zum 31.12.2019) darstellte (bejahend für einen Integrationshelfer in der Kita LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 27.08.2015 – L 8 SO 177/15 B ER; siehe auch Beschluss des Senats vom 12.09.2018 – L 9 SO 506/18 B ER). Ebenso konnte der Senat offen lassen, ob - wie der Kläger vorträgt - eine privilegierte Hilfe nach § 92 Abs. 2 Satz Nr. 5 SGB XII aF vorliegt. Diese Vorschrift erfasst Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII aF iVm § 26 SGB IX (idF bis zum 31.12.2017), die gem. § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII aF den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen. Bei bestehendem Versicherungsschutz sind die Leistungen regelmäßig vorrangig durch den Krankenversicherungsträger zu erbringen (Wehrhan in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 54 Rn. 13 ff). Ein solcher Fall liegt hier vor.

Die Klage auf Verzinsung der für den Therapiestuhl verauslagten Kosten ist nicht statthaft. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Verzinsung eines Nachzahlungsbetrages kann sich allenfalls aus § 44 SGB I ergeben. In Verfahren, die Sozialleistungsansprüche vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit betreffen, fallen keine Prozesszinsen entsprechend § 291 BGB an (so für Erstattungsansprüche der Sozialleistungsträger untereinander BSG Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 10/10 R). Die Beklagte hat eine Verwaltungsentscheidung nach § 44 SGB I über den Zinsanspruch des Klägers, der erst währen des Klageverfahrens geltend gemacht worden ist, nicht getroffen (zur Erforderlichkeit einer Verwaltungsentscheidung über den Zinsanspruch BSG Urteil vom 03.07.2020 – B 8 SO 5/19 R; Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl. 2021, § 44 Rn. 52 f.). 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Auf eine Kostenquotelung hat der Senat verzichtet, weil dem begründeten Kostenerstattungsanspruch im Verhältnis zum unzulässigen Zinsanspruch ein überragendes Gewicht beizumessen ist (vgl. LSG Thüringen Beschluss vom 11.09.2007 – L 1 B 110/07 SF). 

Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved