L 12 SO 640/18

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 133/18 WA
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 640/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 48/19 B
Datum
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 11.10.2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Streitig sind die Höhe der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) sowie die Frage, ob eine wirksame Klagerücknahmefiktion gegeben ist.

Der am 00.00.1973 geborene Kläger bezieht eine Rente wegen dauerhafter Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung Bund (Auszahlungsbetrag 641,70 € gemäß Rentenbescheid vom 01.07.2015; 640,26 € ab 01.03.2016 Rentenbescheid vom 12.02.2016). Auf seinen Antrag vom 05.10.2015 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 06.10.2015 Leistungen der Grundsicherung für den Monat Oktober 2015 in Höhe von 120,14 €. Die Gewährung von Grundsicherungsleistungen für den Monat November 2015 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.01.2016 ab, da der Kläger aufgrund des Einkommens aus einer Wohngeldnachzahlung (Bescheid vom 02.11.2015) in Höhe von 1.020 € in diesem Monat nicht bedürftig sei. Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2016 zurück. Die hiergegen geführte Klage wies das Sozialgericht Gelsenkirchen mit Gerichtsbescheid vom 30.08.2016 ab (Aktenzeichen S 2 SO 283/15). Leistungen für Dezember 2015 und Januar 2016 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 05.01.2016 in Höhe von insgesamt 285,27 €. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und bemängelte, dass die geringere Rentenauszahlung für Dezember 2015 nicht berücksichtigt worden sei. Für den Monat Januar 2016 seien die neuen Pauschalen nicht beachtet worden, außerdem sei keine Bewilligung für November 2015 und ab Februar 2016 erfolgt. Mit Bescheid vom 03.02.2016 erfolgte u.a. für die Monate Dezember 2015 bis Januar 2016 eine Rückrechnung hinsichtlich des Mehrbedarfs für die dezentrale Warmwasserversorgung mit einer entsprechenden Nachzahlung und eine Leistungsbewilligung für die Monate Februar bis März 2016. Darin berechnete die Beklagte unter Berücksichtigung eines Gesamtbedarfs in Höhe von 836,42 € bzw. ab Januar 2016 in Höhe von 841,53 € (Regelsatz 399 € (ab Jan. 2016: 404 €), Mehrbedarf Warmwasser 9,18 € (ab Jan. 2016: 9,29 €), Beitrag Krankenversicherung 37,70 €, Beitrag Pflegeversicherung 5,89 €, Zusatzbeitrag Krankenversicherung 1,81 € und Unterkunftskostenanteil 382,84 €) und einer Erwerbsminderungsrente in Höhe von 641,70 € einen monatlichen Leistungsanspruch des Klägers in Höhe von 194,72 € bzw. ab Januar 2016 in Höhe von 199,83 €. Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und machte u.a. unter Bezugnahme auf die von ihm vorgelegten Kontoauszüge geltend, dass es für einen einzelnen Monat zu einer Abweichung in der Zahlungshöhe der Rente gekommen sei, regulär würden 641,70 € gezahlt. Dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.01.2016 half die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.04.2016 (Geschäftszeichen 50/1.221-RS-4126/0652) teilweise ab und errechnete aufgrund einer Neuberechnung der Leistungsansprüche für die Monate Dezember 2015 und Januar 2016 unter Berücksichtigung der bislang ausgezahlten Beträge eine Nachzahlung in Höhe von insgesamt 78,80 €. Den weitergehenden Widerspruch wies die Beklagte als unbegründet zurück. Wegen der Einzelheiten zu den Berechnungen und zu den Gründen wird auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen. Mit Bescheid vom 23.02.2016 änderte die Beklagte die Leistungen ab März 2016 im Hinblick auf die geänderte Rentenzahlung und ab Januar 2016 im Hinblick auf die Anpassung der Krankenversicherungsbeiträge ab. Den Widerspruch hinsichtlich des Bescheides vom 03.02.2016 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.04.2016 (Geschäftszeichen 50/1.21-RS-4126/0656) als unbegründet zurück. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen.

Der Kläger hat zu beiden Verfahren am 12.05.2016 Klage vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen erhoben (zum Widerspruchsbescheid vom 22.04.2016 mit Geschäftszeichen 50/1.21-RS-4126/0652 siehe Berufungsverfahren L 12 SO 641/18). In seiner Begründung zum hier zugrunde liegenden Klageverfahren (S 2 SO 135/16) ist ausgeführt, dass sich seine Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 22.04.2016 mit dem Geschäftszeichen 50 121 RS 4126/0656 richte. Er bemängelte, dass die Beklagte die Vorlage von Unterlagen verlange, die ihr bereits vorliegen würden. Dazu sei ihm das Wohngeld ein Jahr vorenthalten worden. Nun würde die Nachzahlung angerechnet, was unzulässig sei. Im Dezember hätten 145 € gefehlt und weitere 75 €, die die Rentenversicherung in Abzug gebracht habe.

Die Beklagte erwiderte, dass dem Antrag des Klägers voll entsprochen worden und der Zweck der Klage nicht klar sei. Das Sozialgericht forderte den Kläger mit Verfügung vom 26.07.2016 auf, sein Klagebegehren klarzustellen. An die Erledigung dieser gerichtlichen Verfügung erinnerte das Sozialgericht den Kläger mit Verfügung vom 20.09.2016. Daraufhin erschien der Kläger am 07.10.2016 auf der Geschäftsstelle des Sozialgerichts und erklärte, er könne sich die Erinnerungen vom 26.07.2016 und 20.09.2016 nicht erklären. Das Sozialgericht wies den Kläger sodann schriftlich darauf hin, dass das mit dieser Klage verfolgte Klageziel nicht nachvollziehbar sei, und fragte ihn, welche Leistung konkret begehrt werde. Der Kläger erklärte am 16.10.2016 schriftlich, dass er seine Klage ordentlich in deutscher Sprache verfasst und die Aufhebung und Abänderung eines Widerspruchsbescheides zur Frage aufgeworfen habe. Der Widerspruchsbescheid sei auch konkret bezeichnet worden; am 07.12.2016 ergänzte er seine Ausführungen hierzu. Mit Schriftsatz vom 09.05.2017 legitimierten sich Prozessbevollmächtigte für den Kläger und baten um Akteneinsicht. Diese wurde nachfolgend gewährt. Sodann forderte das Sozialgericht die Prozessbevollmächtigten am 26.09.2017 auf, das Klagebegehren nun substantiiert darzulegen; hieran wurden sie mit Verfügungen vom 07.11.2017 und 07.12.2017 erfolglos erinnert.

Mit Verfügung vom 18.01.2018, die mit vollständiger Unterschrift durch die Kammervorsitzende gezeichnet ist und die in beglaubigter Form den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 25.01.2018 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt worden ist, forderte das Sozialgericht zum Betreiben des Verfahrens gemäß § 102 Abs. 2 SGG auf, insbesondere, das Klagebegehren substantiiert darzulegen und verwies auf die richterliche Verfügung vom 26.09.2017.

Die Prozessbevollmächtigten baten unter dem 13.04.2018, die gesetzten Fristen bis zum 04.05.2018 aufgrund starken Arbeitsanfalles zu verlängern. Gleichzeitig beantragten sie nochmals Akteneinsicht. Das Sozialgericht teilte den Prozessbevollmächtigten unter dem 16.04.2018 mit, dass die von dem Gericht durch Betreibensaufforderung gemäß § 102 Abs. 2 SGG gesetzte Frist nicht verlängert werde. Es stehe ihnen frei, das Verfahren zu betreiben. Ein erneuter Versand der Akten käme nicht in Betracht, da sie die Akten mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erst am 26.09.2017 an das Gericht zurückgesandt hätten. Außerdem enthalte die Akte seither mangels Betreibens keinen neuen Inhalt.

Am 27.04.2018 hat das Sozialgericht das Klageverfahren als durch Klagerücknahme erledigt ausgetragen und die Beteiligten mit Schreiben vom gleichen Tage hierüber informiert. Am 24.05.2018 meldete sich der Kläger schriftlich und erklärte, es sei keine Klage zurückgenommen worden. Außerdem erinnerte er an die Bescheidung seines Prozesskostenhilfeantrages. Das Sozialgericht hat das Verfahren am gleichen Tag unter dem Aktenzeichen S 2 SO 133/18 WA wiederaufgenommen. Ferner hat es mit Beschluss vom 11.06.2018 den Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Dieser Beschluss ist den Prozessbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 14.06.2018 zugestellt worden.

Das Sozialgericht hat sodann mit Urteil vom 11.10.2018 festgestellt, dass die am 12.05.2016 erhobene Klage zurückgenommen ist. Die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG sei eingetreten, so dass das Verfahren nicht fortzusetzen gewesen sei. Es sei entsprechend festzustellen, dass das Klageverfahren S 2 SO 135/16 durch fiktive Klagerücknahme seine Beendigung gefunden habe. Die Betreibensaufforderung sei auch wirksam. Vorliegend habe das Gericht dem Kläger mit Verfügung vom 18.01.2018 mitgeteilt, woraus es seine Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses ziehe. Das Gericht habe den Kläger in dem Verfahren zunächst mehrfach aufgefordert, sein Klagebegehren zu substantiieren. Auch die Prozessbevollmächtigten hätten auf die Aufforderung, substantiiert zur Klageerwiderung Stellung zu nehmen, trotz Erinnerung nicht reagiert. Auf die Einzelheiten der Gründe wird Bezug genommen. 

Der Kläger hat hiergegen am 05.11.2018 Berufung eingelegt und das Urteil des Sozialgerichts als Fehlurteil bezeichnet. Eine Begründung erfolge nicht und sei der mündlichen Verhandlung vorbehalten.

Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie nimmt zur Begründung auf die Ausführungen des Sozialgerichts Bezug, denen sie sich in vollem Umfang anschließe.

Der Senat hat die Beteiligten unter dem 09.01.2019 darauf hingewiesen, dass er die Berufung für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Es sei beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 05.02.2019 erhalten. Der Kläger hat hierauf erklärt, dass kein Anlass bestehe, irgendwelche Berufungen zurückzunehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Beklagten genommen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG entscheiden, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und deshalb eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu angehört worden.

Der Kläger hat keinen Antrag im Berufungsverfahren gestellt und diese mit Ausnahme der Bezeichnung des sozialgerichtlichen Urteils „Fehlurteil“ auch nicht weiter begründet. Anhand dieses Vorbringens und des schriftlichen Vortrags im erstinstanzlichen Verfahren sowie im Verwaltungsverfahren ist das Begehren des Klägers dahingehend auszulegen, dass er mit der Feststellung des Sozialgerichts, die Klage sei durch fiktive Klagerücknahme erledigt, nicht einverstanden ist, und er an seinem erstinstanzlichen Klagevorbringen, das sich gegen die Anrechnung von Einkommen auf seine Leistungsansprüche richtete, festhält.

Die Berufung ist im Sinne von §§ 143, 144 SGG statthaft und zulässig. Sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt. Auch wird der Berufungsstreitwert vorliegend erreicht. Dieser beträgt nach § 144 Abs. 1 S. 1 SGG 750 €. Bei Berufungen, die sich gegen die Feststellung eines Sozialgerichts wenden, der Rechtsstreit sei erledigt, ist § 144 Abs. 1 SGG mit der Maßgabe zu prüfen, was Streitgegenstand des ursprünglichen Klageverfahrens war (vgl. BSG Urteil vom 10.10.2017, B 12 KR 3/16 R, juris Rn. 12; Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt Urteil vom 30.01.2013, L 5 AS 347/12; s. auch Senatsurteil vom 30.01.2019, L 12 AS 452/18). Der Kläger wendete sich in dem zugrundeliegenden Klageverfahren gegen die Anrechnung von Einkommen auf die Leistungen nach dem SGB XII, hier insbesondere gegen die Anrechnung der Rentenzahlung und einer Nachzahlung aus Wohngeld im November 2015, was zum vollständigen Wegfall des Leistungsanspruchs geführt hat. Seinen Gesamtbedarf zugrunde gelegt (841,53 € gemäß Bescheid vom 03.02.2016) wird allein hierdurch bei Nichtberücksichtigung seines Einkommens (Rente und Wohngeld) im November 2015 der Berufungsstreitwert überschritten.

Die Berufung des Klägers ist jedoch unbegründet. Zwar hat das Sozialgericht zu Unrecht angenommen, dass die Klage des Klägers durch die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG beendet sei (siehe hierzu unter 1)). Allerdings hat die Berufung des Klägers dennoch keinen Erfolg. Seine Klage ist unzulässig, soweit sie sich auf den Monat November 2015 bezieht, und unbegründet, soweit sie sich auf die Monate Dezember 2015 bis März 2016 bezieht (siehe hierzu unter 2 a) und b)).

1) Das Klageverfahren des Klägers mit dem Aktenzeichen S 2 SO 135/16 ist nicht durch fiktive Klagerücknahme beendet worden. Nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Eine solche fiktive Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs. 2 S. 2 SGG i.V.m. Abs. 1 S. 2 der Vorschrift). Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 S. 3 SGG).

Zwar genügt die Betreibensaufforderung des Sozialgerichts den formellen Anforderungen, da sie mit vollem Namen der Kammervorsitzenden unterschrieben ist, die beglaubigte Abschrift dies erkennen lässt und sie (wirksam) zugestellt worden ist. Die Zustellung durch persönliche Übergabe an eine Vertretungsberechtigte in dem Geschäftsraum der Prozessbevollmächtigten ist dokumentiert durch die Postzustellungsurkunde vom 25.01.2018.

Jedoch liegen die Voraussetzungen für eine Rücknahmefiktion nicht vor (vgl. hierzu Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Beschluss vom 17.09.2012, 1 BvR 2254/11; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) Beschluss vom 29.09.2014, L 19 AS 1532/14 B). Die Rücknahmefiktion greift in das Prozessgrundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) bzw. in die entsprechenden Verfahrensgehalte der im Einzelfall betroffenen materiellen Grundrechte ein. Zwar ist dies grundsätzlich zulässig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschlüsse vom 27.10.1998, 2 BvR 2662/95 und 17.09.2012, 1 BvR 2254/11) darf ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Das BVerfG hat zugleich aber betont, dass Vorschriften über eine Fiktion der Klagerücknahme Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (vgl. BSG Urteil vom 01.07.2010, B 13 R 58/09 R m.w.N.). Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 S. 1 SGG dient nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder für ein unkooperatives Verhalten eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG Beschluss vom 17.09.2012, 1 BvR 2254/11). § 102 Abs. 2 S. 1 SGG bezweckt indes nicht, einen Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern dient (nur) der Klärung aufgekommener Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses (BVerfG Beschluss vom 17.09.2012 1 BvR 2254/11; LSG NRW Beschluss vom 22.01.2016, L 19 AS 1863/15 B).

Gemessen an diesen Vorgaben ist aus der Gesamtschau des Ablaufes des erstinstanzlichen Klageverfahrens nicht zu erkennen, dass das Rechtsschutzinteresse des Klägers weggefallen ist. Der Kläger hat mit Schreiben vom 29.04.2016 Klage erhoben, darin den angefochtenen (Widerspruchs-)Bescheid vom 22.04.2016 unter Angabe des Geschäftszeichens und seine Argumente zur Begründung seiner Klage angeführt. Das Sozialgericht hat den Kläger mit gerichtlicher Verfügung vom 26.07.2016 aufgefordert, sein Begehren klarzustellen. Auf die Erinnerung vom 20.09.2016 erschien der Kläger am 07.10.2016 persönlich auf der Geschäftsstelle des Sozialgerichts und gab eine Erklärung ab. Nachdem das Sozialgericht den Kläger nochmals aufforderte, sein Klageziel darzulegen, reagierte er abermals am 16.10.2016; dies unabhängig von der Frage, ob eine sachgerechte Einlassung erfolgte. Der Kläger gab gegenüber dem Sozialgericht an, dass er doch den Widerspruchsbescheid konkret bezeichnet habe. Am 07.12.2016 ergänzte er seine Ausführungen. Ebenso lässt die Beauftragung einer Kanzlei durch den Kläger keinen Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses erkennen: Am 09.05.2017 zeigte die Kanzlei ihre Interessenvertretung gegenüber dem Gericht an und beantragte Akteneinsicht, die ihr auch gewährt wurde.

Soweit das Sozialgericht danach den Kläger über seine Prozessbevollmächtigten zu einer substantiierten Klageerwiderung aufgefordert hat, genügt dies, trotz der fehlenden Reaktion der Prozessbevollmächtigten, die sich der Kläger grundsätzlich zurechnen lassen müsste (vgl. § 85 Zivilprozessordnung), nicht, um gemessen an der Rechtsprechung des BVerfG von einem weggefallenen Rechtsschutzinteresse ausgehen zu können. Insofern kann dahinstehen, dass die vom Sozialgericht mit Schreiben vom 18.01.2018 gesetzte Frist von drei Monaten ohne wesentliche Reaktion geblieben ist. Wesentlicher Anlass für die Annahme des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses ist aus Sicht des Sozialgerichts gewesen, dass der Kläger keine substantiierte Klageerwiderung eingereicht hat. Allein dieses Nichtstun, wenn es denn überhaupt zu diesem Zeitpunkt vorgelegen hat, war jedenfalls nicht im Sinne eines entfallenen Rechtsschutzbedürfnisses zu verstehen. Das Klagebegehren des Klägers war ausleg- und prüfbar. Diese Tatsache ergibt sich eindeutig aus seinem Vortrag: Der Kläger meint, u.a., dass das Einkommen aus seiner Rente insbesondere für den Monat November 2015 seitens der Beklagten falsch angesetzt worden ist. Angesichts des vorherigen ausreichenden Betreibens lagen demnach keine bestimmten, sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses vor (vgl. LSG NRW Urteil vom 19.05.2017, L 17 U 315/16; LSG NRW Urteil vom 20.04.2011, L 9 SO 48/09).

Liegen die Voraussetzungen für eine Klagerücknahmefiktion – wie hier – nicht vor, ist der Rechtsstreit fortzusetzen. Der Senat hat daher in der Sache entschieden. Sein Ermessen im Sinne von § 159 Abs. 1 SGG übt der Senat dahingehend aus, von einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht abzusehen. Nach dieser Vorschrift kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn 1. dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, und/oder 2. das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Im Rahmen von § 159 SGG entscheidet das Landessozialgericht unter den Voraussetzungen des Abs. 1 von Amts wegen nach Ermessen, ob es in der Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Dabei sind die Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits abzuwägen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 159 Rn. 5).

Der Anwendungsbereich des § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist hier grundsätzlich eröffnet, denn das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis abgewiesen, ohne in der Sache zu entscheiden. Wenn Streit über die Beendigung eines Verfahrens besteht, sieht das Gesetz kein gesondertes Wiederaufnahmeverfahren vor. Das Gericht muss in einem solchen Fall das Verfahren fortsetzen und mit Urteil abschließend entscheiden, entweder im Sinne eines (End-)Urteils mit Feststellung der wirksamen Beendigung des Rechtsstreits (etwa durch Vergleich oder Klagerücknahme) oder im Sinne einer Entscheidung in der Sache (vgl. BSG Urteil vom 28.11.2002, B 7 AL 26/02 R, juris Rn. 20). Die Entscheidung über die Wirksamkeit von Klagerücknahme bzw. Klagerücknahmefiktion ist daher untrennbar mit dem ursprünglichen Klageverfahren verbunden. Hat das Sozialgericht mit Urteil oder Gerichtsbescheid die Wirksamkeit der Klagerücknahmefiktion festgestellt, wird durch die Berufung das gesamte Klageverfahren im selben Umfang in der Berufungsinstanz anhängig wie vor dem Sozialgericht (sog. Devolutiveffekt; vgl. Bayerisches LSG Urteil vom 14.12.2016, L 2 P 19/15). Die Entscheidung, durch die die Beendigung des Verfahrens festgestellt wird, ist als eine die Sachentscheidungsvoraussetzungen verneinende Prozessentscheidung mit denselben Rechtsmitteln angreifbar, die gegen eine Entscheidung in der Sache selbst gegeben wären (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage 2014, § 92 Rn. 29). Soweit vertreten wird, dass die Klage beim Sozialgericht mangels wirksamer Klagerücknahme rechtshängig geblieben sei und sich eine Entscheidung über eine Zurückverweisung daher erübrige, teilt der Senat diese Auffassung nicht (ebenso Bayerisches LSG Urteil vom 14.12.2016, L 2 P 19/15 m.w.N.; s.auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 31.01.2017, L 7 BK 5/16; a.A. LSG NRW Urteil vom 10.03.2016, L 6 AS 1546/14; LSG NRW Urteil vom 19.05.2017, L 17 U 315/16; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.03.2017, L 18 AS 2584/16; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.04.2013, L 5 KR 605/12; LSG Sachsen Urteil vom 28.02.2013, L 7 AS 523/09; LSG Bayern Urteil vom 12.07.2011, L 11 AS 582/10, Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 159 Rn. 3b). Aus der Rechtshängigkeit der Klage im Sinne von § 94 SGG lässt sich nicht ohne weiteres auf die Zuständigkeit der Instanz schließen. Die Entscheidung des Sozialgerichts, dass die Klage zurückgenommen sei, ist ebenso eine instanzbeendende Entscheidung, wie das Prozessurteil aus Gründen der nicht fristgerecht erhobenen Klage. In beiden Fallgestaltungen bezieht sich die Rüge im Ergebnis auf die Anwendung von prozessrechtlichen Vorschriften und damit in der Sache auf einen Verfahrensmangel (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) Beschluss vom 12.04.2001, 8 B 2/01, juris Rn. 3). Nach Auffassung des Senats wird daher der gesamte Rechtsstreit mit all seinen Fragestellungen mit der Berufung in die Zuständigkeit der Berufungsinstanz gegeben. Daraus folgt zugleich, dass § 159 Abs. 1 SGG grundsätzlich Anwendung findet.

Der Senat übt das ihm nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG eingeräumte Ermessen jedoch dahingehend aus, den Rechtsstreit nicht an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Der Rechtsstreit ist entscheidungsreif, weswegen der Senat einer schnellen Sachentscheidung den Vorzug gibt.

Streitgegenstand des Klageverfahrens ist der Widerspruchsbescheid vom 22.04.2016 mit dem Geschäftszeichen 50 121 RS 4126/0656. Mit diesem Widerspruchsbescheid hat die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 03.02.2016 zurückgewiesen. Dieser Bescheid erstreckt sich über den Leistungszeitraum vom 01.12.2015 bis zum 31.03.2016.

Vor diesem Hintergrund wird hinsichtlich des mit der Klage ebenfalls beanstandeten Monats November 2015 sowie hinsichtlich der Monate Dezember 2015 und Januar 2016 vollinhaltlich auf das Urteil des Senats vom 22.05.2019 in dem Verfahren L 12 SO 641/18 Bezug genommen. Danach ist die Klage bezüglich des Monats November 2015 bereits unzulässig und hinsichtlich der weiteren Monate unbegründet. Das gilt in gleicher Weise für die Monate Februar 2016 und März 2016. Auch für diese ist keine Beschwer des Klägers ersichtlich. Die Beklagte hat den Regelsatz in Höhe von 404 € und die weiteren Bedarfe zutreffend berechnet. Mit Bescheid vom 23.02.2016 hat sie die geringfügig abgesenkte Rentenzahlung ab März 2016 und geänderte Beitragssätze für die Kranken- und Pflegeversicherung ab Januar 2016 berücksichtigt. Ebenso ist ein Mehrbedarf für die Warmwasserzeugung erfasst. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind in tatsächlicher Höhe berücksichtigt. Eine beabsichtigte Kostensenkung nach entsprechender Aufforderung ist ausweislich der Verwaltungsakte erst zum April 2016 relevant geworden. Der vorliegende Sachverhalt bietet daher keinen Anlass für eine weitergehende Prüfung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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