Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 17.03.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 01.09.2012 bis 31.12.2013.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 12.09.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.01.2013 hatte die Beklagte Leistungen nach dem SGB II nach § 66 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) für die Zeit vom 01.09.2012 bis 28.02.2013 versagt, mit bestandskräftigem Bescheid vom 22.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2013 für die Zeit vom 01.03.2013 bis 30.06.2013 sowie mit bestandskräftigem Bescheid vom 04.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2013 für die Zeit vom 01.07.2013 bis 31.12.2013. Die Bescheide haben ihre Bestandskraft jeweils nach Klage- und Berufungsverfahren und unter Anrufung des Bundessozialgerichts bzw. Bundesverfassungsgerichts erlangt.
Mit Schreiben vom 27.12.2019, laut Eingangsstempel in der Verwaltungsakte der Beklagte eingegangen am 02.01.2020, beantragte der Kläger unter der Überschrift „Nachträgliche Leistungserbringung (§ 67 SGB I)“, ihm Leistungen nach dem SGB II nachträglich für die Zeit vom 01.09.2012 bis 28.02.2013, 01.03.2013 bis 30.06.2013 und 01.07.2013 bis 31.12.2013 zu bewilligen. Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB X seien die Verwaltungsakte, mit denen die Leistungen für diesen Zeitraum versagt worden seien, aufzuheben, da die Versagung ihn in seinen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletze. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 – BvL 7/16 – und sei auch vor dem Urteil schon so gewesen. Das Gericht habe klar ausgeführt, dass nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Kürzung der Regelleistungen nach dem SGB II um maximal 30% erfolgen dürfe. Eine Versagung von Beiträgen zur Krankenversicherung und der Kosten der Unterkunft sei demnach nicht möglich und verfassungswidrig. Die für die Bewilligung damals geforderten Unterlagen werde er unaufgefordert nachreichen und damit die Mitwirkung nachholen. Nach Sinn und Zweck der §§ 66, 67 SGB I sei das Ziel der Vorschrift dann erreicht und Leistungen auch für die Vergangenheit zu bewilligen. Damit werde dann auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt.
Die Beklagte teilte dem Kläger mit Bescheid vom 17.02.2020 für den Zeitraum vom 01.09.2012 bis 28.02.2013 mit, dem Antrag könne nicht entsprochen werden. Unterlagen seien in dem Antrag zwar angekündigt, aber nicht nachgereicht worden. Zudem liege der Zeitraum, für den die Nachbewilligung begehrt werde, sieben Jahre zurück. In den letzten sechs Jahren seien auch keine Mitwirkungen bezüglich Eingliederungsaktivitäten ersichtlich gewesen. Es werde mit diesem Schreiben auf die Folgen fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I hingewiesen und dahingehend Ermessen ausgeübt, dass die schutzwürdigen Interessen der Allgemeinheit an einer richtigen und rechtmäßigen SGB II-Leistungsgewährung höher einzustufen seien als sein Interesse an dem Bezug öffentlicher Sozialleistungen. Denn die geforderten Unterlagen seien nicht eingereicht worden und es habe daher keine Möglichkeit zur Entscheidung bestanden. Die Leistungen seien wegen fehlender Mitwirkung zu versagen.
Mit im Wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 18.02.2020 und 19.02.2020 lehnte die Beklagte den Antrag auch für die Zeiträume vom 01.03.2013 bis 30.06.2013 und vom 01.07.2013 bis 31.12.2013 ab.
Der Kläger legte gegen die Bescheide mit Schreiben vom 12.03.2020 Widerspruch ein. Die drei Bescheide seien dem Sachverhalt nicht individuell angepasst, sondern lediglich aus einzelnen Textbausteinen für die „normale Versagung“ zusammengesetzt worden. Es sei gar kein gesonderter Hinweis auf die Folgen der fehlenden Mitwirkung ergangen, sondern direkt die Versagung. Das sei willkürlich und manipulativ, die Bescheide seien rechtswidrig. Aufgrund der Vielzahl der noch von ihm geführten und weiterhin anhängigen Verfahren habe er noch keine Gelegenheit gehabt, die erforderlichen Unterlagen nachzureichen, werde dies aber unaufgefordert nach Erledigung der noch ausstehenden Verfügungen in ca. sechs Wochen tun.
Mit Schreiben vom 18.03.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dem Widerspruch können nicht entsprochen werden. Die Zeiträume lägen zu lange in der Vergangenheit. Auch ein Einreichen der Unterlagen ändere nichts an der Versagung. Es bleibe bei der Ablehnung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 18.05.2020 wies die Beklagte die Widersprüche gegen die drei Bescheide vom 17., 18. und 19.02.2020 als unbegründet zurück. Ein Anspruch auf Nachgewährung der Leistungen für die Zeit von September 2012 bis Dezember 2013 bestehe nicht. Zum einen seien die Forderungen nach § 45 SGB I verjährt. Ansprüche auf Sozialleistungen verjährten in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden seien. Hier sei die Geltendmachung im Dezember 2019 erfolgt und damit nach Verjährung. Auch ein Überprüfungsantrag komme nicht in Betracht. Nach § 40 Abs. 1 SGB II gelte § 44 SGB X mit der Maßgabe, dass die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nur innerhalb eines Jahres erfolgen könne statt der vier Jahre. Sowohl vier Jahre als auch ein Jahr seien bereits verstrichen. Das Bundesverfassungsgericht habe sich in seiner Entscheidung nur mit der Frage der Rechtmäßigkeit von Sanktionen befasst. Bei dem Kläger seien die Leistungen aber versagt worden, weil die Hilfebedürftigkeit wegen fehlender Mitwirkung nicht habe geklärt werden können. Verfassungsrechtliche Bedenken beständen nicht. Nach § 67 SGB I könnten Leistungen bei Nachholung der Mitwirkung nachgewährt werden. Hier sei eine Nachholung durch Vorlage der Unterlagen weiterhin nicht erfolgt. Eine Nachzahlung wäre zudem wegen Verjährung auch bei Vorlage abzulehnen. Soweit die Zeit von September 2012 bis Dezember 2013 noch rechtshängig sei, sei aus diesem Grund schon ein Anspruch auf Überprüfung ausgeschlossen.
Hiergegen hat der Kläger am 03.06.2020 Klage erhoben. Die Unterlagen habe er nicht mehr nachgereicht, weil die Beklagte ihm mit Schreiben vom 18.03.2020 mitgeteilt habe, dass ein Einreichen der Unterlagen vergebens wäre. Verjährung sei nicht eingetreten, da sie durch die im Hinblick auf die Zeiträume geführten Verfahren nach § 45 Abs. 2 SGB I iVm. § 204 BGB gehemmt gewesen sei. Die drei Zeiträume, für die er Leistungen begehre, seien im Zusammenhang zu sehen, da ihm wiederholt vorgeworfen worden sei, die abschließenden Angaben zum Einkommen nicht vorgelegt zu haben.
Mit Schreiben vom 06.01.2021 hat das Sozialgericht (SG) Münster die Beteiligten zu der Absicht, die Klage durch Gerichtsbescheid nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abzuweisen, angehört.
Der Kläger hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 17.02.2020, 18.02.2020 und 19.02.2020 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2020 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 01.09.2012 bis zum 31.12.2013 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Selbst wenn anzunehmen sei, dass die Verjährung durch die Klageverfahren gehemmt gewesen sei, bestehe erst recht kein Anspruch, außerhalb dieser Verfahren über diese Ansprüche zu entscheiden. Die Versagung sei vielmehr bestätigt worden. Zudem seien die geforderten Nachweise weiterhin nicht vorgelegt worden.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.03.2021 abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf den Inhalt der Entscheidung Bezug genommen.
Gegen den ihm am 18.03.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 13.04.2021 Berufung eingelegt. Die Beklagte habe mehrfach deutlich gemacht, dass ein Einreichen der geforderten Unterlagen nichts an der getroffenen Entscheidung ändern werde; daher habe er auch keine Unterlagen mehr eingereicht. Zudem seien Nachweise über seine Einnahmen bei der Beklagten und den Gerichten seit langem vorhanden gewesen. Die Beklagte habe selbst immer ausgeführt, er habe im gesamten Zeitraum seiner selbständigen Tätigkeit kein anrechenbares Einkommen erzielt. Mit dieser Begründung sei ihm auch das Einstiegsgeld und der Gründungszuschuss versagt worden. Der Antrag auf nachträgliche Leistungsbewilligung vom 27.12.2019 sei zudem als am 31.12.2019 zugegangen zu werten und nicht erst am 02.01.2020. Denn er habe mit einem Postweg von drei Tagen rechnen dürfen. Im Logistikzentrum Münster sei es aber zu Problemen und Verspätungen gekommen. Laut Statusmeldung der Deutschen Post sei sein Einschreiben sogar am 15.01.2020 noch im Logistikzentrum Münster gewesen und sein Nachforschungsauftrag habe ergeben, dass die Zustellung von Seiten der Deutschen Post gar nicht nachgewiesen werden könne.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich ausdrücklich,
- den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 17.03.2021 zum Verfahren S 11 AS 337/20 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Bescheide vom 17.02.2020, 18.02.2020 und 19.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2020 neu zu bescheiden und dem Kläger für die Zeit vom 01.09.2012 bis zum 31.12.2013 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
- Die begehrten Leistungen nach dem SGB II werden ab Anhängigkeit mit 5% über dem Basiszinssatz verzinst.
- Es wird festgestellt, dass zu werten ist, dass der Antrag des Klägers vom 27.12.2019 der Beklagten am 31.12.2019 zugestellt wurde.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den Gerichtsbescheid für zutreffend. Ein Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X sei nicht mehr in Betracht gekommen, da eine Rücknahme nach § 40 Abs. 1 SGB II nur innerhalb eines Jahres statt der vier Jahre erfolgen könne. Sowohl vier Jahre als auch ein Jahr seien bei Antragstellung verstrichen gewesen. Zudem seien etwaige Ansprüche auch nach § 45 SGB I verjährt gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese Akten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in der Streitsache entscheiden, obwohl für den Kläger niemand zum Termin erschienen ist, denn der Kläger ist mit Postzustellungsurkunde, die am 29.12.2021 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt wurde, geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.
A. Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Dabei war die Klage, wie vom SG zutreffend angenommen, neben der ausdrücklich vom Kläger begehrten Aufhebung der angefochtenen Bescheide auch auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.09.2012 bis 31.12.2013 gerichtet. Insoweit war sein schriftsätzlicher Antrag nach § 123 SGG iVm § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auszulegen. Die Bescheide vom 17.02.2020, 18.02.2020 und 19.02.2020 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2020 sind jedoch rechtmäßig und beschweren den Kläger nicht (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Er hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.09.2012 bis 31.12.2013.
I. Der Kläger begehrt mit seinem Klageantrag zu 1. die Aufhebung der Bescheide im Wege der zulässigen Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 SGG. Im Hinblick auf seinen mit Schreiben vom 27.12.2019 gestellten Antrag auf nachträgliche Leistungserbringung nach § 67 SGB I hat er diese Anfechtungsklage zulässigerweise mit einer Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG kombiniert.
Die Voraussetzungen des § 67 SGB I liegen nicht vor. In § 67 SGB I heißt es: „Wird die Mitwirkung nachgeholt und liegen die Leistungsvoraussetzungen vor, kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 versagt hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen.“ Hier liegt schon die nachgeholte Mitwirkungshandlung nicht vor. Der Kläger hat zwar im Schreiben vom 27.12.2019 und in seinem Widerspruchsschreiben vom 12.03.2020 die Einreichung der Unterlagen angekündigt, wegen deren Fehlens die Leistungen im streitgegenständlichen Zeitraum versagt worden waren. Dem eindeutigen Wortlaut zufolge reicht jedoch alleine die Bereiterklärung zur Mitwirkung grundsätzlich nicht aus. Die Nachholung setzt vielmehr voraus, dass die Mitwirkungshandlung tatsächlich erfolgt ist (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 67 Rn. 15). Dass die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 18.03.2020 mitgeteilt hat, das Nachreichen der Unterlagen führe nicht zur Leistungsbewilligung, ändert nichts an der Tatsache, dass die Mitwirkungshandlung nicht nachgeholt wurde und daher eine der Voraussetzungen für eine erneute Entscheidung der Beklagten nach § 67 SGB I nicht vorliegt. Über die Frage, was gewesen wäre, wenn der Kläger tatsächlich die seit 2012 ausstehenden Unterlagen noch im Widerspruchsverfahren eingereicht hätte, hat der Senat nicht zu entscheiden.
Neben der nachträglichen Leistungserbringung nach § 67 SGB I begehrt der Kläger die Leistungen für den streitgegenständlichen Zeitraum auch auf der Grundlage des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), in dem er sich mit der Begründung, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe eine Kürzung der SGB II-Regelleistung nur um maximal 30% gebilligt, gegen die bestandskräftigen Versagungsbescheide aus 2012 und 2013 wendet. Im gerichtlichen Verfahren ist zutreffende Klageart gegen eine Entscheidung nach § 66 SGB I die Anfechtungsklage, die im Falle der Leistungsversagung grundsätzlich nicht mit einer Leistungsklage verbunden werden kann, da eine Verwaltungsentscheidung über den Leistungsanspruch nicht getroffen worden ist. Die Ablehnung eines Leistungsantrags wegen fehlender Mitwirkung führt nur zur Überprüfung der Versagungsvoraussetzungen des § 66 SGB I, mangels einer Sachentscheidung der Behörde über das Leistungsbegehren aber nicht zu einer Prüfung der materiellrechtlichen Voraussetzungen (Voelzke, aaO, § 66 Rn. 73 mwN). Nichts anderes gilt, wenn die Versagungsbescheide im Wege eines Überprüfungsantrags (erneut) angegriffen werden. Auch dann würde das Obsiegen nur zu einer Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme der Versagungsbescheide, nicht aber zu einer Leistungsgewährung führen. Der Kläger kann daher eine Rücknahme der Versagungsbescheide zulässigerweise nur durch eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 SGG erreichen, eine Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 SGG wäre nicht zulässig.
Als Rechtsgrundlage einer Überprüfung von Versagungsbescheiden kann, wie vom Kläger vorgetragen, § 44 SGB X in Betracht gezogen werden (für eine Anwendbarkeit von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X auch auf Versagungs- und Entziehungsbescheide LSG Neustrelitz, Urteil vom 29.11.2018 – L 8 AS 354/16 –, juris Rn. 38ff.; offen gelassen BSG, Beschluss vom 18.11.2019 – B 14 AS 6/19 BH -, juris Rn. 3; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11.09.2013 – L 6 U 22/12 –, juris Rn. 46). Im vorliegenden Fall ist jedoch eine Überprüfung und ein Anspruch auf Rücknahme der Versagungsbescheide ungeachtet ihrer Rechtswidrigkeit bereits deshalb ausgeschlossen, weil angesichts der Verfallregelungen des § 44 Abs. 4 SGB X iVm. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II - auch nach erneuter Prüfung der Leistungsvoraussetzungen durch die Beklagte - keine Leistungsnachzahlung mehr erfolgen könnte. Durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG; Urteil vom 23.02.2017 – B 4 AS 57/15 R -, juris Rn. 23 mwN) ist geklärt, dass die Verwaltung schon keine Rücknahmeentscheidung nach § 44 Abs. 1 SGB X mehr zu treffen hat, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung keine Wirkungen mehr entfalten kann, also ausschließlich Leistungen für Zeiten betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegen. Die Unanwendbarkeit der Vollzugsregelung des § 44 Abs. 4 SGB X, also die nicht mehr vorhandene Möglichkeit einer rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen, steht dann auch einer isolierten Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheides nach § 44 Abs. 1 SGB X entgegen. Die Rücknahme steht mithin unter dem Vorbehalt, dass Sozialleistungen nach § 44 Abs. 4 SGB X noch zu erbringen sind, was auch bei der Verkürzung der rückwirkenden Leistungserbringung auf einen Zeitraum bis zu einem Jahr nach § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB X gilt (BSG, Beschluss vom 18.11.2019 – B 14 AS 6/19 BH –, juris Rn. 3; Urteil vom 12.10.2016 – B 4 AS 37/15 R –, juris Rn. 16).
Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X iVm. § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II Grundsicherungsleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu einem Jahr vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakte zurückgenommen wird, § 44 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Erfolgt die Rücknahme – wie hier – auf Antrag, tritt gemäß Satz 3 bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
Ausgehend von dem Eingang des Überprüfungsantrags bei der Beklagten am 02.01.2020 wären Leistungen mithin frühestens ab 01.01.2019 nachzuzahlen. Geht man mit dem Kläger von einem Eingang noch im Dezember 2019 aus, wären Leistungen frühestens ab 01.01.2018 nachzuzahlen. In beiden Fällen betreffen die Versagungsbescheide den Zeitraum nicht. Da aufgrund der Verfallsregelung schon keine Leistungsnachzahlung erfolgen darf, kommt es auf die Frage der Verjährung der Leistungsansprüche für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht an.
Eine Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 17.02.2020, 18.02.2020 und 19.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.05.2020 kommt auch nicht aus dem Grund in Betracht, dass die Beklagte dem mit Schreiben vom 27.12.2019 gestellten Antrag des Klägers zunächst mit der Begründung nicht entsprochen hat, dass Leistungen nach § 66 SGB I wegen fehlender Mitwirkung zu versagen seien. Denn Klagegegenstand ist nach § 95 SGG der angefochtene Verwaltungsakt in der Gestalt, den er durch den Widerspruchbescheid gefunden hat. Verwaltungsakt und Widerspruchsbescheid bilden eine prozessuale Einheit (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, § 95 Rn. 2, 7). Die Widerspruchsstelle entscheidet in der Sache stets neu. Sie kann den angefochtenen Verwaltungsakt mit anderen Gründen aufrechterhalten, den Widerspruch zurückweisen, den Verwaltungsakt aufheben, ändern oder ersetzen (B. Schmidt, aaO, § 85 Rn. 4a). Nach § 41 Abs. 2 SGB X kann die Begründung des Widerspruchsbescheides noch bis zur letzten Tatsacheninstanz nachgeholt werden, wobei die Nachholung auch durch den Vortrag im Prozess erfolgen kann (B. Schmidt, aaO, § 85 Rn. 7c). Im vorliegenden Fall ist dem Antrag des Klägers mit den Bescheiden vom 17.02.2020, 18.02.2020 und 19.02.2020 mit der (fehlerhaften) Begründung nicht entsprochen worden, die Leistungen seien zu versagen. Der Widerspruch dagegen ist zurückgewiesen worden; in der Begründung hat die Beklagte dann zutreffend die vom Kläger geltend gemachten Regelungen des § 67 SGB I und § 44 SGB X geprüft und die Ablehnung insoweit - mit anderen Gründen – aufrechterhalten. Dieses Vorgehen ist nicht zu beanstanden.
II. Das Begehren des Klägers zu Ziffer 2 seines Antrags, die Beklagte zu einer Verzinsung etwaiger rückständiger Leistungen zu verpflichten, ist bereits – unabhängig von dem nicht bestehenden Zahlungsanspruch - unstatthaft. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Verzinsung eines Nachzahlungsbetrages kann sich allenfalls aus § 44 SGB I ergeben, da in Verfahren betreffend Sozialleistungsansprüche vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit keine Prozesszinsen entsprechend § 291 BGB anfallen (vgl. BSG, Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 10/10 R). Eine Entscheidung der Beklagten über einen Zinsanspruch des Klägers nach § 44 SGB I ist bisher nicht ergangen. Damit ist die Klage als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 2 und 4 SGG wegen des Fehlens eines Verwaltungsaktes unzulässig. Der Kläger kann sein Begehren auch nicht in Form einer reinen Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG verfolgen, da zwischen ihm und der Beklagten hinsichtlich des Zinsanspruchs aus § 44 SGB I kein Gleichordnungsverhältnis besteht (vgl. LSG NRW, Urteil vom 12.01.2012 – L 19 AS 1473/11).
III. Auch der Antrag zu 3., mit dem der Kläger die Feststellung begehrt, dass sein Antragsschreiben vom 27.12.2019 als der Beklagten am 31.12.2019 zugestellt gilt, hat keinen Erfolg. Es handelt sich bei diesem Feststellungantrag um eine Klageänderung nach § 153 Abs. 1 iVm. § 99 Abs. 1 SGG, die nur zulässig ist, wenn die übrigen Beteiligten einwilligen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Hier liegt keine Einwilligung der Beklagten, weder ausdrücklich noch konkludent, vor; vielmehr hat sie in der mündlichen Verhandlung erklärt, sich nicht zu dem geänderten Klageantrag einlassen zu wollen. Auch Sachdienlichkeit ist nicht zu erkennen. Zudem wäre die erhobene Feststellungsklage unzulässig, da die Feststellung des Zeitpunkts des Zugangs des Schreibens des Klägers bei der Beklagten nicht von den in § 55 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 SGG genannten Fällen umfasst ist. Auch ein Feststellungsinteresse ist nicht erkennbar. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen ist es (rechtlich) irrelevant, ob der Antrag Ende Dezember 2019 oder Anfang Januar 2020 zugegangen ist. Der Kläger hat auch nicht vorgetragen, woraus sich sein Feststellungsinteresse ergeben könnte. Zudem ist die Beklagte im Widerspruchsbescheid selbst davon ausgegangen, dass der Kläger seine „Forderungen im Dezember 2019 geltend gemacht“ hat.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
C. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.