L 8 R 1322/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 1384/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 1322/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19.03.2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1972 geborene Kläger absolvierte von 1989 bis 1993 eine Ausbildung zum Energieelektroniker und war danach in verschiedenen Tätigkeiten, zuletzt ab 2010 bis Juli 2014 als Hausmeister, beschäftigt.

Ab September 2014 bezog der Kläger Alg II und pflegte in dieser Zeit seine Großmutter bis zu ihrem Tod im Dezember 2016.

Nach einem Gutachten von F vom Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit H vom 11.01.2017 bestanden nach Aktenlage dauerhafte Einschränkungen des Bewegungsapparates im Bereich der Wirbelsäule. Eine Arbeitsunfähigkeit bestehe nicht. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein Leistungsvermögen für mindestens 6 Stunden täglich unter qualitativen Leistungseinschränkungen.

Der Kläger beantragte im Mai 2017 aufgrund eines seit Jahren bestehenden Wirbelsäulensyndroms nach einer zuletzt 2013 durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme eine erneute solche Maßnahme. Die Beklagte lehnte dies ab, da Krankenbehandlung ausreichend sei (Bescheid vom 29.05.2017). Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 18.07.2017) erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Heilbronn (Az. S 10 R 2536/17).

Vom 16.04. bis 27.04.2018 wurde der Kläger in der V-Klinik B wegen Lumboischialgie beidseits und Zervikobrachialgie beidseits bei jeweils degenerativen Veränderungen und Bandscheibenvorfällen, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und psychischen und Verhaltensstörungen bei schädlichem Gebrauch von Cannabinoiden stationär multimodal schmerztherapeutisch behandelt.

Vom 02.05. bis 28.05.2018 absolvierte er eine ganztätig ambulante medizinische Anschlussheilbehandlung (AHB) im SRH Gesundheitszentrum B1. In dem Entlassungsbericht wurden eine Lumboischialgie [Schmerzen im unteren Rücken, die typischerweise in ein Bein ausstrahlen] beidseits bei NPP [Nucleus pulposus prolaps, Bandscheibenvorfall] im Bereich L3/4 ohne Wurzelreizung und bei Protrusionen [Bandscheibenvorwölbungen] im Bereich L1/L2 und Osteochondrose [Knochen- und Knorpeldegeneration] im Bereich L1-3 diagnostiziert. Daneben wurden Cervicobrachialgien [von der Halswirbelsäule ausgehende Schmerzen, die in den Arm ausstrahlen] beidseits bei NPP C5/6, C6/7 bei Neuroforamenimpression, Osteochondrose C5/6 und NPP Th4/5 sowie eine chronische Schmerzstörung festgestellt. Es bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen für mittelschwere Tätigkeiten mit (näher genannten) qualitativen Leistungseinschränkungen. Der Kläger sei mit der Leistungsbeurteilung nicht einverstanden gewesen.

Das Klageverfahren vor dem SG Heilbronn wurde im Hinblick auf die gewährte Rehabilitationsmaßnahme für erledigt erklärt.

Ab dem 10.07. bis 06.11.2018 fand noch ein Ambulantes Stabilisierungs-Programm (ASP) im Therapiezentrum B statt.  Nach dem Entlassungsbericht waren die Erkrankungen unverändert. Die orthopädischen Beschwerden (v.a. Schmerzen in der unteren LWS mit Ausstrahlung in die Beine) sollten dringend wegen einer rheumatologischen Komponente abgeklärt werden.

Der Kläger beantragte am 15.10.2018 Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten, da er seit 2014 erwerbsgemindert sei.

Mit Bescheid vom 19.11.2018 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Kläger auch im Hinblick auf seine Krankheiten und Behinderungen noch mindestens 6 Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könne. Sie stützte sich dabei auf den AHB-Entlassungsbericht.

Der Kläger legte hiergegen, noch vertreten durch den VdK, am 29.11.2018 Widerspruch ein. Seine jetzigen Bevollmächtigten führten hierzu aus, dass der Leistungseinschätzung in der Rehaklinik entschieden widersprochen werde. Dies habe er in der Klinik bereits mitgeteilt; eine Berichtigung des Entlassungsberichtes sei aber abgelehnt worden. Eine erhebliche Einschränkung des Leistungsvermögens werde auch von H1 vom Ambulanten Therapiezentrum B und von dem B2 angenommen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.03.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Dem Kläger seien ausgehend von den Diagnosen in dem Reha-Entlassungsbericht noch mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit (näher genannten) qualitativen Leistungseinschränkungen mindestens 6 Stunden täglich möglich. Eine Rente wegen Berufsunfähigkeit komme wegen des Geburtsjahres des Klägers nicht in Betracht.

Der Kläger hat, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, am 04.04.2019 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und hat zur Begründung auf seinen Widerspruch verwiesen.

Das SG hat zunächst durch Vernehmung der behandelnden Ärzte Beweis erhoben.

Der hausärztlich behandelnde B2 hat in seiner Aussage vom 31.07.2019 von einem degenerativem HWS- und LWS-Syndrom bei mehrfachen Bandscheibenvorfällen und Morbus Scheuermann [Wachstumsstörung der jugendlichen Wirbelsäule] berichtet, ferner von einem Hämorrhoidalleiden, einer Depression, einer Anpassungsstörung und einer Angst- und Panikstörung. Die Frage nach der beruflichen Leistungsfähigkeit sei schwierig zu beantworten. Vor dem Hintergrund der vielen schweren chronischen Diagnosen sei eine leichte körperliche Tätigkeit bereits seit 10-15 Jahren nur im Umfang von ca. 3 bis 4 Stunden möglich. Er halte es auch für unwahrscheinlich, dass der Kläger eine Wegstrecke von 500 Metern zu Fuß zurücklegen könne.

Der daneben befragte Chefarzt der Fachorthopädischen Rehaklinik S-Klinik B R hat in seiner Aussage vom 15.07.2019 lediglich auf das im benachbarten Therapiezentrum durchgeführte ASP verweisen können.

Das SG hat sodann den W mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Der Sachverständige hat sein Gutachten nach Untersuchung am 08.10.2019 mit Datum vom 20.12.2019 erstattet. Er hat ein degeneratives Lumbalsyndrom mit Fehlstatik bei Zustand nach juvenilen lumbalen Osteochondrosen (im Rahmen eines abgelaufenen Morbus Scheuermann), eine Fehlstatik der BWS mit Flachrücken sowie ein degeneratives Cervicalsyndrom bei Osteochondrose C5/6 festgestellt. Es bestünden keine weitreichenden Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit aufgrund von körperlichen Defiziten im Bereich des Bewegungsapparates. Dem Kläger seien insoweit leichte und mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit der Möglichkeit des Wechsels der Körperhaltung von Gehen, Stehen und Sitzen und ohne lange statische Belastungen vollschichtig zumutbar. Es bestehe auch keine Einschränkung der Wegefähigkeit für übliche Strecken zu und von der Arbeitsstelle. Die vorherrschende Problematik scheine aber in einer ausgeprägten somatoformen Schmerzstörung zu liegen. Eine psychiatrische Begutachtung sei daher zwingend erforderlich.

Der Bevollmächtigte hat hiergegen eingewandt, dass der Leistungseinschätzung nicht zugestimmt werde. Die Wegefähigkeit sei derart eingeschränkt, dass nur gelegentlich viermal täglich 500 Meter zu Fuß zurückgelegt werden könnten. Die Leistungseinschränkung ergebe sich hauptsächlich aus einer tiefen Erschöpfung und generellen Minderbelastbarkeit und aus den dauerhaft vorliegenden Schmerzen. Er könne auch nur in einer geschützten Umgebung arbeiten, da Menschenmengen oder Arbeitskollegen bei ihm zu Panik führten. Er sei langjährig in psychiatrischer Behandlung, zuletzt bei B3.

Das SG hat daraufhin noch die B3 als sachverständige Zeugin befragt. Diese hat in ihrer Aussage vom 05.02.2020 von drei Behandlungen seit August 2019 berichtet. Sie habe eine Erschöpfung, chronische Rückenschmerzen, einen schädlichen multiplen Substanzgebrauch sowie einen Verdacht auf eine substanzinduzierte psychotische Störung festgestellt. Die Arbeitsfähigkeit des Klägers sei aber mehr aufgrund der Beschwerden auf orthopädischem Fachgebiet eingeschränkt. Sie gehe davon aus, dass er derzeit nicht länger als maximal zwei Stunden täglich arbeiten könne.

Der Bevollmächtigte hat darauf hingewiesen, dass B3 eine maßgebliche Beeinträchtigung der Umstellungsfähigkeit und des Antriebes berichtet habe, die nicht orthopädisch zu beurteilen sei. Daher sei noch das weitere Gutachten einzuholen.

Mit Gerichtsbescheid vom 19.03.2020 hat das SG – nach vorheriger Anhörung – die Klage abgewiesen, da der Kläger nicht erwerbsgemindert sei. Er sei in der Lage, sechs Stunden am Tag zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Im Vordergrund stünden das orthopädische Fachgebiet betreffende schmerzhafte Gesundheitsstörungen im Bereich des Rückens. Diese führten zu keiner zeitlichen Leistungsminderung. Das Gericht stütze sich dabei auf das Gutachten von W. Die von dem Sachverständigen benannten qualitativen Leistungseinschränkungen seien von dem Begriff der körperlich leichten Tätigkeiten umfasst. Eine schwere spezifische Leistungseinschränkung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen lägen nicht vor. Der Sachverständige habe glaubhaft auch keine Einschränkung der Wegefähigkeit erkennen können. Die Leistungseinschätzung der behandelnden Ärzte überzeuge nicht, da die objektivierbaren Befunde diesen Schluss nicht zuließen und die Ärzte auch keine entsprechenden Befunde mitgeteilt hätten. Die Beschwerden auf psychiatrischem Fachgebiet träten dagegen in den Hintergrund. Dies ergebe sich aus der Aussage der behandelnden Psychiaterin B3, die keine tiefgreifenden psychischen Beschwerden festgestellt habe und auch keine entsprechenden Befunde mitgeteilt habe, die zu einem anderen Schluss führen könnten. Auch der sachverständige Zeuge B2 habe seine Leistungseinschätzung primär auf die chronischen Leiden auf orthopädischem Fachgebiet gestützt. Die durch ihn gestellten Diagnosen auf psychiatrischem Fachgebiet seien nicht durch Befunde untermauert worden und daher nicht nachvollziehbar. Im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme hätten die von B2 genannten Diagnosen nicht bestätigt werden können. Die von W erhobenen Befunde ließen ebenfalls keinen Schluss auf eine schwerwiegende psychische Erkrankung zu. Die Beeinträchtigung durch die bestehenden Schmerzen könne das Gericht anhand des vorliegenden orthopädischen Gutachtens beurteilen. Weitere Ermittlungen auf nervenärztlichem Gebiet seien daher trotz der Anregung von W nicht geboten. Der Gerichtsbescheid ist den Bevollmächtigten des Klägers am 24.03.2020 zugestellt worden.

Der Kläger hat, vertreten durch seinen Bevollmächtigten, am 24.04.2020 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Der Bevollmächtigte hat zur Begründung auf die in dem Gutachten von W referierten schmerzhafte Funktionsbehinderungen an Schulter und an der Wirbelsäule (HWS und LWS) bei Bandscheibenvorfällen verwiesen. Es bestünden Ausstrahlungen in Schultern, Arme, Hände, Kopf und Füße, die auch ab und zu stechend mit leichten Taubheitsgefühlen seien. Der Kläger sei hierdurch in seiner Mobilität eingeschränkt und könne nur gelegentlich eine Wegstrecke von viermal 500 Metern pro Arbeitstag zu Fuß zurücklegen. Die hauptsächlichen Leistungseinschränkungen ergäben sich aus einer tiefen Erschöpfung des Klägers, einer generellen Mindestbelastbarkeit und andauernden Schmerzen. Der Kläger leide dazu an einer anhaltenden Depression mit Antriebslosigkeit und Schlafstörungen, einem dauernden Unruhegefühl, einer Anpassungsstörung sowie einer Angst-Panikstörung. Nach der Stellungnahme von B3 sei die Belastbarkeit hierdurch eingeschränkt. Das SG habe aber entgegen der Anregung des Sachverständigen W kein Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eingeholt. Neben der Aussage von B3 habe das SG auch die Stellungnahme von B2, der den Kläger länger behandele und daher besser beurteilen könne, nicht ausreichend gewürdigt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19.03.2020 und den Bescheid vom 19.11.2018 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 22.03.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sowie auf die Ausführungen in dem angefochtenen Gerichtsbescheid.

Der Senat hat den R1 mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Der Sachverständige hat sein Gutachten nach Untersuchung des Klägers am 15.02.2021 mit Datum vom 10.06.2021 erstattet. Er hat eine leichtgradig ausgeprägte, anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. Daneben bestehe eine Dysthymia, also eine chronisch-depressive Verstimmung, die nach Schweregrad und Dauer nicht die Kriterien für eine episodenhaft auftretende depressive Störung erfülle. Bei der gegenwärtigen psychiatrischen Befunderhebung fänden sich im Hinblick auf die von B3 mitgeteilte Verdachtsdiagnose keine Hinweise mehr für eine Psychose. Ein mittelschwerer oder schwerer, schädlicher Gebrauch von psychotropen Substanzen sei nicht festzustellen. Angesichts des nur leichtgradig gestörten psychischen Befunds und in Kenntnis der von dem Kläger geschilderten, noch umfangreichen Alltagsaktivitäten sei er noch fähig, sechs Stunden und mehr pro Tag beruflich tätig zu sein. Soweit B2 eine „Anpassungsstörung" angegeben habe, sei diese im Hinblick auf die angegebene Dauer der Symptomatik von 4 bis 5 Jahren in der Dysthymia aufgegangen. Daneben bestünden lediglich Hinweise auf eine erhöhte Ängstlichkeit, so dass allenfalls eine leichte Angststörung vorliege. Auf neurologischem Gebiet bestehe ein leichter chronischer Nervenwurzelschaden S1 links. Der Kläger sei in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung von (näher genannten) qualitativen Leistungseinschränkungen sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche auszuführen. Die erforderliche Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt.

Der Bevollmächtigte hat am 10.08.2021 beantragt, den R2 nach § 109 SGG gutachtlich zu hören. Der Senat hat mit Verfügung des Berichterstatters vom 13.08.2021 einen bis 17.09.2021 hierfür einzuzahlenden Kostenvorschuss in Höhe von 2.000 € angefordert. Die Verfügung ist dem Bevollmächtigten am 17.08.2021 zugestellt worden. Dieser hat am 03.09.2021 die in der Verfügung zugleich angeforderte Kostenverpflichtungserklärung vorgelegt. Der Berichterstatter hat sodann mit Verfügung vom 29.09.2021 darauf hingewiesen, dass der Kostenvorschuss nicht eingezahlt worden sei und am 29.11.2021 zusätzlich mitgeteilt, dass das beantragte Gutachten daher nicht einzuholen sei. Der Bevollmächtigte hat hierauf angekündigt, dass die Angelegenheit mit der zuständigen Gewerkschaft geklärt werde. Mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 17.12.2021 ist sodann Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 21.01.2022 bestimmt worden. Ebenfalls am 17.12.2021 ist bei dem Gericht die Mitteilung der Landesoberkasse eingegangen, wonach der Kostenvorschuss am 10.12.2021 eingezahlt worden sei. Der Berichterstatter hat mit Verfügung vom 28.12.2021 darauf hingewiesen, dass die Einholung des Gutachtens nicht beabsichtigt sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des erstinstanzlichen Verfahrens und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 19.11.2018 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 22.03.2019 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung hat. Der Gerichtsbescheid vom 19.03.2020 ist daher nicht zu beanstanden.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens 3 bis unter 6 Stunden erwerbstätig sein kann und er damit nach dem Wortlaut des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ohne Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage an sich nur teilweise erwerbsgemindert ist (sog. abstrakte Betrachtungsweise), ihm aber der Teilzeitarbeitsmarkt tatsächlich verschlossen ist (sog. konkrete Betrachtungsweise). Der Eintritt einer rentenberechtigenden Leistungsminderung muss im Wege des Vollbeweises festgestellt sein; vernünftige Zweifel am Bestehen der Einschränkungen dürfen nicht bestehen.

Die Beurteilung des Leistungsvermögens bezieht sich dabei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieser umfasst jede nur denkbare Tätigkeit, für die es in nennenswertem Umfang Beschäftigungsverhältnisse gibt (vgl. BT-Drucks. 14/4230, S. 25) und damit auch ungelernte Tätigkeiten (vgl. BSG - Großer Senat - Beschluss vom 19.12.1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 und bei juris). Bezugspunkt ist damit eine leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, nicht die zuletzt ausgeübte Beschäftigung, die etwa für die Frage der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung maßgeblich sein kann.

Ausgehend hiervon ist der Kläger weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Das Leistungsvermögen des Klägers ist dabei durch Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet und auf psychiatrischem Fachgebiet eingeschränkt. Der Senat stellt dies aufgrund der überzeugenden Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen W und R1, die den Kläger jeweils fachärztlich untersucht haben, fest. Der Kläger leidet dabei unter einer Erkrankung der Wirbelsäule (WS) und hier unter einem degenerativen Lumbalsyndrom mit Fehlstatik bei lumbalen Osteochondrosen im Zusammenhang mit einem Morbus Scheuermann, unter einer Fehlstatik der BWS mit Flachrücken sowie unter einem degenerativen Cervicalsyndrom bei Osteochondrose im Bereich C5/6. Es bestehen ausweislich der Gutachten jedoch keine weitreichenden Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit aufgrund von körperlichen Defiziten im Bereich des Bewegungsapparates. Denn neben einer zufriedenstellenden Beweglichkeit der Wirbelsäule bei allerdings bestehender Einschränkung der muskulären Stabilisierungsfähigkeit des Rückens sind keine Anhaltspunkte für Nervenwurzelirritationen ersichtlich. Der Senat stützt sich hierfür auf das Gutachten von W und die von ihm erhobenen Befunde. Der Senat verweist insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheides und sieht daher von einer eigenen Darstellung ab (§ 153 Abs. 2 SGG), zumal der rechtskundig vertretene Kläger insoweit keine substantiierten Einwendungen mehr erhoben hat.

Der Kläger leidet auf psychiatrischem Fachgebiet unter einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, die nur leichtgradig ausgeprägt ist und die zu einer Einschränkung der freien Kraftentfaltung der Muskulatur und der Beweglichkeit des Skelettsystems führt. Daneben besteht eine Dysthymia im Sinne einer chronisch-depressiven Verstimmung, die nach Schweregrad und Dauer nicht die Kriterien für eine rezidivierende depressive Störung erfüllt. Die Dysthymia führt zu einer leichten Störung der Stimmungslage. Der Senat stützt sich dabei auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen R1, der den Kläger fachärztlich untersucht hat und aufgrund der geklagten Beschwerden und der von ihm erhobenen Befunde zu dieser diagnostischen Einordnung gelangt ist. Der Sachverständige hat dabei die beim Durchbewegen angegebenen Schmerzen in den Schultergelenken, im rechten Ellenbogengelenk, im rechten Handgelenk und im linken Sprunggelenk berücksichtigt. Die leichtgradige Ausprägung der Schmerzstörung wie auch der depressiven Erkrankung hat der Sachverständige dabei aus dem von ihm erhobenen, nur leichtgradig gestörten psychischen Befund abgeleitet. Dies ist für den Senat nachvollziehbar. Denn nach dem Gutachten war im Verlauf der mehrstündigen Begutachtung kein Nachlassen der Konzentriertheit oder der Aufmerksamkeit festzustellen. Die Antriebslage wirkte unauffällig. Hinweise für eine äußerlich erkennbare, innere Unruhe fanden sich nicht. Der Kläger war zwar streckenweise subdepressiv. Beim Besprechen angenehmer Themen kam es jedoch rasch zu einer Stimmungsaufhellung. Die affektive Modulationsfähigkeit war nicht eingeschränkt und auch die Auffassungsgabe, die Konzentrationsfähigkeit und die Aufmerksamkeitsdauer waren ungestört. Der Sachverständige hat zusätzlich auf die von dem Kläger in der Untersuchung geschilderten, noch umfangreichen Alltagsaktivitäten hingewiesen, die ebenfalls gegen eine höhergradige Ausprägung der Erkrankungen sprechen. Der rechtskundig vertretene Kläger hat hiergegen auch nichts mehr eingewandt.

Die sachverständige Zeugin B3 hat ihrerseits eine Erschöpfung und damit bereits nicht einmal eine depressive Erkrankung diagnostiziert. Die von ihr daneben genannte Verdachtsdiagnose stellt gerade keine gesicherte Feststellung einer bestehenden Gesundheitsstörung dar. Die von dem B2 fachfremd angenommene Anpassungsstörung ist diagnostisch in der Dysthymia aufgegangen, und die von dem Arzt ebenso genannte Angst- und Panikstörung liegt nur in Form einer leichten Angststörung vor. Der Senat stützt sich auch insoweit auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen R1, der für den Senat nachvollziehbar auf die im Zeitablauf nicht mehr erfüllten diagnostischen Kriterien einer Anpassungsstörung und daneben auf die bei seiner Untersuchung nur leichtgradig ausgeprägte Ängstlichkeit hingewiesen hat.

Auf neurologischem Gebiet besteht lediglich ein leichter chronischer Nervenwurzelschaden im Bereich der unteren LWS (S1) links. Der Senat stützt sich auch insoweit auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen R1. Der rechtskundig vertretene Kläger hat auch hiergegen nichts mehr eingewandt.

Das Leistungsvermögen des Klägers ist durch die genannten psychischen und orthopädischen Erkrankungen qualitativ eingeschränkt. So sind dem Kläger aus orthopädischer Sicht nur noch leichte und mittelschwere körperliche Tätigkeiten mit der Möglichkeit des Wechsels der Körperhaltung von Gehen, Stehen und Sitzen und ohne lange statische Belastungen zumutbar. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen W, der diese Einschränkungen nachvollziehbar aus den von ihm erhobenen Befunden abgeleitet hat. Ergänzend sind auch noch die in dem Reha-Entlassungsbericht vom 30.05.2018 genannten Einschränkungen hinsichtlich überwiegender Zwangshaltungen der Wirbelsäule sowie Stoß- und Erschütterungsbelastungen und Tätigkeiten mit Kopfvor- und Rückneigung und erforderlicher endgradiger maximale Kopfrotation zu beachten. Der Senat stützt sich insoweit auf den als Urkunde verwertbaren Entlassungsbericht. Aus neurologisch-psychiatrisch-schmerzmedizinischer Sicht sind dem Kläger darüber hinaus nur leichte körperliche Arbeiten ohne Akkord- oder Fließbandtätigkeiten zumutbar. Arbeiten auf Leitern oder auf Gerüsten sind angesichts der Schmerzsymptomatik, aber auch wegen des leichten, chronischen Nervenwurzelschadens links nicht mehr leidensgerecht. Arbeiten unter der Exposition von Kälte, Wärme, Staub, Gasen, Dämpfen oder Nässe sollten ebenso wie Nachtschichten vermieden werden. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen R1.

Der Kläger ist mit den dargestellten qualitativen Leistungseinschränkungen beruflich zwar nur noch eingeschränkt einsetzbar. Zu einer konkreten Darlegung der Tätigkeiten, zu denen er aus gesundheitlichen Gründen noch in der Lage ist, besteht bei einem Leistungsvermögen für zumindest körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auch bei qualitativen Einschränkungen jedoch keine Verpflichtung (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R –, in juris). Denn das dargestellte Restleistungsvermögen erlaubt Verrichtungen oder Tätigkeiten, wie sie in ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken und das Zusammensetzen von Teilen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2012 – B 5 RJ 68/11 R –, in juris). Dieser Kern an typischen körperlichen Verrichtungen ist nach der Rechtsprechung des BSG nicht überholt. Die Aufzählung der Arbeitsfelder und Verrichtungen ist nicht abschließend; sie kann etwa um einfache Büro- oder Montagetätigkeiten und im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung von Prozessen auch z.B. um Verrichtungen wie das Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen erweitert werden (BSG, Urteil vom 11.12.2019 – a.a.O.). Die Benennung einer Verweisungstätigkeit ist vorliegend auch nicht wegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder des Vorliegens einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder unter dem Gesichtspunkt der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes (vgl. dazu BSG, Urteil vom 11.12.2019 – a.a.O.) erforderlich.

Insbesondere ist der Arbeitsmarkt dem Kläger nicht wegen einer fehlenden Wegefähigkeit verschlossen. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit des Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Anderenfalls ist eine derart schwere Leistungseinschränkung anzunehmen, dass der Arbeitsmarkt trotz eines vorhandenen vollschichtigen Leistungsvermögens als verschlossen anzusehen ist (vgl. etwa BSG, Urteil vom 12.12.2011 – B 13 R 79/11 R –, in juris). Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege absolvieren muss. Eine (volle) Erwerbsminderung setzt danach grundsätzlich voraus, dass der Versicherte nicht vier Mal am Tag Wegstrecken von über 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand (also jeweils innerhalb von 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und ferner zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten und hier auch die zumutbare Benutzung eines eigenen Kfz zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 12.12.2011 – a.a.O.). Der Kläger ist noch in der Lage, entsprechende Wegstrecken zurückzulegen. Der Senat stützt seine Überzeugung dabei auf die Gutachten der beiden gerichtlichen Sachverständigen, die aus den von ihnen erhobenen Befunden nachvollziehbar ein entsprechendes Gehvermögen abgeleitet haben. Dem Gutachten des L lässt sich ein regelrechtes Gangverhalten mit möglichen Gangvaria entnehmen. Auch dem Reha-Entlassungsbericht vom 30.05.2018 lässt sich ein symmetrisches und flüssiges Gangbild entnehmen. In dem Bericht der V-Klinik ist lediglich eine unsichere mechanisch wirkende Gesamtmotorik mit diskreter Verlangsamung genannt, wobei Gang- und Standvaria auch hier möglich waren. Nach dem Gutachten von R1 war der Kläger zudem in der Lage, eine Strecke von 500 Metern in 8 Minuten zu absolvieren, auch wenn sich dabei ein eher steifes Gangbild zeigte und der Kläger mehrere kurze Pausen wegen angegebener Schmerzen benötigte. Nach seiner eigenen Schilderung bei der Begutachtung unternimmt der Kläger außerdem Spaziergänge bis zu einer Stunde. Die von B2 geäußerten Zweifel an einer ausreichenden Wegefähigkeit vermag der Senat daher nicht zu teilen.

Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats dann, wenn die genannten qualitativen Leistungseinschränkungen berücksichtigt werden, noch in der Lage, arbeitstäglich mindestens 6 Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Der Senat stützt sich hierbei auf die beiden Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen, die ein entsprechendes positives Leistungsbild für den Senat nachvollziehbar aus den von ihnen erhobenen Befunden abgeleitet haben. Ein entsprechendes Leistungsbild ist zudem bereits in dem nach Aktenlage erstatteten und als Urkunde verwertbaren Gutachten von F wie auch in dem Reha-Entlassungsbericht angenommen worden, was die von den Sachverständigen vorgenommene Einschätzung zusätzlich stützt. Der Senat vermochte sich demgegenüber nicht der Leistungseinschätzung des Arztes für Allgemeinmedizin B2 anzuschließen, der in seiner Aussage vor dem SG auch eine leichte körperliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für fraglich und eine Tätigkeit von ca. 3-4 Stunden für möglich hielt. Denn diese Einschätzung ist durch die beiden ausführlichen fachärztlichen Gutachten widerlegt. Dies gilt ebenso für die Leistungseinschätzung der sachverständigen Zeugin B3 in ihrer Aussage vor dem SG, zumal sie eine Einschränkung der „Arbeitsfähigkeit“ mehr als Folge der orthopädisch und damit für sie fachfremd zu beurteilenden Beschwerden gesehen hat.

Der Kläger ist mit dem beschriebenen Leistungsvermögen nicht erwerbsgemindert, so dass kein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und auch nicht wegen teilweiser Erwerbsminderung besteht. Der Kläger hat daneben auch bereits deshalb keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, weil er nicht vor dem 02.01.1961 geboren ist (§§ 43 Abs. 1, 240 Abs. 1 SGB VI).

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen und insbesondere das Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen und die Aussagen der sachverständigen Zeugen haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Der rechtskundig vertretene Kläger hat seinerseits auch keine weitere Beweiserhebung beantragt, so dass sich der Senat auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt sieht (vgl. BSG, Beschluss vom 28.09.2020 – B 13 R 45/19 B –, in juris Rn. 11).

Dem schriftsätzlich gestellten Antrag auf gutachterliche Anhörung des als Sachverständigen benannten R2 nach § 109 Abs. 1 SGG war nicht zu folgen. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob sich der Antrag nicht bereits durch das zuletzt erklärte Einverständnis des Bevollmächtigten mit einer Entscheidung des Senats nach § 124 Abs. 2 SGG erledigt hatte (vgl. BSG, Beschluss vom 01.09.1999 – B 9 V 42/99 B –, in juris). Denn das Gericht kann einen solchen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist (§ 109 Abs. 2 SGG). Dies trifft hier zur Überzeugung des Senats zu. Eine solche Verzögerung tritt ein, wenn sich wegen der Beweisaufnahme nach § 109 SGG der durch die erfolgte oder bevorstehende Terminierung bereits ins Auge gefasste Zeitpunkt der Verfahrensbeendigung verschieben würde (MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 109 Rn. 11). Dies ist hier der Fall, da eine Terminierung bereits in der Verfügung vom 02.12.2021 angekündigt worden und sodann mit Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 17.12.2021 erfolgt war. Da der Senat die Begutachtung gemäß § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG von einem Kostenvorschuss des Klägers abhängig gemacht hatte, wäre das Gutachten erst ab dem Eingang des Vorschusses bei der Landesoberkasse am 10.12.2021 bzw. ab dem Eingang der Mitteilung am 17.12.2021 einzuholen gewesen. Die beantragte gutachterliche Anhörung würde damit schon im Hinblick auf die dem Sachverständigen üblicherweise einzuräumende Frist von mindestens drei Monaten zu einer Verzögerung des Verfahrens führen.

Die Vorschrift des § 109 Abs. 2 SGG ist dabei auch anzuwenden, wenn der angeforderte Kostenvorschuss nicht innerhalb der von dem Senat gesetzten Frist eingezahlt worden ist und dies auf grober Nachlässigkeit beruht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.11.2005 – L 1 U 719/05 –, in juris; im Ergebnis über § 202 SGG i.V.m. 379 Abs. 2 ZPO ebenso BSG, Urteil vom 23.07.1965 – 1 RA 243/63 –, in juris). Der Kostenvorschuss ist erst am 10.12.2021 und damit weit nach Ablauf der bis 17.09.2021 gesetzten Frist eingegangen. Einen Antrag auf Fristverlängerung hat der rechtskundig vertretene Kläger nicht gestellt. Die verspätete Zahlung beruhte auch auf grober Nachlässigkeit. Dies ist dann anzunehmen, wenn die für eine ordnungsgemäße Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen wurde und nicht getan wird, was jedem einleuchten muss (MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 109 Rn. 11). Selbst dann, wenn der Bevollmächtigte des Klägers davon ausgegangen sein sollte, dass die Gewerkschaft den Kostenvorschuss rechtzeitig gezahlt haben sollte, stellte dies keine ordnungsgemäße Kontrolle von Fristen dar. Die Kontrolle, ob Fristen eingehalten sind, gehört zu den wichtigsten Pflichten von rechtskundigen Prozessbevollmächtigten. Für die Rechtssekretäre der D GmbH gelten insoweit dieselben Grundsätze wie für Rechtsanwälte (so LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.11.2005 – a.a.O., vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.05.2015 – L 8 U 2996/14 –, in juris). Das Verhalten seines Bevollmächtigten muss sich der Kläger zurechnen lassen (§ 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Rechtskraft
Aus
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