L 11 R 3016/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 14 R 4147/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 3016/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11.08.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand

Streitig ist die Aufhebung eines Widerspruchsbescheides, mit dem der Widerspruch der Klägerin als unzulässig zurückgewiesen wurde.

Die 1953 geborene Klägerin beantragte gegenüber der Beklagten am 15.02.2019 die Gewährung einer Altersrente. Mit Bescheid vom 21.03.2019 bewilligte die Beklagte der Klägerin Altersrente ab dem 01.05.2019 iHv 838,75 € brutto monatlich. Die Beklagte stellte fest, dass die Zeit vom 01.05.1989 bis zum 07.04.1990 nicht als Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung berücksichtigt werden könne, weil diese Zeit der Ausbildung die berücksichtigungsfähige Höchstdauer überschreite. Des Weiteren berücksichtigte die Beklagte Kindererziehungszeiten für die Töchter der Klägerin, wobei sie als Nachname der Töchter jeweils „F“ angab, obwohl diese tatsächlich den Nachnamen M des geschiedenen Ehemannes der Klägerin trugen. Am 01.04.2019 legte die Klägerin Widerspruch ein gegen den Bescheid vom 21.03.2019. Zur Begründung gab sie - zu diesem Zeitpunkt noch unvertreten -  an, dass insbesondere die Berechnung ihres Versorgungsausgleiches fehlerhaft sei. Zudem sei auch die Zeit vom 01.05.1989 bis zum 07.04.1990 als Anrechnungszeit wegen schulischer Ausbildung zu berücksichtigen. Es handele sich dabei um eine abgeschlossene Fachschulausbildung, die zur Berufsausübung relevant sei. Des Weiteren seien die Nachnamen ihre Kinder aus der Ehezeit falsch angegeben, diese seien jeweils in den Nachnamen „M“ zu korrigieren.

Mit Schreiben vom 25.04.2019 zeigte der Klägerbevollmächtigte, Rentenberater X, seine Bevollmächtigung an, ohne eine weitere Widerspruchsbegründung vorzulegen.

Mit Bescheid vom 07.08.2019 korrigierte die Beklagte die Namen der Töchter und änderte diese antragsgemäß in „M“ um. Anschließend wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 03.02.2020 den Widerspruch zurück. Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos (S 14 R 385/20), im anschließenden Berufungsverfahren wies das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) am 25.01.2022 die Berufung zurück (L 11 R 2419/21).

Mit Bescheid vom 26.05.2020 setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin die Rentenhöhe ab 01.07.2020 neu fest wegen der jährlichen Rentenanpassung sowie eines Zuschlags an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn einer Rente wegen Alters. Diesen Bescheid übersandte die Beklagte direkt an die Klägerin, ohne deren Bevollmächtigten zu benachrichtigen. Mit Schriftsatz vom 23.06.2020 reichte der Klägerbevollmächtigte deshalb im Namen der Klägerin Unterlassungsklage beim Sozialgericht Freiburg (SG) ein mit dem Ziel der Verhängung eines Zwangsgeldes bei erneuter Missachtung der Vollmacht (S 14 R 2177/20). Die Vollmacht aus dem Widerspruchs- und Klageverfahren S 14 385/20 sei immer noch in Kraft, die Missachtung derselben im Hause der Beklagten gewinne an System. Das SG wies die Klage ab, die Berufung blieb erfolglos (Urteil vom 25.01.2022 [L 11 R 2464/21]).

Am 24.09.2020 ging bei der Beklagten ein Widerspruch der Klägerin, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, gegen den Bescheid vom 26.05.2020 ein. Diesen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.11.2020 als unzulässig zurück mit der Begründung, er sei erst nach Ablauf der einmonatigen Widerspruchsfrist erhoben worden. Der Bescheid vom 26.05.2020 sei dem Bevollmächtigten der Klägerin ausweislich des Klageschreibens im Verfahren S 14 R 2177/20 spätestens am 23.06.2020 bekannt gegeben worden. Die Frist zur Erhebung des Widerspruches habe daher am 23.07.2020 geendet.

Hiergegen hat der Klägerbevollmächtigte Klage beim SG erhoben. Die Rechtsbehelfsfrist gegen den Bescheid vom 26.05.2020 habe nicht zu laufen begonnen, da die Beklagte den Bescheid unter Missachtung der Vollmacht unmittelbar der Klägerin zugesandt habe. Eine nicht laufende Frist könne auch nicht dadurch geheilt werden, dass man den Bescheid durch Dritte erhalte. Es sei reiner Zufall gewesen, dass ihm der Bescheid innerhalb der Frist zugegangen sei. Da die Beklagte keine erneute Zustellung an ihn unternommen habe, laufe die Jahresfrist. Aufgrund dessen sei der Widerspruchsbescheid isoliert aufzuheben und die Beklagte müsse einen neuen Bescheid machen.

Mit Gerichtsbescheid vom 11.08.2021 hat das SG die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Klägerin habe keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2020 und auf Verpflichtung der Beklagten zu einer inhaltlichen Verbescheidung ihres Widerspruchs. Der Widerspruchsbescheid vom 05.11.2020 sei rechtmäßig, da der am 24.09.2020 erhobene Widerspruch der Klägerin wegen Versäumung der Widerspruchsfrist unzulässig sei. Nach § 84 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sei der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden sei, zu erheben. Gemäß § 13 Abs 3 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) müsse sich die Behörde an den Bevollmächtigten wenden, wenn er für ein Verfahren bestellt ist. Speziell zur Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes sei in § 37 Abs 1 SGB X geregelt, dass ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekanntzugeben sei, für den er bestimmt sei oder der von ihm betroffen werde. Sei ein Bevollmächtigter bestellt, könne die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden. Dementsprechend stünde der Beklagten ein Ermessensspielraum darüber zu, ob sie den Bescheid vom 26.05.2020 unmittelbar gegenüber der Klägerin oder gegenüber ihrem Bevollmächtigten bekannt geben wolle. Es sei vorliegend nicht erkennbar, dass die Beklagte diesen Ermessensspielraum erkannt und ausgeübt habe. Vielmehr sei die unmittelbare Bekanntgabe des Bescheides an die Klägerin offenbar in der irrigen Annahme erfolgt, dass sie keinen Bevollmächtigten mit ihrer Vertretung in der Angelegenheit beauftragt habe. Die Folgen einer fehlerhaften Ermessensausübung im Rahmen einer Bekanntgabe gemäß § 37 Abs 1 Satz 2 SGB X seien zwar umstritten, doch könne dies offenbleiben, da die Nichtausübung von Ermessen vorliegend unerheblich sei. Denn der Bevollmächtigte der Klägerin habe den Bescheid vom 26.05.2020 nachweislich jedenfalls am 23.06.2020 erhalten. An diesem Tag habe er die Klage S 14 R 2177/20 unter Vorlage des Bescheides vom 26.05.2020 erhoben. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt sei damit der Bescheid vom 26.05.2020 auch gegenüber dem Bevollmächtigten der Klägerin bekannt gegeben und damit wirksam geworden gemäß §§ 37 Abs 1, 39 Abs 1 Satz 1 SGB X. Entsprechend dem aus § 8 Verwaltungszustellungsgesetz erkennbaren allgemeinen Grundsatz sowie unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben habe damit am 23.06.2020 die Widerspruchsfrist von einem Monat zu laufen begonnen und am 23.07.2020 geendet, so dass der am 24.09.2020 bei der Beklagten eingegangene Widerspruch verfristet sei. Es seien auch keine Umstände vorgetragen worden oder ersichtlich, die eine Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist gemäß § 27 SGB X begründen könnten.

Gegen diesen ihm am 23.08.2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Klägerbevollmächtigte am 20.09.2021 Berufung beim LSG eingereicht, ohne diese zu begründen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 11.08.2021 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 05.11.2020 zu verpflichten, ihren Widerspruch 24.09.2020 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die frist- und formgerecht eingelegte und statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG), ist zulässig (§§ 143, 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1, 151 SGG), jedoch nicht begründet.

Wie die Beklagte zutreffend entschieden hat, ist der Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.05.2020 zu spät bei ihr eingegangen.

Gemäß § 37 Abs 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden. Die Vorschrift des § 37 Abs 1 Satz 2 SGB X verdrängt nach herrschender Meinung als Spezialvorschrift den allgemeinen § 13 Abs 3 Satz 1 SGB X, nach dem sich die Behörde in typischen Fällen an den Bevollmächtigten wenden muss. Dies folgt nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, sondern vor allem aus der Entstehungsgeschichte: Eine ursprünglich vom Bundestag beabsichtigte parallele Regelung zu § 13 Abs 3 Satz 1 SGB X wurde im Vermittlungsverfahren wieder gestrichen (vgl hierzu ausführlich Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl, § 37 SGB X [Stand: 21.12.2020], Rn 88; vgl hierzu auch KassKomm/Mutschler, 115. EL Juli 2021, SGB X § 37 Rn 13). Es steht somit im Ermessen der Behörde, ob sie den Verwaltungsakt dem Bevollmächtigten, dem Vollmachtgeber oder beiden bekanntgibt. Dieses - nicht zu begründende - Ermessen (vgl hierzu zum gleichlautenden § 41 VwVfG Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 41 Rn 41) hat die Beklagte vorliegend dahingehend ausgeübt, den Bescheid der Klägerin bekannt zu geben. Einen Ermessensfehler, der zu einer fehlerhaften Bekanntgabe führte und damit zu einem unwirksamen Bescheid (vgl hierzu Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl 2018, § 41 VwVfG Rn 43), sieht der Senat nicht. Zwar liegt hier eine Vollmacht vom 26.06.2020 vor, die zukunftsoffen formuliert ist und auch Folgeentscheidungen der Beklagten umfasst, indem darin eine „Vollmacht zur Vertretung bis auf Widerruf“ erteilt wird, die das „Verhandeln, die Abgabe und Entgegennahme von Erklärungen, Bescheiden und sonstigen Rechtsmitteln sowie die Einsichtnahme in Akten und Gutachten“ umfasst, die „für alle Instanzen gilt“ und „sich auf Neben- und Folgeverfahren aller Art“ erstreckt. Würde indes in jedem Fall, in dem ein Prozessbevollmächtigter bestellt ist und Bescheide dennoch den Betroffenen direkt zugesandt werden, ein Ermessensfehler angenommen, widerspräche dies der eindeutigen gesetzlichen Regelung in § 37 Abs 1 Satz 2 SGB X, worin gerade keine Pflicht der Behörde zur Bekanntgabe an den Bevollmächtigten begründet wird. Anderes mag bei - hier nicht gegebenem - treuwidrigem Vorgehen der Behörde gelten (vgl hierzu Stelkens/Bonk/Sachs/Stelkens, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 41 Rn 43) oder aber dann, wenn der Betroffene auf Betreiben der Behörde gemäß § 14 SGB X einen Empfangsbevollmächtigten benannt hat, ausdrücklich Bekanntgabe an den Bevollmächtigten verlangt oder ein an den Bevollmächtigten bekanntgegebener Verwaltungsakt abgeändert wird (Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 37 SGB X, Rn 87 mwN), weiterhin in Bezug auf Verwaltungsakte, die während eines bei Gericht anhängigen Rechtsstreits ergehen und den Klagegegenstand betreffen (BSG 26.07.2016, B 4 AS 47/15 R, BSGE 122, 25-34, SozR 4-1500 § 114 Nr 2, Rn 22). Keiner dieser eindeutigen Fälle liegt hier vor. Die Vollmacht vom 26.06.2020 wurde im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens vorgelegt, das einen Rentenbescheid vom 21.03.2020 betraf. Bei dem hier streitigen Rentenbescheid vom 26.05.2020 wurde lediglich eine Neuberechnung der Rente durchgeführt, zum einen wegen der jährlichen Rentenanpassung, zum anderen wegen eines Zuschlags an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn der Altersrente. Die jährlichen Rentenanpassungen stellen lediglich die wertmäßige Fortschreibung bereits zuerkannter Rentenrechte nach § 65 SGB VI dar. Danach werden zum 1. Juli eines jeden Jahres die Renten angepasst, indem der bisherige aktuelle Rentenwert durch den neuen aktuellen Rentenwert ersetzt wird. Die Rentenanpassung beinhaltet lediglich die zukunftsgerichtete und begünstigende isolierte Ersetzung der im bisherigen Bescheid zugleich enthaltenen Höchstbegrenzung der monatlichen Rentenansprüche aufgrund der Neuberechnung in einem generell festgelegten Modus (LSG Baden-Württemberg 16.07.2021, L 4 R 2898/20, Rn 28, juris, unter Verweis auf BSG 23.03.1999, B 4 RA 41/98 R, juris, Rn 24; Hessisches LSG 06.07.2018, L 5 R 95/17, Rn 22, juris). Hinzu kommt eine Berücksichtigung von Zuschlägen an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn der Rente wegen Alters (§ 88 Abs 3 SGB VI). Beide Regelungen stehen in keinem engeren Zusammenhang mit den in vorangegangenen Verwaltungsverfahren und den darin streitigen Punkten. Insofern ist die Entscheidung der Beklagten vertretbar, den Rentenanpassungsbescheid mit dem darin enthaltenen Zuschlag an Entgeltpunkten der Klägerin direkt bekanntzugeben. Ein Ermessensfehler liegt somit nicht vor. Die einmonatige Frist zur Widerspruchseinlegung (§ 84 Abs 1 SGG) begann damit mit dem Datum der Bekanntgabe des Bescheides vom 25.06.2020 bei der Klägerin und war am 24.09.2020 längst abgelaufen.
 
Der Senat kann offenlassen, ob der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 27 Abs 1 SGB X zu gewähren wäre, sofern sie davon ausging, auch der hier streitige Bescheid sei ihrem Bevollmächtigten bekanntgegeben worden, der sich dann auch um einen rechtzeitigen Widerspruch kümmern würde. Aus der Akte ergibt sich nicht, ob die Klägerin darauf vertraute, dass auch Folgebescheide an ihren Klägerbevollmächtigten übersandt würden, und ob sie überhaupt Widerspruch einlegen wollte. Letzteres ist angesichts des Regelungsgehaltes des Bescheides vom 25.06.2020 eher zweifelhaft. Jedenfalls ist der Antrag auf Wiedereinsetzung nicht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 27 Abs 2 SGB X gestellt bzw der versäumte Widerspruch auch nicht innerhalb dieser Frist nachgeholt worden (§ 27 Abs 2 Satz 3 SGB X). Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, erfuhr der Klägerbevollmächtigte spätestens am 23.06.2020 von der Existenz des Bescheides vom 25.06.2020. Dennoch hat er erst weit nach Ablauf der Zweiwochenfrist und damit verfristet Widerspruch eingereicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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