S 20 AS 327/22 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 20 AS 327/22 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 336/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz (durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage) wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
 

Gründe

Der am 13. Juni 2022 gestellte Eilantrag des 63 Jahre alten Antragstellers mit dem sinngemäßen Begehren,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2022 anzuordnen und so zu verhindern, dass die Antragsgegnerin einen Rentenantrag stellt,
ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.

Gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Ein solcher Fall ist in § 39 Nr. 2 SGB II vorgeschrieben. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, keine aufschiebende Wirkung. Mit Bescheid vom 3. Dezember 2021, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2022, forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente bei dem für ihn zuständigen Rententräger auf; die hiergegen fristgerecht erhobene Anfechtungsklage des Antragstellers, die unter dem Aktenzeichen S 20 AS 328/22 ER geführt wird, hat keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann in diesem Fall auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen.

Im Rahmen der Prüfung des § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung an, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist; demgegenüber wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet, wenn die Klage aussichtslos ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12f). Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Umkehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12f). Bei der Interessenabwägung ist in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG zudem zu berücksichtigen, dass aufgrund der vom Gesetzgeber in diesen Fällen grundsätzlich angeordneten sofortigen Vollziehung ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Vollziehungsinteresses gegenüber dem Aufschubinteresse des Antragstellers abzuleiten ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Die aufschiebende Wirkung kann daher in diesen Fällen nur angeordnet werden, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist.

Die genannten Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung sind hier nicht erfüllt. Die Aufforderung an den Antragsteller, vorzeitig Altersrente zu beantragen, ist rechtmäßig erfolgt.

Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist § 12 a iVm. § 5 Abs. 3 Satt 1 SGB II. Nach § 12 a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist, wobei nach § 12 a Satz 2 Nr. 1 SGB II keine Verpflichtung besteht, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II die SGB II-Leistungsträger den Antrag selbst stellen.

Der Anwendungsbereich der Vorschriften ist zunächst eröffnet, denn der Antragsteller ist Leistungsberechtigter im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II und er kann mit Vollendung seines 63. Lebensjahres am XX.XX.2022 eine vorzeitige Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 236 SGB VI in Anspruch nehmen und hierdurch seine Hilfebedürftigkeit vermindern. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente gehört grundsätzlich zu den vorrangigen Leistungen - trotz den mit ihr verbundenen dauerhaften Rentenabschlägen für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (BSG, Urteil vom 9. August 2018 - B 14 AS 1/18 R – Juris, Rdn. 14).

Der Antragsteller ist auch nicht nach § 1 UnbilligkeitsV von seiner Verpflichtung zur Rentenantragstellung befreit, weil die Inanspruchnahme etwa unbillig wäre. Die auf die Verordnungsermächtigung des § 13 Abs. 2 SGB II gestützte Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (UnbilligkeitsV vom 14. April 2008, BGBl I 734, idF. der Änderung vom 4. Oktober 2016, BGBl. I 2210) regelt abschließend die Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen Leistungsberechtigte zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht verpflichtet sind (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R -, in juris, Rdn. 23 f.; BSG, Urteil vom 9. August 2018 - B 14 AS 1/18 R – in juris, Rdn. 17). Die Tatbestände der §§ 2 bis 6 UnbilligkeitsV sind hier nicht erfüllt.

Weder würde die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente zum Verlust eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld führen (§ 2 UnbilligkeitsV), weil der Antragsteller keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem SGB III hat, noch ist die Beantragung der vorgezogenen Altersrente deshalb unbillig, weil der Antragsteller in nächster Zukunft die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch nehmen kann (§ 3 UnbilligkeitsV). Abschlagsfrei in Anspruch nehmen könnte der Antragsteller die Altersrente erst ab dem 1. August 2025. Ein Zeitraum - wie hier - von mehr als drei Jahren zwischen dem Beginn der vorzeitigen Inanspruchnahme mit Abschlägen nach Vollendung des 63. Lebensjahres bis zur abschlagsfreien Inanspruchnahme ist nicht als „in nächster Nähe“ bzw. „alsbald“ bevorstehende abschlagsfreie Altersrente anzusehen. Davon wird bei einem Zeitraum von bis zu vier Monaten ausgegangen, der hier weit überschritten wird (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2020, - B 4 AS 12/20 R -, in juris, Rdn. 21). 

Schließlich greifen auch die Ausnahmebestimmungen in den §§ 4 und 5 UnbilligkeitsV nicht. Weder ist der Antragsteller sozialversicherungspflichtig beschäftigt oder erzielt aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen (§ 4 UnbilligkeitsV), noch steht eine solche Erwerbstätigkeit in nächster Zukunft bevor (§ 5 UnbilligkeitsV). Hierfür reicht nicht die bloße Möglichkeit oder Absichtsbekundung einer Arbeitsaufnahme irgendwann in der Zukunft, vielmehr muss die Aufnahme einer solchen Erwerbstätigkeit durch die Vorlage eines Arbeitsvertrages oder anderer ebenso verbindlichen, schriftlichen Zusage konkret glaubhaft gemacht werden. Im vorliegenden Fall genügt die vom Antragsteller aufgezeigte Möglichkeit, bis zum regulären Renteneintritt in drei Jahren noch einmal im Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können, nicht. Die bevorstehende Aufnahme einer konkreten Erwerbstätigkeit hat er nicht dargelegt.

Auch eine Unbilligkeit nach § 6 UnbilligkeitsV liegt hier nicht vor. Nach § 6 Satz 1 UnbilligkeitsV ist die Inanspruchnahme unbillig, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden. Dies ist gemäß Satz 2 insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist, als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.

Zwar sind die Voraussetzungen des Regelbeispiels aus Satz 2 der Vorschrift hier offensichtlich erfüllt, da der Antragsteller laut der genannten Rentenauskunft lediglich eine Regelaltersrente i.H.v. 496,57 € zu erwarten hat und 70 % hiervon seinen aktuellen Bedarf nach dem SGB II i.H.v. 869 € nicht einmal zur Hälfte abdecken würden.

Jedoch fehlt es an der weiteren Voraussetzung für eine Unbilligkeit aus Satz 1 der Vorschrift, wonach die Inanspruchnahme nur dann unbillig ist, wenn hierdurch eine Hilfebedürftigkeit im Alter verursacht wird. Dies ist hier nicht der Fall, da der Antragsteller prognostisch, d.h. unter Berücksichtigung des erwartbaren Geschehensablaufs, auch mit seiner (abschlagsfreien) Regelaltersrente noch bedürftig und auf Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII angewiesen sein wird. Dass die Rentenabschläge bei einer „erzwungenen“ vorzeitigen Beantragung von Altersrente für die Entstehung der Bedürftigkeit ursächlich sein müssen, folgt zum einen aus dem Wortlaut der Vorschrift („dadurch“), der ein Kausalitätserfordernis zum Ausdruck bringt. Zweitens ergibt sich dies aus dem Willen des Verordnungsgebers, wonach Ziel der Vorschrift sein soll, Hilfebedürftigkeit im Alter zu vermeiden, die „allein durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente und die damit verbundenen Abschläge in der Höhe der Altersrente resultiert“ (Begründung zum Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Erste Verordnung zur Änderung der Unbilligkeitsverordnung, Bearbeitungsstand 19. September 2016, S. 6). Dieses Ziel kann aber nur dann überhaupt erreicht werden, wenn eine Hilfebedürftigkeit im Alter bei abschlagsfreier Rente voraussichtlich gerade nicht eintreten würde. Muss der Betroffene aller Voraussicht nach ohnehin auch nach Renteneintritt bedürftigkeitsabhängige Leistungen in Anspruch nehmen, ist nicht ersichtlich, was unter Billigkeitsgesichtspunkten gegen eine vorzeitige Inanspruchnahme der Rente sprechen könnte, weil dann eine damit verbundene substantielle Verschlechterung der Lebenssituation nicht ersichtlich ist. Bei dem Antragsteller würde die zu erwartende abschlagsfreie Rente mit knapp 500 € aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichen, um seinen Lebensunterhalt dauerhaft selbständig zu bestreiten. 

Soweit der Antragsteller einen Altfall-Bestandsschutz geltend macht, da er schon seit 2007 im SGB-II-Leistungsbezug stehe, vermag auch dieser Einwand nicht durchzugreifen, da die Ausnahmetatbestände in der Unbilligkeitsverordnung abschließend geregelt sind. Erfasst sind eng umgrenzte Fälle, in denen die Verpflichtung eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen, unbillig wäre.

Auch im Übrigen ist die Aufforderung zur Rentenantragstellung nicht zu beanstanden. Insbesondere hat die Antragsgegnerin bei der Entscheidung über die Aufforderung ihr Entschließungsermessen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R, BSGE 119, 271-286, SozR 4-4200 § 12a Nr. 1) erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Zudem ist das Vorliegen eines besonderen, atypischen Falles im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht ersichtlich, der überhaupt erst das Erfordernis zur umfangreichen Ermessensabwägung auslösen würde. Trotzdem hat die Antragsgegnerin die relevanten Belange im Widerspruchsbescheid umfassend und unter Berücksichtigung des Ermessenszwecks abgewogen.

In der an den Antragsteller gerichteten Aufforderung, eine abschlagsbehaftete Altersrente zu beantragen, ist auch kein Verfassungsverstoß zu erkennen. Insofern wird auf die entsprechenden Ausführungen in den Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 23. Juni 2016 (- B 14 AS 46/15 R -, in juris) und 19. August 2015 (a.a.O.) Bezug genommen (ebenso Hess. Landessozialgericht, Beschluss vom 15. Dezember 2020, L 6 AS 554/20 B ER, in juris). 

Zudem hat die Antragsgegnerin zwischenzeitlich von ihrem Antragsrecht nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II Gebrauch gemacht. Da die Antragstellung bereits am 23. Mai 2022 erfolgt ist, kommt das Eilrechtschutzgesuch des Antragstellers zu spät, um eine Antragstellung zu verhindern.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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