S 26 VE 9/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 26 VE 9/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 VE 32/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 3/22 B
Datum
Kategorie
Urteil

1.    Die Klage wird abgewiesen. 

2.    Der Beklagte hat dem Kläger keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG). 

Der 1986 geborene Kläger, deutscher Staatsangehöriger mit kurdischem Hintergrund, wurde am 4. September 2009 auf dem Nachhauseweg von der Abendschule in der S-Bahn von einem Mitschüler, Herrn C. M., durch einen Faustschlag im Gesicht verletzt.

Der Kläger erlitt eine Schwellung am rechten Jochbein sowie eine Platzwunde, die im Krankenhaus genäht werden musste. Wegen dieser Tat erließ das Amtsgericht Groß-Gerau gegen Herrn M. einen Strafbefehl über eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen. Die Höhe eines Tagessatzes wurde auf 20 € festgesetzt.

Der Kläger versuchte in der Folgezeit erfolglos, einen Schulverweis gegen den Täter zu erreichen. Der Kläger selbst war nach der Tat für einen Monat arbeitsunfähig und unterbrach die Schule für sieben Monate. 

Anfang Dezember 2011 bestand der Kläger sein Abitur, parallel zur Absolvierung der Abendschule war der Kläger berufstätig. 

Nach der Tat kam es zu weiteren Zusammentreffen zwischen dem Kläger und dem Täter bzw. der Familie des Täters in den Jahren 2009, 2012 und 2015, bei denen der Kläger sich durch den Täter bzw. dessen Familie bedroht fühlte. Die vom Kläger im selben Zeitraum gestellten Strafanzeigen wegen Sachbeschädigung und Bedrohung stellte die Staatsanwaltschaft Darmstadt jeweils ein. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen den Täter wies das Amtsgericht Rüsselsheim mit Beschluss vom 28. November 2012 zurück. 

Der Kläger beantragte am 23. Dezember 2011 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG wegen eines tätlichen Angriffs durch einen Mitschüler. Infolge des Angriffs leide er an Schlafstörungen, permanenter Müdigkeit, Konzentrationsstörungen sowie Trägheit. Er schlafe an manchen Tagen 14-16 Stunden.

In einem von dem Beklagten angeforderten Befundbericht teilte der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. D. am 3. August 2012 mit, bei dem Kläger beständen neben den körperlichen Verletzungen (Platzwunde rechte Stirn, Verstauchung der Halswirbelsäule sowie einer Prellung des linken Unterarmes) psychische Folgen, da er an einem krankhaften Schlafbedürfnis leide. Dem Befundbericht war ein Arztbrief von Frau Dr. E. beigefügt, die über eine Vorstellung des Klägers am 19. Februar 2010 im Schlaflabor berichtete, dass das Schlafproblem des Klägers seit der Schulzeit bestehe, die Tagesmüdigkeit nach dem Vorfall mit Gewaltandrohung zunehmend sei.

Beigefügt war weiterhin ein Arztbrief des Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie vom 22. September 2010 mit der Diagnose eines krankhaft gesteigerten Schlafbedürfnisses nach traumatischen Erfahrungen, ohne Hinweis auf organische Schädigung. 

In einem weiteren von dem Beklagten angeforderten Befundbericht teilte der Diplompsychologe H. unter dem 15. August 2012 mit, dass er die Diagnose rezidivierende depressive Störung bei Verdacht auf F60.0 paranoide Persönlichkeitsstörung mit passiv-aggressiven Anteilen gestellt habe. Er habe den Kläger als durchaus therapiebedürftig eingeschätzt, dieser sei jedoch in seinem Denken wenig beweglich gewesen und habe andere Sichtweisen nicht annehmen können. 

Unter dem 10. Oktober 2012 erfolgte eine Begutachtung nach dem OEG durch die Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Sozialmedizin Frau Dr. F. Diese führte aus, dass nach der hier erhobenen Anamnese und dem Untersuchungsbefund die diagnostischen Erwägungen des Psychotherapeuten von 2011 nicht nachzuvollziehen seien. In der Anamnese fehle jeder Nachweis für eine weitere depressive Episode. Auch die Diagnose einer paranoiden Persönlichkeitsstörung stelle sich nicht dar, vielmehr die verstärkte Wachsamkeit und erhöhte Vorsicht nach traumatischer Erfahrung. Weiterhin diagnostizierte Frau Dr. F. in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 15. November 2012 eine posttraumatische Verbitterungsstörung. Im Vordergrund stehe ein Verbitterungsaffekt bei dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, mit wahrnehmbarer Gereiztheit bei sonst normalem Affekt. Ein Erinnern an die Tat werde berichtet mit dem Gefühl, in die Opferrolle hineingerutscht zu sein und Rachegedanken zu spüren. Begleitet würden die psychischen Symptome von vermehrtem Schlafbedürfnis. Zugrunde liegend sei eine Persönlichkeit mit perfektionistischem Anspruch und hohem Gerechtigkeitsgefühl, das von der kulturellen Zugehörigkeit geprägt werde. Es sei dem Kläger trotzdem nach der Schädigung gelungen, neben seiner Berufsausübung das Gymnasium mit dem Abitur zu beenden. Das schädigende Ereignis sei allein Ursache für die seelische Störung. Eine psychische Vorerkrankung im Sinne einer behandlungsbedürftigen Störung sei nicht feststellbar. Sie sehe einen GdS von 20 für die seelische Störung ab Antragstellung an und einen GdS unter 10 für die reizlose Narbe.

Mit Bescheid vom 20. November 2012 erkannte der Beklagte als gesundheitliche Folge der Tat vom 4. September 2009 eine reizlose Narbe oberhalb der rechten Augenbraue und eine seelische Störung an. Der Beklagte stellte weiterhin fest, dass der Kläger für die anerkannten Gesundheitsstörungen mit Wirkung ab dem 23. Dezember 2011 Anspruch auf Heilbehandlung habe. Dabei werde ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) um weniger als 25 verursacht. Zur Begründung führte der Beklagten an, nach § 1 OEG erhalte diejenige, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten habe, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Nach § 31 BVG werde eine Rentenzahlung bei einem GdS von mindestens 25 gewährt. Dieser rentenberechtigende Grad liege bei dem Kläger nicht vor.

Hiergegen legte der Kläger am 20. Dezember 2012 Widerspruch ein. Die enorme Schlafzeit habe einen erheblichen Einfluss auf sein Leben und seine Arbeit. Die Tat habe auch kulturelle Auswirkungen auf ihn. In seiner kurdischen Gesellschaft habe er sein Gesicht verloren und müsse zukünftige Auseinandersetzungen mit dem Täter und dessen Familie befürchten, weil er eine Anzeige erstattet habe und nicht, wie der Täter, seine Fäuste benutzt habe. 

Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. März 2013 zurück. Nach dem Ergebnis der durchgeführten versorgungsärztlichen Untersuchung und Begutachtung - unter Berücksichtigung von zuvor schon beigezogenen diversen medizinischen Befundunterlagen – lägen bei dem Kläger Gesundheitsstörungen vor, welche nach den maßgebenden Beurteilungsrichtlinien, der Versorgungsmedizin-Verordnung, einen rentenberechtigten GdS von mindestens 25 nicht erreichten. Art und Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigungen seien nach den objektiven Befunden mit einem GDS von unter 25 hinreichend bewertet worden. Der GdS schließe zudem neben den Funktionseinbußen auch die damit einhergehenden Begleiterscheinungen (Schmerz oder seelische Beeinträchtigung) mit ein.

Der Kläger hat am 11. April 2013 Klage erhoben. Der GdS sei mit mindestens 30 festzustellen und dem Kläger eine Grundrente zu gewähren. Der Kläger habe sein Ohnmachtsgefühl nicht überwunden und sein Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen seien nach dem Angriff deutlich herabgesetzt. Insbesondere plagten ihn Schamgefühle, als Mann versagt zu haben. Das krankhafte Schlafbedürfnis und die ständige Müdigkeit am Tag führten zu Spannungen und Konflikten sowohl am Arbeitsplatz als auch im persönlichen Umfeld. Während der Berufstätigkeit komme es aufgrund der Müdigkeit zu Konflikten mit Kollegen und Vorgesetzten. Im privaten Umfeld habe der Kläger sein Gesicht verloren, da er als Mann zum Opfer geworden sei und keine Rache am Täter genommen habe. Es sei in den Arztberichten teilweise falsch dargestellt, dass bereits vor der Tat ein erhöhtes Schlafbedürfnis bestanden habe. 

Der Kläger beantragt, 
den Bescheid vom 20.11.2012 abzuändern und den Widerspruchsbescheid vom 12.03.2013 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Grundrente ab dem 23.11.2011 nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 zu gewähren. 

Hilfsweise wird beantragt, 
ein weiteres psychiatrisches Gutachten von Amts wegen einzuholen. 

Der Beklagte beantragt, 
die Klage als unbegründet abzuweisen. 

Der Beklagte verweist insbesondere auf die neurologisch-psychiatrische Stellungnahme ihrer medizinischen Beraterin Dr. P., wonach der Kläger nach eigenen Angaben an einem krankhaft erhöhten Schlafbedürfnis leide, jedoch sich an keiner Stelle –  weder in den Untersuchungen der Schlaflabore noch in seinen eigenen Angaben – belegen lasse, in welcher Ausprägung es vorhanden sein solle. Von ihm werde weder die jetzige Zeitspanne noch plötzliches Einschlafen am Tag beschrieben oder belegt. Dass er zu spät zur Arbeit komme, könne andere Ursachen haben. Es werde auch nicht berichtet, dass seine Fahrtüchtigkeit aufgehoben sei.

Das Gericht hat bei den behandelnden Ärzten des Klägers, dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. D., bei der Psychologischen Psychotherapeutin G. sowie bei dem psychologischen Psychotherapeuten H., Befundberichte eingeholt. 

Das Gericht hat weiterhin von Amts wegen gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Frau K., eingeholt nebst ergänzender Stellungnahmen vom 28. Juli 2015, 19. Oktober 2015 sowie 10. September 2018. 

Nach der Begutachtung der Sachverständigen handele es sich um eine Anpassungsreaktion im Sinne einer posttraumatischen Verbitterungsstörung nach der Tat, die anhaltend sei und aufrechterhalten werde durch eine Anspruchshaltung, die nicht erfüllt werde. Die Ingangsetzung der Anpassungsstörung stehe im Zusammenhang mit dem Tatereignis. Der Kläger sei weiterhin behandlungsbedürftig, wobei im Verlauf von einer Verschiebung der Wesensgrundlage durch die Auseinandersetzung des Klägers mit verschiedenen Umfeldfaktoren, hier die Auseinandersetzung mit dem früheren Schulbereich, dem Arbeitsplatz und den Behörden, entstanden sei. Ein Teil der Anpassungsreaktion sei auf die Tat zurückzuführen. Zum Zeitpunkt der Begutachtung und auch im Vorfeld sei noch ein GdS von 20 v.H. anzuerkennen. Die körperlichen Folgen der Tat, die Narbe im Augenbrauenbereich, bedinge kein GDS von 10 v.H. Eine besondere berufliche Betroffenheit sei nicht anzuerkennen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 16. Dezember 2014 sowie die ergänzenden Stellungnahmen Bezug genommen.

Nachdem sich der Kläger mit dem gutachterlichen Ergebnis des von Amts wegen eingeholten Gutachtens auch nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme vom 19. Oktober 2015 nicht hat einverstanden erklären können, hat er gemäß § 109 SGG einen Antrag auf Einholung eines Gutachtens bei dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. gestellt. 

Dieser kam in seinem unter dem 3. Juni 2016 erstatteten Gutachten zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass von insgesamt bedeutsamen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gesprochen werden könne, die einen GdS von 30-40 begründeten. Die Ausführungen des Klägers bei der Untersuchung einschienen in einem solchen Ausmaß glaubhaft, dass sie in der vorliegenden Stellungnahme auch zur Grundlage der Beurteilung herangezogen werden könnten. Es entstehe der Eindruck, dass Frau Dr. P. und Frau Dr. K. von der Glaubhaftigkeit des Schweregrades der vorgetragenen Beschwerden durch den Kläger nicht hätten überzeugt werden können. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 3. Juni 2016 Bezug genommen. 

Das Gericht hat von Amts wegen gemäß § 106 SGG ein Gutachten bei dem Sachverständigen Dr. L., Arzt für Psychiatrie und Neurologie in Auftrag gegeben. Dieser hat die Akten zurückgegeben, da ihm aufgefallen sei, dass in der Akte eine das Altersmaß überschreitende Hirnatrophobie genannt werde. Es müsse daher abgeklärt werden, ob es sich um einen hirnatrophischen Prozess handele.

Das Gericht hat aufgrund dessen ein Gutachten gemäß § 106 SGG bei dem Facharzt für Neurologie, Dr. T., in Auftrag gegeben. Unter dem 1. April 2017 erstattete Dr. T. ein neurologisches Gutachten. Darin führt er aus, dass ein hirnatrophischer Prozess äußerst unwahrscheinlich sei. Es liege keine posttraumatische Belastungsstörung vor, auch sei eine chronische Depression als Unfallfolge nicht plausibel. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 1. April 2017 Bezug genommen. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen. 


Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 20. November 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. März 2013 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. 

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdS und damit keinen Anspruch auf Zahlung einer Grundrente. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Schädigung kann auch psychischer Natur sein (vgl. BSG, Urteil vom 15. November 1955 – 10 RV 85/54).

Nach § 1 Abs. 1 OEG muss die gesundheitliche Schädigung „infolge“ des vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs erlitten worden sein. Tätlicher Angriff, Schädigungen und Schädigungsfolgen müssen durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sein (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 V 1/12 R). Es gilt durch den Verweis in § 1 OEG auf das BVG auch im OEG wie in den anderen Bereichen des Sozialen Entschädigungsrechts die Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung und zwar sowohl für die haftungsbegründende als auch für die haftungsausfüllende (medizinische) Kausalität, wobei für letztere gem. § 1 Abs. 12 OEG i.V.m. § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs ausreicht. Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i.S. d. § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit „ja“ oder mit „nein“ beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad der Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein deutliches Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (vgl. BSG, aaO.). Eine weitere Konkretisierung erfolgt in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“, seit dem 01.01.2009 durch die Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) (BGBl. I S. 2904).

Der Kläger ist durch den vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff seines damaligen Mitschülers geschädigt worden, wie es der Beklagte dem Grunde nach im Bescheid vom 20. November 2012 anerkannt hat. 

Maßgeblich für die Bemessung des GdS und die Gewährung einer Rente sind insoweit §§ 30 Abs. 1, 31 Abs. 1 BVG. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG erhalten Beschädigte bei einem Grad von mindestens 30 eine Grundrente. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mitumfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVG). Als Grundlage für die Beurteilung der für die Bemessung des GdS erheblichen medizinischen Sachverhalte dient die VersMedV.

Unter Berücksichtigung dieser Beurteilungskriterien hat der Beklagte den GdS zutreffend mit weniger als 25 bewertet. 

Die erkennende Kammer stützt sich dabei auf das Ergebnis der umfassenden medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, insbesondere auf das nachvollziehbare Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen Frau K. nebst den ergänzenden Stellungnahmen. 

Nach den vorliegenden Befundunterlagen liegt bei dem Kläger als Gesundheitsstörung eine seelische Störung in Form einer Anpassungsstörung mit chronifizierter Symptomatik vor. Die Anpassungsstörung stellte die Sachverständige K. in ihrem Gutachten vom 16. Dezember 2014 fest. Die Kammer nimmt insoweit Bezug auf die schlüssigen Ausführungen der Sachverständigen auf den Seiten 26 ff. des Gutachtens sowie S. 3 f. der ergänzenden Stellungnahme vom 28. Juli 2017. 

Die bei dem Kläger vorliegende Gesundheitsstörung ist dabei nicht vollumfänglich als Schädigungsfolge anzusehen. Die Sachverständige K. kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesundheitsstörung des Klägers auf psychischem Gebiet nicht nur auf das schädigende Ereignis, sondern auch auf die Persönlichkeitszüge des Klägers zurückzuführen ist. 

Die Sachverständige K. hat für die Kammer überzeugend dargelegt, dass es durch die Auseinandersetzung des Klägers mit verschiedenen Umfeldfaktoren, hier die Auseinandersetzung mit dem früheren Schulbereich, dem Arbeitsplatz und den Behörden, mit der Zeit zu einer Verschiebung der Wesensgrundlage bei Aufrechterhaltung der seelischen Störung gekommen ist, wodurch die Gesundheitsstörung nicht mehr nur auf das schädigende Ereignis zurückzuführen ist.

Die Sachverständige bejaht in diesem Zusammenhang eine so genannte Verschiebung der Wesensgrundlage. 

Es war für die Kammer zu klären, ob die beim Kläger im Vordergrund stehenden psychischen Beeinträchtigungen allesamt im Sinne einer Entstehung auf den Angriff des Mitschülers vom 4. September 2009 zurückzuführen sind.

Bei länger anhaltenden psychoreaktiven Gesundheitsstörungen ist ergänzend zu prüfen, ob und inwieweit auch der weitere Verlauf noch rechtlich wesentlich auf die ursprünglichen Reaktionen zurückzuführen ist und nicht vielmehr Begehrungsvorstellungen oder sonstige aus der Psyche wirkende Kräfte so weit in den Vordergrund treten, dass sie für den weiteren Verlauf die rechtlich allein wesentliche Ursache bilden (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 164 f.). Bei länger anhaltenden Störungen und chronisch verlaufenden Entwicklungen ist zu prüfen, ob die Schädigungsfaktoren fortwirken oder schädigungsunabhängige Faktoren für das Bestehenbleiben des Leidensbilds verantwortlich sind (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 22. September 2016 – L 1 VE 7/12).

Die Sachverständige K. hat nach gründlicher Auswertung der Aktenlage und Untersuchung des Klägers für die Kammer überzeugend dargelegt, dass die Störung gediehen ist auf dem Boden akzentuierter Persönlichkeitszüge mit auch perfektionistischen und passiv-aggressiven Anteilen, verbunden mit einem kulturspezifischen Konzept. Die Sachverständige führt weiter überzeugend aus, dass ein Verharren in der Störung aufzuzeigen ist verbunden mit der subjektiven Forderung nach Gerechtigkeit und Ausgleich, so dass die Störung nicht nur auf die Tat zurückzuführen ist, sondern auch im Zusammenhang zu sehen ist mit einem entsprechenden Wertemodell und auf dem Boden der akzentuierten Persönlichkeitszüge. Insgesamt gelangt die Sachverständige zu dem für die Kammer nachvollziehbaren Ergebnis, dass der Ehrbegriff im Vordergrund steht und nicht die körperliche Verletzung. 

Den Ausführungen der Sachverständigen schließt sich die Kammer vollumfänglich an. Hinsichtlich des Schulbereichs, des beruflichen Umfelds und innerhalb der Familie vermag die Kammer die psychischen Störungen nicht mehr direkt als fortwirkenden Schädigungsfaktor anzusehen, sondern diese beruhen vielmehr auf einer vermeintlich versagten Anerkennung einer traumatischen Beschädigung. 

Für eine Verschiebung der Wesensgrundlage spricht aus Sicht der Kammer auch, dass sich die Tat bereits im Jahr 2009 ereignete, eine konsequente ambulante Psychotherapie bei der psychologischen Psychotherapeutin G. jedoch erst in einem deutlichen zeitlichen Abstand von mehreren Jahren seit Januar 2014 erfolgte. Zudem absolvierte der Kläger im Dezember 2011, also noch in einem engeren zeitlichen Kontext, erfolgreich sein Abitur. 

Ein GdS von mindestens 30 ist vorliegend nicht gegeben, da bei dem Kläger lediglich eine leichtere psychische Störung vorliegt. Diese ist durch die Beklagte zu Recht mit einem GdS von weniger als 25 bewertet. 

Nach Teil B Ziffer 3.7 Versorgungsmedizinische Grundsätze sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem GdS von 0-20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdS von 30-40 und schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 50-70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 80-100 festzusetzen. 

Die Kammer folgt dabei der überzeugenden Bewertung der Sachverständigen Frau K., die den GdS mit noch 20 festsetzte. Auch bei der Höhe des GdS war dabei der Umstand zu berücksichtigen, dass mehrere kausale Ursachen für die bei dem Kläger vorliegende Gesundheitsstörung bestehen.

Den von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellte GdS von 30-40 hält die Kammer hingegen nicht für zutreffend. 

Die Kammer hat sich dabei mit der Begründung des Gutachters Dr. S. auseinandergesetzt, dass es sich bei dem Kläger um seelische Beschwerden handele, die ein ärztlicher Untersucher in erster Linie durch Schilderungen des Betroffenen erkennen könne. Werden Symptome geschildert, so beurteile der ärztliche Untersucher diese nach ihrem Schweregrad, aber auch auf ihre Glaubhaftigkeit. Die Ausführungen des Gutachters hinsichtlich der Glaubhaftigkeit der Ausführungen des Klägers überzeugen die Kammer nicht. Dabei ist der Kammer bewusst, dass die Feststellung, ob eine Gewalttat Ursache für eine psychische Erkrankung ist, besondere Schwierigkeiten im Gegensatz zu körperlich sichtbaren Schädigungsfolgen aufweist.

Es fehlt zur Begründung der Glaubhaftigkeit eine Auseinandersetzung mit den vorgetragenen seelischen Beschwerden im Hinblick auf die feststehenden Tatsachen. Eine bloße Wiedergabe der klägerischen Ausführungen ohne Plausibilitätsprüfung ist für die Kammer nicht ausreichend. So beschreibt der Sachverständige lediglich, dass der Kläger nach der erlittenen Körperverletzung seine Interessen wie den Besuch der Tanzfolkloregruppen und seine sportlichen Tätigkeiten weitgehend aufgegeben und seinen Freundeskreis verloren habe. Hier fehlt aus Sicht der Kammer eine Auseinandersetzung mit der Frage, in welchem Umfang der Kläger seinen Interessen bis zum Zeitpunkt der Tat überhaupt nachgegangen sein kann. Das folgt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger neben seiner beruflichen Tätigkeit die Abendschule besuchte und sich eine Auseinandersetzung mit der Frage bereits aus zeitlicher Hinsicht aufdrängt. Zum anderen widerspricht diese Feststellung den eigenen Angaben des Klägers aus dem Gutachten der Sachverständigen K., welches dem Gutachter S. vorlag, da er angab, ins Kino zu gehen und sich mit einem Kumpel von der Abendschule in der Freizeit zu treffen. 

Wenn der Sachverständige zur Begründung eines GdS von 30-40 ausführt, dass auf beruflicher Ebene der zeitlich erhöhte Schlafumfang einen Umstand darstelle, an dem sich bedeutsame Arbeitsplatzkonflikte entzündeten, so vermag die Kammer auch dieser Einschätzung nach eigener Überzeugung nicht folgen, da sie keine bedeutsamen Arbeitsplatzkonflikte aufgrund des erhöhten Schlafbedürfnisses erkennen kann. 

Die vom Sachverständigen benannte Mehrzahl von Arbeitsplatzkonflikten folgt jedenfalls nicht aus dem vorgelegten Schreiben des Arbeitsgebers des Klägers, auf welches sich der Sachverständige bezieht. Darin findet sich lediglich die Weisung an den Kläger, für den Zeitraum einer Einarbeitungsphase vormittags in größeren Zeitblöcken von mindestens 2,5 Stunden vor Ort zu sein. Die Kammer vermag hier keinen Bezug zu der Gesundheitsstörung des Klägers zu erkennen. Das liegt vor allem daran, dass der einzig konkrete Vortrag des Klägers hinsichtlich eines Arbeitsplatzkonfliktes sich auf dieses Schreiben bezieht, welches vom 3. Dezember 2014 datiert und damit über fünf Jahre nach der Tat verfasst ist. Des Weiteren gilt für das Arbeitsverhältnis des Klägers nach seinem eigenen Vortrag sowohl Gleitzeit als auch Vertrauensarbeitszeit, so dass die Konflikte insgesamt nicht schlüssig erscheinen.

Auch in der mündlichen Verhandlung vom 13. September 2019 war für die Kammer kein (weiterer) Arbeitsplatzkonflikt des Klägers erkennbar. Auf Nachfrage zu seiner derzeitigen Situation teilte der Kläger mit, seit April oder Mai 2017 für die Dauer von drei Jahren unbezahlt freigestellt zu sein. Gleichzeitig hat er ein Studium begonnen. Die Freistellung war nach Überzeugung der Kammer nicht erkennbar auf einen Arbeitsplatzkonflikt zurückzuführen, sondern beruht wohl auf der parallel erfolgten Einschreibung an einer Universität. 

Auch überzeugt der vom Sachverständigen beschriebene erhöhte Schlafumfang und die beschriebenen Konzentrationsschwierigkeiten die Kammer nicht. Die Angaben hierzu sind für die Kammer nicht nachvollziehbar und widersprüchlich. Der Kläger gab hierzu selbst im Rahmen der Begutachtung bei Dr. S. an, zwei Mal die Woche 8 Stunden zu schlafen und am Tag der Untersuchung um 8 Uhr aufgestanden zu sein. Den gesamten medizinischen Unterlagen lassen sich keine einheitlichen, konkreten Angaben des Klägers hinsichtlich seines von ihm angegebenen erhöhten Schlafbedürfnisses und daraus entstehender Konzentrationsschwierigkeiten entnehmen. 

Eine Tagesmüdigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten hat weder ein Arzt noch ein Gutachter während der Untersuchung beobachtet. Zudem nimmt der Kläger, wie aus den Unterlagen ersichtlich, am Straßenverkehr teil. 

Von einer stärker behindernden Störung, die infolge des tätlichen Angriffs entstanden ist, ist daher nicht auszugehen. Im Ergebnis steht daher zur Überzeugung der Kammer fest, dass bei dem Kläger ein Schädigungsgrad von weniger als 25 vorliegt und die Voraussetzungen für die Zahlung einer Grundrente nicht erfüllt sind. 

Dem Hilfsantrag des Klägers war nicht zu entsprechen, da die Kammer die Einholung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens von Amts wegen als nicht notwendig ansah. Die Ermittlungen waren aus Sicht der Kammer abgeschlossen. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. 

Rechtskraft
Aus
Saved