S 19 KR 969/18

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Hannover (NSB)
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 19 KR 969/18
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
 
  1. Den Bescheid der Beklagten vom 27. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juli 2018 wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, den Kläger für die Zeit vom 2. Juli 2018 bis 22. April 2019 mit der Lipidapheresetherapie als Sachleistung zu versorgen.
  2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Versorgung mit der ambulanten LDL-Apheresetherapie (im Folgenden: Apheresetherapie) als Sachleistung.

Der am H. geborene Kläger war bei der Beklagten bis 30. April 2019 gesetzlich krankenversichert. Er leidet an einer progredienten koronaren Herzerkrankung (Dreigefäßerkrankung), die seit April 2017 medikamentös von Dr. I. J. behandelt wurde. Im August 2017 fand eine Untersuchung des Herzens mittels Katheter statt, bei dem sich Verengungen (Stenosen) des vorderen, absteigenden Asts der linken Koronararterie (sog. LAD (left anterior descending artery)) fanden, die durch Einführung eines Gittergerüsts aus Metall (Stent) im November 2017 behoben wurden. Im November 2017 erlitt er einen Myokardinfarkt (Herzinfarkt). Trotz medikamentöser Therapie konnte das krankhaft erhöhte LDL-Cholesterin nicht ausreichend abgesenkt werden.

Am 22. Januar 2018 stellte Dr. J. bei der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) für den Kläger einen Antrag auf Indikationsstellung der Apheresetherapie (Therapie mittels Verfahren, das aus Blut oder Blutplasma gezielt krankheitsverursachende Stoffe (hier LDL (Low Density Lipoprotein)) mit Hilfe einer Apheresemaschine außerhalb des Körpers entfernt).

Mit Schreiben vom 7. März 2018 teilte die KVN Herrn Dr. J. und der Beklagten mit, dass ihre Apheresekommission die Indikation zur Apheresetherapie befürwortet habe.

Die Beklagte schaltete daraufhin am 13. März 2018 den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK (jetzt MD)) ein, ob die Voraussetzung der Methodenrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) für die Behandlung mittels Lipidapherese erfüllt seien.

Mit gutachterlicher Stellungnahme vom 22. März 2018 kam der MDK zu dem Ergebnis, dass beim Kläger keine Ultima-Ratio-Situation vorliege, da die Behandlungsansätze über Fibrate (Stoff zur Behandlung hoher Blutfettwerte) sowie Ernährungs- und Bewegungsmedizin noch nicht ausgeschöpft worden seien. 

Mit Bescheid vom 27. März 2018 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, da der MDK verneint habe, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Apheresetherapie nicht erfüllt seien. 

Dagegen hat der Kläger mit Schreiben vom 10. April 2018 Widerspruch eingelegt.

Mit Schreiben vom 25. April 2018 beauftragte die Beklagte den MDK erneut, welcher indes zum selben Ergebnis kam. 

Daraufhin stellte der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte beim hiesigen Gericht am 13. Juni 2018 einen Antrag auf einstweiligen Rechtschutz, aufgrund dessen das Gericht die Beklagte mit Beschluss vom 29. Juli 2018 verpflichtete, für die Zeit vom 1. Juli 2018 bis zum 30. Juni 2019 den Kläger mit der Apheresetherapie als Sachleistung zu versorgen (S 2 KR 772/18 ER). Der Kläger ließ die Apheresetherapie daraufhin vom 2. Juli 2018 bis 22. April 2019 zulasten der Beklagten durchführen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juli 2018 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Dagegen hat der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte am 18. Juli 2018 beim hiesigen Gericht Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass die Beklagte an das Votum der Apheresekommission der KVN gebunden sei und die Einschaltung des MDK rechtswidrig gewesen sei. Die Voraussetzungen für die Apheresetherapie lägen im Übrigen entgegen der Ansicht des MDK und des Gerichtsgutachters, dessen Gutachten grobe Fehler aufweise, vor. 

 

Er beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 27. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juli 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Lipidapheresetherapie entsprechend dem Votum der Apheresekommission als Sachleistung für den Zeitraum vom 2. Juli 2018 bis 22. April 2019 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

       die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass das Votum nicht bindend sei und den ärztlichen Ausführungen des MDK und des Gerichtsgutachters zu folgen seien.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Gutachtens des Herrn Dr. K.. Er ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für die Apheresetherapie beim Kläger nicht vorlagen. Auf die weiteren Einzelheiten der Ausführungen wird Bezug genommen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen, die dem Gericht zur Entscheidungsfindung vorlagen.

 

Entscheidungsgründe

A.

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27. März 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung der beantragten Apheresetherapie vom 2. Juli 2018 bis 22. April 2019 gemäß §§ 11 Abs. 1 Nr. 4, 27 Abs. 1 S. 1 SGB V.  

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach Satz 2 Nr.1 der Vorschrift insbesondere die ärztliche Behandlung. Neue Behandlungsmethoden dürfen dabei in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu Lasten der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit unter genau festgelegten Prämissen. Dies ist in der Nr.1 der Anlage I der Richtlinie „Methoden vertragsärztlicher Versorgung des G-BA zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung“ (sog. Methoden-Richtlinie) vom 17. Januar 2006 in der Fassung vom 17. November 2017, veröffentlicht im Bundesanzeiger (BAnz AT 31.01.2018 B2), -in Kraft getreten am 1. Februar 2018 - (im Folgenden „Richtlinie“) erfolgt.

In § 3 Abs. 1 und Abs. 2 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie sind die möglichen Indikationen einer LDL-Apheresetherapie bei Hypercholesterinämie aufgeführt.

Nach dessen Abs. 1 können LDL-Apheresen bei Hypercholesterinämie nur durchgeführt werden bei Patienten

  • mit familiärer Hypercholesterinämie in homozygoter Ausprägung oder
  • mit schwerer Hypercholesterinämie, bei denen grundsätzlich mit einer über 12 Monate dokumentierten maximalen diätischen und medikamentösen Therapie das LDL-Cholesterin nicht ausreichend gesenkt werden kann.

Im Vordergrund der Abwägung der Indikationsstellung soll das Gesamt-Risikoprofil des Patienten stehen.

Nach dessen Abs. 2 können LDL-Apheresen bei isolierter Lp(a)- Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankung).

Die Apheresetherapie-Kommission der KVN (im Folgenden „Kommission“) hat beim Kläger die Indikation der Voraussetzungen des § 3 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie bejaht. An dieses Votum ist die Beklagte grundsätzlich gebunden, was bedeutet, dass die Kommission hinsichtlich der medizinischen Voraussetzungen der Apheresetherapie eine Letztentscheidungskompetenz hat; dies ergibt sich anhand der Auslegung der Richtlinie nach Wortlaut deren Wortlaut, dem Sinn und Zweck der Regelungen und der Systematik in der Richtlinie (1.-3.). Eine Ausnahme vom Grundsatz der Bindung ist vorliegend nicht erfüllt (4.).

1. Der Wortlaut der Richtlinie spricht bereits in der Gesamtschau für eine Bindung.

a) Zwar verwendet die Richtlinie für das Votum der Kommission in § 8 Abs. 1 S. 3 sowie Abs. 2 S. 2 der der Nr. 1 der Anlage I den Begriff „Befürwortung“. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch (https://www.duden.de/rechtschreibung/befuerworten) ist unter dem substantivierten Verb der Befürwortung entweder „[durch Empfehlung] unterstützen“ oder „sich für etwas (was man gutheißt) einsetzen“ zu verstehen. Folgt man der ersten Bedeutung wäre dies eher als eine Empfehlung anzusehen. Letztere Bedeutung ist eher im Sinne von „für etwas sprechen“ zu verstehen. Ein verbindlicher Charakter lässt sich hier noch nicht zwingend ableiten, indes aus den folgenden Ausführungen.

b) Den empfehlenden, beratenden Charakter des Votums der Kommission scheint man auf den ersten Blick aus dem Wortlaut von § 6 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie ableiten zu können, die von „beratende Kommission“ (in der Überschrift bzw. in Abs. 4) bzw. „Beratungs-Kommission“ (in Abs. 3) spricht.

aa) Die Bezeichnung als beratende Kommission ist jedoch so zu verstehen, dass die Kommission vor ihrer Entscheidung eine Beratung durchführt und nicht die Krankenkasse berät. Denn aus dem Wortlaut von § 6 Abs. 1 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie („zur Beratung der Indikationsstellungen zur Apheresetherapie“) lässt sich ableiten, dass die Beratung nicht auf die Beratung der Krankenkasse, sondern auf die Indikationsstellung bezogen ist; die Kommission soll die Indikationsstellung unter ihren Mitgliedern beraten.

bb) Überdies wird die Bezeichnung als Beratungs-Kommission indes, wie dies an anderer Stelle der Richtlinie (vgl. bspw. § 7 Abs. 3 der Nr.2 der Anlage I der Richtlinie) erfolgt, durch den Richtliniengeber als Abgrenzung zu einer Qualitätssicherungskommission verwendet.

cc) Aus § 9 Abs. 1 der Nr. 2 der Anlage I der Richtlinie lässt sich zudem ableiten, dass die Bezeichnung als Beratungskommission beim G-BA für solche Kommissionen gebräuchlich ist, bei denen die Kommission auch selbst entscheidet; bei § 9 Abs. 1 der Nr. 2 der Anlage I der Richtlinie ist eine Kommission zur Beratung bei der Erteilung von Genehmigungen für Substitutionsbehandlungen einzurichten; dort bzw. in § 7 Abs. 3 der Nr. 2 wird sie auch als Beratungskommission bezeichnet.

dd) Die Bezeichnung als Beratungsergebnis impliziert nicht zwingend, dass das Ergebnis des Kommissionsverfahren nur eine Beratung der Krankenkasse darstellt, sondern kann auch so verstanden werden, dass die Entscheidung, also das Ergebnis der Entscheidung nach Beratung, mitgeteilt wird. Denn § 6 Abs. 3 S.2 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie bezeichnet das Ergebnis der Beratung als Entscheidung.

 

c) Ebenso spricht § 1 Abs. 1 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie für eine verbindliche Entscheidung der Kommission: dieser besagt, dass die Richtlinie auch die Überprüfung und die Genehmigung der Behandlungsindikation im Einzelfall regelt. Die Richtlinie spricht hier nicht von Genehmigung der Leistung, sondern von der Genehmigung der Behandlungsindikation, mithin die Indikation nach § 3 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie. Es kann auch hier nicht die Genehmigung der Behandlungsindikation durch die Krankenkasse gemeint sein, da § 1 Abs.  1 gerade besagt, dass die Richtlinie die Genehmigung der Behandlungsindikation regelt, während sie indes keine Regelung zur Entscheidung der Krankenkasse über die Behandlungsindikation enthält; mithin kann nur das Votum der Kommission als Genehmigung der Behandlungsindikation gemeint sein.

 

d) Auch der Wortlaut des § 6 Abs. 4 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie („abgelehnte oder angenommene Anträge pro Indikation) spricht für eine Entscheidungsbefugnis der Kommission, denn der Wortlaut sieht ein „Annehmen“ bzw. die „Ablehnung“ des Antrags pro Indikation vor. Hierbei kann nicht die Entscheidung der Krankenkasse gemeint sein. Denn dann würde der Wortlaut von „genehmigten“ Anträgen und nicht von „angenommenen“ Anträgen sprechen; mit der „Annahme“ ist die Annahme der Indikation nach § 3 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie gemeint. Zudem ist in der Richtlinie keine Regelung zu Rückmeldung des Ergebnisses der Entscheidung der Krankenkasse an die Kommission geregelt, sodass mit der Anzahl der abgelehnten Anträge nicht die Ablehnung durch die Krankenkasse gemeint sein kann, da die Kommission ohne vorgesehene Rückmeldung der Krankenkasse keine Zahlen über die bewilligten oder abgelehnten Anträge der Krankenkasse hätte. 

 

e) Gegen eine Letztentscheidungskompetenz der Kommission spricht auch nicht, dass § 7 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie von „Genehmigung der Apheresetherapie“ im Einzelfall spricht.

Dadurch wird zum einem dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich um einen mehrstufiges Verwaltungsverfahren handelt und neben den sachlichen (medizinischen) Voraussetzungen noch weitere persönliche Voraussetzungen (vgl. Becker/Kingreen/Becker/Kingreen, 7. Aufl. 2020, SGB V § 11 Rn. 9-14) für einen Anspruch auf die Behandlung bestehen und zu prüfen sind (vgl. „Versicherte“ nach § 27 SGB V). Denn die Mitgliedschaft des Antragstellers der Apheresetherapie bei der Krankenkasse muss zum Zeitpunkt der Entscheidung der Krankenkasse bestehen und darf nicht gemäß § 19 SGB V erloschen sein oder gemäß 16 SGB V ruhen. Dass solche Fälle faktisch in der Praxis selten vorkommen sollten, entbindet die Krankenkasse nicht von der Prüfung des Bestehens der wirksamen Mitgliedschaft. Auch wenn es eine einfache Prüfung sein mag, hat sie es dies prüfen. Auch dem Argument, dass die Versicherteneigenschaft bereits durch die Vorlage der Versichertenkarten bestätigt wird, kann nicht gefolgt werden, denn die behandelnden Ärzte dürfen aus Zwecken des Patientenschutzes nur nach Vorliegen des Leistungsbescheids durch die Krankenkasse mit der Behandlung beginnen.

 

2. Auch aus dem Zweck der Errichtung der Kommission lässt sich ableiten, dass die Entscheidung der Kommission verbindlich sein soll. Denn die Entscheidung durch die Kommission dient der Gewährleistung einer indikationsgerechten Durchführung von Apheresen (Qualitätssicherung) (vgl. Überschrift und Abs. 1 der Nr. 2.2. der tragenden Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung: Gewährleistung einer indikationsgerechten Durchführung von Apheresen und Maßnahmen zum Datenschutz vom 17. Juli 2014) und ist deshalb aus interdisziplinären Ärzten zusammengesetzt, die in der Durchführung der Apheresen erfahren sind (vgl. Abs. 2 von Nr. 2.2. der tragenden Gründe).

Würde nun die Krankenkasse anders entscheiden, würde sie sich über die Expertise und das Prinzip der Interdisziplinarität der Ärzte hinwegsetzen. Das vom G-BA aufgestellte Verfahren würde seinen Sinn verfehlen und die hierzu von ihm getroffenen Regelungen leerlaufen.

Die Krankenkasse ist nach der Indikationsstellung durch die Kommission nicht befugt, den MDK zu Rate ziehen, da dessen Einbeziehung rechtswidrig wäre.

a) Dass eine Beauftragung des MDK nicht zulässig ist, ergibt sich erstens daraus, dass die Beteiligung des MDK in der Kommission mit zwei Ärzten nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie keinen Sinn ergeben würde. Denn warum sollte eine Beteiligung des MDK in der Beratung stattfinden, wenn später ohnehin der MDK beteiligt werden würde, da die Krankenkasse, der hinsichtlich der medizinischen Voraussetzungen der Apheresetherapie die Sachkunde fehlt, den MDK beauftragen müsste.

b) Zweitens würde dann lediglich ein Arzt des MDK die Entscheidung mehrerer interdisziplinärer Ärzte überstimmen können, was nicht der Intention des Normgebers entspricht, eine Entscheidung durch ein mit der Apheresetherapie erfahrener Praktiker, interdisziplinär besetztes Gremium entscheiden zu lassen.

c) Drittens fehlt es in der Richtlinie an einer Regelung wie in § 10 Abs. 3 der Nr. 19 der Anlage I der Richtlinie: „Die Möglichkeit der zuständigen Krankenkasse, Prüfungen gemäß § 275 Abs. 1 S.1 SGB V durchzuführen, bleibt unberührt.“ Fehlt eine solche Regelung, wie vorliegend bei Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie, ist eine Einschaltung des MDK nach § 275 SGB V nicht möglich.

d) Viertens ist eine Übermittlung der medizinischen Unterlagen an die Krankenkasse bzw. den MDK in der Richtlinie nicht vorgesehen; dies kann man auch daraus ableiten, dass die Kommission gegenüber der Krankenkasse nach § 6 Abs. 3 S.1 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie zu bestätigen hat, dass die notwendigen Befunde vorgelegen haben.

e) Schließlich wollte der Normgeber G-BA nach Prüfanstoß durch das Bundesministerium für Gesundheit die Prüfungskompetenz nicht auf den MDK übertragen, da der G-BA führt aus, dass eine Übertragung dieser Aufgabe auf den MDK aufgrund des Erfordernis der laufenden Abstimmung mit praktisch tätigen Experten auf dem Gebiet ausscheidet (vgl. Nr. 2.2 Abs. 3 S.2 der tragenden Gründe).

f) Die Ausschließung der Prüfungspflicht nach § 275 SGB V als gesetzliche Regelung ist auch durch die Regelung in der untergesetzlichen Richtlinie möglich, da dem G-BA im Rahmen von § 92 SGB V ein weiträumiger Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Ausgestaltung des Verfahrens zukommt; er kann den MDK anders als über § 275 SGB V, nämlich durch Einbeziehung in die Kommission, beteiligen.

g) Sofern man der Argumentation der Beklagten folgen mag, dass § 6 Abs. 3 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie ein Stellungsnahmerecht bei der Beratung der Indikation einräumt, so ist die Einschaltung des MDK jedenfalls nach der Entscheidung der Kommission nicht mehr möglich (s.o.).

3. Eine Bindungswirkung und mithin eine Letztentscheidungskompetenz der Kommission ergibt sich zudem aus dem Stellungsnahmerecht der Krankenkasse nach § 6 Abs. 3 S.1 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie. Denn die Gewährung eines Stellungsnahmerecht ergibt nur dann Sinn, wenn die Entscheidung der Kommission bindend ist. Denn Beteiligungsrechte dienen stets dazu eine Einflussnahme auf den Entscheider durch eine Stellungnahme zu nehmen. Wäre die Krankenkasse selbst hinsichtlich der medizinischen Voraussetzungen der Entscheider, hätte es des Stellungsnahmerecht nicht gebraucht. Welchen Inhalt die Stellungnahme in der hiesigen Konstellation hat, spielt keine Rolle, denn dieses Argument betrifft nur die Frage, dass ein Stellungsnahmerecht besteht und gerade nicht, welchen Zweck oder Inhalt es hat.

Anhand der vorstehend aufgeführten Argumente ist die Kammer davon überzeugt, dass die Kommission die Letztentscheidungskompetenz hinsichtlich der medizinischen Voraussetzungen der Apheresetherapie hat. Diese ist für die Krankenkasse grundsätzlich verbindlich.

 

4. Eine Ausnahme zur grundsätzlichen Bindung an die Entscheidung der Kommission liegt nicht vor. Allenfalls in besonders krassen Ausnahmefällen lässt sich eine Ausnahme von der Verbindlichkeit der Entscheidung begründen, denn ausgehend von allgemeinen Rechtsgrundsätzen gelten Entscheidungen nicht ohne Ausnahme. Bei besonders schweren, offensichtlichen Fehlern kann eine Entscheidung keine Wirkung mehr entfalten. Dies kann man beispielsweise aus § 40 SGB X ableiten, der zwar nicht auf die hiesige Konstellation anwendbar ist, da die Kommission keinen Verwaltungsakt gegenüber der Krankenkasse erlässt; jedoch lässt sich hieraus der Rechtsgedanke entnehmen, dass Entscheidungen dann nicht wirksam sind, soweit sie an einem besonders schwerwiegenden Fehler leiden und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist.

Die Fehlerhaftigkeit einer Entscheidung ist offensichtlich, wenn sie für einen verständigen Beobachter ohne Hinzuziehen von Hilfsmitteln erkennbar ist (BeckOK SozR/Heße, 63. Ed. 1.12.2021, SGB X § 40 Rn. 11). Der besonders schwerwiegende Fehler muss dabei für jeden ohne weiteres erkennbar sein (BSG 4. 9. 2013 - B 10 EG 7/12 R, BSGE 114, 180 = SozR 4-1300 § 31 Nr. 8, BeckRS 2013, 73420; vgl. ferner BSG 7. 9. 2006 - B 4 RA 43/05 R, BSGE 97, 94 = SozR 4-2600 § 118 Nr. 4, BeckRS 2007, 41185). Dies ist vorliegend nicht der Fall:

Für die Krankenkasse als Adressat der Entscheidung waren weder formelle noch materielle Fehler aus den Schreiben der KVN, mit dem die Indikationsstellung für die Apheresebehandlung bejaht wurde, erkennbar.

Das vermeintliche Fehlen der lipidologischen Beurteilung des Klägers als formeller Fehler konnte für die Beklagte gar nicht bekannt sein, da sie gar keine Einsicht in die Verwaltungsakte der KVN hatte. Jedenfalls ist das Fehlen dieser Beurteilung kein schwerwiegender Fehler. Schwerwiegend ist ein Fehler dann, wenn er derart im Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung und den ihr zugrundeliegenden Wertvorstellungen der Gemeinschaft steht, dass es unerträglich wäre, wenn der Entscheidungen die mit und in ihm enthaltenen Rechtswirkungen hätte. Maßgebend ist nicht so sehr und nicht notwendig der Verstoß gegen bestimmte Rechtsvorschriften, sondern der Verstoß gegen die der Rechtsordnung insgesamt oder in bestimmter Hinsicht zugrundeliegenden wesentlichen Zweck- und Wertvorstellungen (Schütze/Roos/Blüggel, 9. Aufl. 2020, SGB X § 40 Rn. 8), wie dies beispielsweise bei absoluter sachlicher Unzuständigkeit, völliger Unbestimmtheit, rechtlicher Unmöglichkeit oder gänzlich fehlendem Antrag der Fall wäre. Hier ist das Fehlen von Teilen der Unterlagen nicht von solchem Gewicht. Die KVN hat den Fall ohnehin mit einem externen Gutachter zumindest gleichwertig lipidologisch beurteilt. 

Auch materielle Fehler bei der medizinischen Beurteilung kann die Beklagte nicht rügen, denn sie kann die Entscheidung nicht ohne Weiteres, ohne Hinzuziehung von Hilfsmitteln erkennen; denn ihr lagen zum Zeitpunkt der Entscheidung weder medizinische Unterlagen vor noch kann sie dies ohne MD(K) beurteilen. Sie hätte erst den MDK beauftragen müssen, wozu sie indes nicht berechtigt ist (siehe oben). Insbesondere ist für sie das Fehlen der zwölfmonatigen dokumentierten diätischen oder medikamentösen Therapie nach § 3 Abs. 1 S.1 Alt. 2 der Nr. 1 der Anlage I der Richtlinie nicht offensichtlich, denn dieser spricht von „grundsätzlich“, was bedeutet, das auch Ausnahmen möglich sind, die die Kommission bejaht haben könnte.

 

Da kein Ausnahmefall begründet ist, sind die medizinischen Voraussetzungen von § 27 SGB V für die Beklagte und das Gericht bindend.

An den sachlichen Voraussetzungen, insbesondere der Mitgliedschaft des Klägers während des hier beantragen Zeitraums bestehen keine Zweifel.

Der Kläger hat mithin ein Anspruch auf die Apheresetherapie. Vorliegend wurde die Verpflichtung entsprechend dem Klageantrag auf Ende der letzten Behandlung vor Ende der Mitgliedschaft begrenzt.

 

B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S.1 SGG und berücksichtigt den Ausgang in der Sache (A.).

Rechtskraft
Aus
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