L 7 KA 12/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 83 KA 90/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 12/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Bei einem wiederholten und anhaltenden Ermittlungsdefizit der Zulassungsbehörden kann im Einzelfall eine eingeschränkte Umkehr der Beweislast gelten, die einen Anspruch auf Sonderbedarfszulassung in einem gesperrten Planbereich begründet.

Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes kann in einem Ausnahmefall eine Verurteilung der Zulassungsbehörden zur Erteilung einer Sonderbedarfszulassung geboten sein.  

 

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Februar 2020 geändert.

 

Die Beschlüsse des Beklagten vom 12. Dezember 2018 und vom 2. März 2022 werden aufgehoben.

 

Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Sonderbedarfszulassung zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie im Umfange eines hälftigen Versorgungsauftrags in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg am Praxissitz G Straße  zu erteilen.

Der Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Erteilung einer Sonderbedarfszulassung im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrags zur vertragsärztlichen psychotherapeutischen Versorgung im Verwaltungsbezirk Berlin Friedrichshain-Kreuzberg.

 

Er ist seit dem 28. September 2009 als psychologischer Psychotherapeut approbiert und seit dem 12. Oktober 2009 im Arztregister eingetragen. Von Oktober 2009 bis März 2014 arbeitete er in seiner Privatpraxis in der LStraße 10245 Berlin-Friedrichshain mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Im April 2014 zog die Praxis in die GStraße , 10243 Berlin-Friedrichshain, um. Neben privatversicherten Patienten und sog. Selbstzahlern behandelte der Kläger auch gesetzlich Versicherte im Kostenerstattungsverfahren.

 

Seit Mai 2015 verfügt der Kläger über einen halben Versorgungsauftrag als niedergelassener Psychotherapeut in K  (Brandenburg). Er hat seinen Schwerpunkt in der Sexualtherapie, der Behandlung von Transsexualismus, der psychoonkologischen Begleitung sowie der Verhaltenstherapie und Traumatherapie. Im  Juni 2015 gab er den Praxissitz in der G Straße , Berlin-Friedrichshain auf.

 

Für den Zulassungsbezirk Berlin ist seit 2013 u.a. für die Arztgruppe der Psychotherapeuten Überversorgung festgestellt und sind daher durchgehend Zulassungsbeschränkungen angeordnet.

 

Der Kläger beantragte am 6. Mai 2011 die Zulassung als Psychologischer Psychotherapeut zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie im Rahmen einer Sonderbedarfszulassung, hilfsweise eine Ermächtigung. Für die Hälfte seiner gesetzlich versicherten Patienten stehe wohnortnah im Teilbezirk Friedrichshain kein Behandler zur Verfügung. Der überwiegende Teil der anderen Hälfte seiner gesetzlich versicherten Patienten bedürfe einer sexualtherapeutisch spezialisierten Psychotherapie. Rund ein Fünftel seiner Patienten frage infolge einer onkologischen Erkrankung nach einer psychoonkologisch spezialisierten Psychotherapie. Dem Antrag beigefügt waren u.a. 31 Kostenübernahmeerklärungen gesetzlicher Krankenkassen für die psychotherapeutische Behandlung Versicherter – überwiegend in Form von Verhaltenstherapie.

 

Mit Beschluss vom 10. August 2011 lehnte der Zulassungsausschuss beide Anträge ab, der Widerspruch blieb erfolglos. Auf die Klage des Klägers hob das  Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 23. April 2014 den Beschluss des Beklagten auf und verurteilte diesen zur Neubescheidung (Az. S 83 KA 249/12). Die dagegen von der beigeladenen Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KÄV, Beigeladene zu 1) eingelegte Berufung wies der Senat mit Urteil vom 27. April 2016 mit der Maßgabe zurück, dass der Beklagte die Rechtsauffassung des Senats bei der Neubescheidung zu berücksichtigen habe (L 7 KA 48/14).

 

Die dagegen eingelegte Revision der Beigeladenen zu 1) blieb erfolglos (Urteil des Bundessozialgerichts – BSG – vom 28. Juni 2017 - B 6 KA 28/16 R). Das BSG wies sie mit der Maßgabe zurück, dass der Beklagte die erforderlichen Feststellungen zur Bedarfslage noch zu treffen habe. Die Zulassungsgremien müssten bei der Entscheidung über Sonderbedarfszulassungen ein möglichst genaues Bild der Versorgungslage im betroffenen Planungsbereich dazu ermitteln, welche Leistungen in welchem Umfang zur Wahrung der Qualität der vertragsärztlichen Versorgung im Sinne des  § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V im Planungsbereich erforderlich seien, von den dort zugelassenen Ärzten aber nicht angeboten würden. Die Ermittlungstiefe werde auch durch die Begründung eines Antragstellers beeinflusst. Zulassungsgremien seien nicht verpflichtet, Ermittlungen zu einem möglichen Sonderbedarf ins Blaue hinein anzustrengen. Die eingehende Antragsbegründung des Klägers biete aber ausreichende Anhaltspunkte für Ermittlungen zum Vorliegen eines qualifikationsbezogenen Sonderbedarfs. Hinweise zum Bedarf könnten insbesondere die Wartezeiten für die Behandlung bei Ärzten/Psychotherapeuten sein. Es sei regelmäßig geboten, die bereits niedergelassenen Ärzte nach ihrem Leistungsangebot und der Aufnahmekapazität ihrer Praxen zu befragen. Diese Befragung habe sich entsprechend der Zielrichtung von Sonderbedarfszulassungen grundsätzlich auf die gesamte Breite eines medizinischen Versorgungsbereichs und nicht nur auf einzelne spezielle Leistungen zu erstrecken. Die Ermittlungen dürften sich typischerweise nicht in Befragungen der im Einzugsbereich tätigen Leistungserbringerinnen und -erbringer erschöpfen; deren Aussagen seien kritisch zu würdigen, zu objektivieren und zu verifizieren. Gerade für psychotherapeutische Behandlungen könne die Zahl der von den Krankenkassen bewilligten Kostenerstattungen für bestimmte Richtlinienverfahren Hinweise auf einen ungedeckten Bedarf geben. Die Beigeladene zu 1) werde mitzuteilen haben, in welchem Umfang die niedergelassenen Psychotherapeuten ihren vollen oder hälftigen Versorgungsauftrag wahrnehmen. Zu berücksichtigen seien nur reale, nicht dagegen potenzielle Versorgungsangebote, die tatsächlich nicht zur Verfügung stünden, weil Leistungserbringer nicht zur Erbringung weiterer Leistungen bereit seien.

 

Der Beklagte bat in Vorbereitung seiner erneuten Entscheidung über den Antrag des Klägers unter konkreter Bezugnahme auf die Ausführungen des BSG (s.o.) am 19. Februar 2018 die in Berlin tätigen (teilweise beigeladenen) vier Krankenkassen sowie zwei Kassenverbände um Mitteilung, wie viele Anträge auf Kostenerstattung (§ 13 Abs. 3 SGB V) im Zulassungsbezirk Berlin insgesamt und im Verwaltungsbezirk Friedrichshain-Kreuzberg (ausgehend von den Postleitzahlen) in der Zeit vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2017 gestellt worden seien. Gleichzeitig sollten die Kassen/ihre Verbände eine Bewertung dazu abgeben,  inwieweit sie einen zusätzlichen Bedarf an Verhaltenstherapeuten im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sähen.

 

Von den angefragten Krankenkassen/ihren Verbänden meldeten sich zunächst vier. So bat die Beigeladene zu 6) (Verband der Ersatzkassen – vdek) zunächst um Konkretisierung der Anfrage. Konkret sollte der Beklagte den Postleitzahlenbereich sowie die zu berücksichtigenden Quartale benennen (Antwort vom 13. Februar 2018).

 

Der BKK-Landesverband Mitte und die BIG direkt gesund verneinten jeweils einen Bedarf für eine „weitere Sonderbedarfszulassung eines Psychologischen Psychotherapeuten“. Die Aussagekraft der Kostenerstattungen sei nicht sehr hoch, da noch von anderen Faktoren beeinflusst, so von der Zahl der Selektivverträge. Es obliege der Beigeladenen zu 1), die Einhaltung der Versorgungsaufträge zu prüfen;  diese sei deshalb bereits von den Kassen/ihren Verbänden angeschrieben worden, die Ergebnisse solle der Beklagte einbeziehen (Schreiben vom 13. Februar 2018). Der BKK-Landesverband Mitte führte aus, in der zentralen Lage des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg sollte aus seiner Sicht ein ausreichendes Angebot in akzeptabler Erreichbarkeit vorhanden sein. Es sei bereits fraglich, ob dabei der Wohnort des Versicherten oder der Praxisstandort zu betrachten sei. Schließlich sei die Aussagekraft von Kostenerstattungen begrenzt, zumal auch andere Faktoren die Versorgungslandschaft beeinflussten, wie z.B. die bestehenden Selektivverträge, die eine Kostenerstattung überflüssig machten. Auch sei die Bewilligungspraxis der Kassen unterschiedlich. Es sei Aufgabe der zuständigen KÄV, die Einhaltung der Versorgungsaufträge zu prüfen. Leider habe eine solche Information durch die Beigeladene zu 1) für Berlin bisher nicht stattgefunden. Ohne diese sei die Beurteilung eines Sonderbedarfs schwierig. Die Krankenkassenverbände hätten deswegen bereits die Beigeladene zu 1) angeschrieben (so BKK-Landesverband Mitte, Antwortschreiben vom 13. Februar 2018).

 

Auch die BIG direkt gesund verwies auf vielfältige Gründe, die einer Kostenerstattung für Psychotherapie zugrunde lägen. Ein in der Umgebung der Versicherten nicht zu findender Therapieplatz gehöre aber nicht dazu, zumal es diesen zuzumuten sei, innerhalb Berlins Wege zurückzulegen. Eine (räumliche) Gesamtbetrachtung sei daher angezeigt (Schreiben vom 15. März 2018).

 

Konkrete Zahlen der Kostenerstattungen teilten beide Krankenkassen-/Verbände in ihren Antworten zunächst nicht mit.

 

Nach Auskunft der Landwirtschaftlichen Kasse in der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLVG, Beigeladene zu 5) könne sie aufgrund ihres speziellen organisatorisch-strukturellen Aufbaus keine Auskünfte zu Kostenerstattungen für in Berlin lebende Versicherte erteilen. Daten könnten nur mit unverhältnismäßigem Aufwand ausgewertet werden. Gleichzeitig seien die Daten von untergeordneter Bedeutung, da die Körperschaft nur 798 Versicherte in Berlin habe, das entspreche einem  Anteil von 0,03 %  an der Gesamtversichertenzahl in Berlin (Schreiben vom   27. Februar 2018).

 

Die mitgliederstarke Beigeladene zu 2) sowie die ebenfalls angefragte IKK Brandenburg und Berlin reagierten nicht.

 

Die Beigeladene zu 1) bat der Beklagte um Auskunft, in welchem Umfang die niedergelassenen Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen ihren Versorgungsauftrag durchschnittlich wahrnehmen. Ausgangspunkt hierfür könne „für einen vollen Versorgungsauftrag die durchschnittliche Fallzahl aller im Bundesgebiet tätigen Psychotherapeuten sein“. Die Beigeladene zu 1) teilte als Ergebnis einer Fallzahlauswertung (für den Zeitraum IV/2016 bis III/2017) am 12. April 2018 mit, es seien 682 Psychotherapeuten in Gesamt-Berlin und 50 Psychotherapeuten im Verwaltungsbezirk Friedrichshain-Kreuzberg (KTFG 68, 60, 61 [Fachgruppe]) mit dem Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie zugelassen.

 

Darüber hinaus übersandte die Beigeladene zu 1) eine Fallzahlenübersicht, aufgelistet nach den einzelnen ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten mit Verhaltenstherapie Erwachsene (Tabelle mit 28 Seiten). Aus dieser ergaben sich sowohl die durchschnittliche Anzahl der Behandlungsfälle der einzelnen Fachgruppen (BHF FG), die Verhaltenstherapie erbringen, als auch die individuelle Durchschnittsbehandlungsfallzahl und der individuelle Tätigkeitsumfang und die individuelle BHF insgesamt in den vier Quartalen. Die Gesamtübersicht der Teilnahme für den o.g. Zeitraum für das gesamte Berlin stellte die Beigeladene zu 1) schließlich in einem Säulendiagramm, bezogen auf die Durchschnittsfallzahlen, dar. Wegen der Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte Bezug genommen.

 

Am 23. Oktober 2018 drohte das Sozialgericht Berlin dem Beklagten auf Antrag des Klägers ein Zwangsgeld für den Fall an, dass er bis zum 11. Januar 2019 seiner Verpflichtung zur Umsetzung des o.g. Urteils des BSG (B 6 KA 28/16 R) nicht nachkomme (S 83 KA 249/12).

 

Daraufhin erinnerte der Beklagte die angefragten Krankenkassen/ihre Verbände am 26. Oktober 2018 an seine Anfrage vom 19. Februar 2018 und bat unter Benennung von Postleitzahlen erneut um Übermittlung der konkreten Zahlen der Kostenerstattungen „binnen drei Wochen“.

 

Bezugnehmend darauf führte der BKK-Landesverband Mitte aus, keine konkreten Zahlen zu den Kostenerstattungen übermitteln zu können, er müsse daher seine Betriebskrankenkassen befragen, dies könne aber in der ihm vom Beklagten gesetzten Frist von (nur) drei Wochen nicht erfolgen (Mitteilung vom 12. November 2018). Die BIG direkt gesund teilte auch für die IKK gesund plus und die IKKgesund und die IKK Nord die Anzahl der Kostenerstattungen wie folgt mit: Bei der BIG direkt gesund seien in den Quartalen I/2017 bis IV/2017 86 Anträge auf Kostenerstattung für eine Psychotherapie gestellt worden, von denen 34 Anträge bewilligt worden seien, davon neun im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Bei der IKK gesund plus habe es in dem Zeitraum für ganz Berlin sieben Anträge gegeben, davon vier in Friedrichshain-Kreuzberg. Bewilligt worden seien insgesamt fünf Anträge, davon drei in Friedrichshain-Kreuzberg. Bei der IKK Nord seien sieben Anträge gestellt worden, zwei davon in Friedrichshain-Kreuzberg; keiner davon sei positiv beschieden worden. Die BIG direkt gesund habe die Anforderung des Beklagten den Innungskrankenkassen weitergeleitet und diese darum gebeten, direkt an den Beklagten ihre Antwort zu schicken. Es werde darauf hingewiesen, dass die Verbände (der Innungskrankenkassen) keine Mittel hätten, die einzelnen Kassen zu einer Übermittlung von konkreten Zahlen anzuhalten, da diese keine nachgeordneten Behörden seien. Die Aussagekraft der Rückmeldungen sei durch diese nicht zuverlässige Rückmeldung gemindert; sie sei eher vage, so dass der Verband der Kassen nur eine unvollständige Aussage treffen könne. Die BIG direkt gesund rege vor diesem Hintergrund an, nicht die Verbände, sondern direkt die einzelnen Krankenkassen anzuschreiben. Es sei so wesentlich besser möglich, den Antworten einen nennenswerten Aussagegehalt zu entnehmen und bei einer fehlenden Reaktion oder weiterem Klärungsbedarf ggf. genauer nachzufragen. Auch den Vorgaben des Bundessozialgerichts in dem Urteil B 6 KA 28/16 R würde ein solches Vorgehen durchaus gerecht. Es liege – auch bei Berücksichtigung der angemahnten Ermittlungstiefe – auf der Hand, dass die Krankenkassenverbände nicht mitteilen könnten, in welchem Umfang sie Kosten erstatteten, weil die Kostenerstattung nicht durch sie selbst erfolgten. Dabei sei es auch sinnvoll, die Anzahl der abgeschlossenen Selektivverträge zu ermitteln, auf deren Grundlage Krankenkassen die Behandlung von nicht zugelassenen Therapeutinnen und Therapeuten ermöglichten.  Die BIG direkt gesund rege an, das Vorgehen des Beklagten bei der Bedarfsermittlung einer Prüfung zu unterziehen (Schreiben an den Beklagten vom 16. November 2018).

 

Eine ergänzende Anfrage bei den Innungskrankenkassen, wie von der BIG direkt gesund angeregt,  unternahm der Beklagte nicht.

 

Die Beigeladene zu 6) (vdek) teilte mit, dass es allein auf den Verwaltungsbezirk Friedrichshain-Kreuzberg und auf die Anzahl der (positiv) bewilligen Anträge auf Kostenerstattung ankomme. Daran gemessen seien 180 genehmigte Kostenerstattungsanträge im Jahr 2017 in dem genannten Bezirk zu verzeichnen (Schreiben vom 21. November 2018).

 

Die mitgliederstarke Beigeladene zu 2) (AOK Nordost) sowie die ebenfalls angefragte IKK Brandenburg und Berlin reagierten auch auf die Erinnerung des Beklagten nicht.

 

Auf die im online-Verfahren im Auftrag des Beklagten vom Zulassungsausschuss durchgeführte Sonderbedarfsumfrage mit 1.070 übersandten Fragebögen an die Psychotherapeuten/Ärzte in ganz Berlin antworteten nur 76 (das entspricht 7,1 %) der Befragten. Einer der Antwortenden gab an, nicht mit Verhaltenstherapie zu behandeln. Die übrigen 75 Verhaltenstherapeuten gaben eine durchschnittliche Wartezeit von 26 Tagen an. Auf die Frage nach dem Bestehen (eigener) zusätzlicher Kapazitäten antworteten 30 Psychotherapeuten mit „Ja“ und 45 mit „Nein“. Die Frage nach dem Bestehen eines Versorgungsbedarfs beantworteten 36 Psychotherapeuten mit „Ja“ und 39 mit „Nein“. Die Beigeladene zu 1) erstellte schließlich ergänzend eine nicht namentliche tabellarische Übersicht (Excel-Tabelle), aus der sich für die (75) Antwortenden die Abrechnungsdaten der Beigeladenen zu 1) sowie die Angaben der einzelnen Antwortenden zu den o.g. Fragen, deren durchschnittliche Fallzahlen für die Quartale 3/2017 bis 4/2018, ihr Praxissitz sowie die Durchschnittsfallzahl der Fachgruppe ersehen ließ.

 

Mit Beschluss vom 12. Dezember 2018 und schriftlichem Bescheid vom 24. April 2019 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers unter Berufung auf einen fehlenden Bedarf erneut ab.

 

Der Kläger hat am 20. Mai 2019 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben und sein Begehren teilweise weiterverfolgt, nämlich darauf gerichtet, eine Sonderbedarfszulassung im Umfang eines noch hälftigen Versorgungsauftrags zu erhalten, hilfsweise den Beklagten zur Neubescheidung –  (höchst) hilfsweise über den Antrag auf Ermächtigung zur vertragsärztlichen Versorgung – zu verpflichten.

 

Mit Urteil vom 19. Februar 2020 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, über den Antrag des Klägers auf eine Sonderbedarfszulassung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Das Bundessozialgericht habe dem Beklagten eine Reihe von Vorgaben gemacht, welche Feststellungen zur Bedarfslage er zu treffen habe. Dem sei der Beklagte nicht gerecht geworden, denn es fehle einerseits an einer ausreichenden Entscheidungsgrundlage, andererseits habe der Beklagte die Ermittlungsergebnisse fehlerhaft gewichtet.

 

Bei der erneuten Entscheidung werde der Beklagte die bewilligten Kostenerstattungsverfahren für Berlin und speziell Friedrichshain-Kreuzberg als Hinweis auf einen bestehenden Sonderbedarf anzusehen haben. Erforderlich sei zudem die Befragung der Ärzte nach ihrem Leistungsangebot und der Aufnahmekapazität ihrer Praxen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 28. Juni 2017 - B 6 KA 28/16 R Rdnr. 23). Bei einer prozentual nur sehr geringen Beteiligung an der Befragung könne keine „Hochrechnung“ erfolgen, wie sie der Beklagte vorgenommen habe. In der Folge des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG), das am 11. Mai 2019 in Kraft getreten sei, seien die Vertragsärzte schließlich verpflichtet, der Terminservicestelle freie Termine zu melden. Damit dürfte sich durch einen Abgleich ermitteln lassen, ob die freien Kapazitäten die die Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer jeweiligen Antwort bei der Sonderbedarfsumfrage angegeben hätten, auch gemeldet worden seien.

 

(Nur) der Kläger hat gegen das ihm am 25. Februar 2020 zugestellte Urteil am 24. März 2020 Berufung eingelegt; er greift die Entscheidung an, soweit diese mit der Klageabweisung seinen Anspruch auf die begehrte Sonderbedarfszulassung abgelehnt habe. Hilfsweise greife er die Rechtsauffassung des Sozialgerichts an, aufgrund derer der Beklagte zur Neubescheidung verurteilt worden sei. Auch insoweit werde er beschwert, denn die Rechtsauffassung des Sozialgerichts schmälere seine Chancen auf die Erteilung einer Zulassung.

 

Es liege eine Reduzierung des Beurteilungsspielraums des Beklagten auf Null vor, weil sich bereits aus der Anzahl der bewilligten Kostenerstattungsverfahren nach § 13 Abs. 3 SGB V für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ein Sonderbedarf ergebe. Die tatsächliche Anzahl der Kostenerstattungen dürfte dabei – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass für die mitgliederstarke AOK Nordost keine Zahlen vorlägen – noch höher sein. Aus den im Jahr 2017 bewilligten Kostenerstattungen lasse sich ermitteln, dass rund 190 Therapiestunden wöchentlich nicht durch zugelassene Therapeuten gedeckt seien.

 

Es sei zudem fehlerhaft und beschwere den Kläger, soweit das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet habe, sich im Rahmen der Neubescheidung bei der Ermittlung der realen Versorgungslage auch an den nach § 75 Abs. 1a Satz 20 SGB V gemeldeten freien Therapieplätzen (im Rahmen der Vermittlung von Arztterminen über regionale Terminservicestellen) zu orientieren. Das Sozialgericht vermische mit dieser Auffassung die Begriffe „Termin“ und „Therapie“,

 

Die Beigeladene zu 1) gehe im Übrigen selbst von einer prekären Versorgungslage aus. Sie habe sich mit einem Rundschreiben vom 28. Mai 2021 mit einem „dringenden Aufruf“  an die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gewandt und um die Meldung freier Kapazitäten sowohl für die psychotherapeutische Sprechstunde, die Akutbehandlung als auch die Probatorik gebeten. Nach den von der Beigeladenen zu 1) in dem genannten Rundschreiben veröffentlichten Zahlen sei die Nachfrage nach freien psychotherapeutischen Terminen im 1. Quartal 2021 im Vergleich zum vorgehenden Quartal um insgesamt 34 % (auf 14.993) gestiegen, diejenige nach der psychotherapeutischen Sprechstunde hätten sich um 29 % erhöht.

 

Die Unterversorgung sei schließlich noch durch die Corona-Krise nachweislich verschärft worden. Es habe sich deswegen die psychische Belastung der Bevölkerung verstärkt, gleichzeitig bestehe ein Rückstau  bei den Behandlungsangeboten der Psychotherapeuten.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Februar 2020 zu ändern,

 

die Beschlüsse des Beklagten vom 12. Dezember 2018 und vom 2. März 2022 aufzuheben,

 

den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger eine Sonderbedarfszulassung zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie im Umfange eines hälftigen Versorgungsauftrags in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg am Standort G Straße  zu erteilen,

 

hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Sonderbedarfszulassung im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrags unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.

 

Der Beklagte beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Anzahl der bewilligten Kostenerstattungsverfahren habe in tatsächlicher Hinsicht keinen Nachweis für einen bestehenden Sonderbedarf erbracht.

 

Es bestehe auch kein Anspruch auf Neubescheidung, denn über die Verpflichtung der vertragsärztlichen Leistungserbringer, freie Termine an die Terminservicestelle zu melden, bestehe die Möglichkeit, sich ein objektives Bild von der Versorgungslage zu verschaffen.

 

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

 

Der Senat hat dem Beklagten am 2. März 2021 aufgegeben, eine aktuelle Mitteilung der Krankenkassen bzw. ihrer Verbände zu den bewilligten Anträgen auf Kostenerstattung für Verhaltenstherapie einzuholen und zu übersenden.

 

Die Geschäftsstelle des Beklagten hat – zur Erfüllung dieser o.g. Auflage des Senats –  erst am 12. Oktober 2021 und mit Fristsetzung bis 29. Oktober 2021 an die AOK Nordost, den BKK Landesverband Mitte, an die BIG direkt gesund, die IKK Brandenburg und Berlin sowie den Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) eine schriftliche Anfrage mit der Bitte übersandt, mitzuteilen, wie viele Anträge auf Kostenerstattungen innerhalb der letzten vier Quartale für das Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie im Zulassungsbezirk Friedrichshain-Kreuzberg gestellt worden seien. Wegen der Antworten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Die AOK Nordost hat dem Beklagten zunächst formlos per e-mail mitgeteilt, zu der Anfrage nur eine „Fehlmeldung“ abgeben zu können. Erst auf ergänzende Nachfrage des Beklagten hat sie – nur telefonisch –  ergänzt,  zu der Anfrage des Beklagten keine Angaben machen zu können. Sie treffe grundsätzlich keine Einzelfallentscheidung und lehne Kostenerstattungsverfahren ab.

 

Mit Beschluss vom 2. März 2022 hat der Beklagte in Ausführung des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils den Antrag des Klägers auf Sonderbedarfszulassung als Psychologischer Psychotherapeut zur Teilnahme an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung Erwachsener mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie und die hilfsweise begehrte Erteilung einer Ermächtigung (erneut) abgelehnt. Der Beschluss hat eine Rechtsbehelfsbelehrung dahingehend enthalten, dass die Klage zum Sozialgericht statthaft sei. Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben (S 83 KA 71/22).

 

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakten und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Er hat einen Anspruch auf Gewährung einer Sonderbedarfszulassung im Umfang eines hälftigen Versorgungsauftrags zur psychotherapeutischen Versorgung mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Das erstinstanzliche Urteil ist insoweit zu ändern. Der Beklagte ist unmittelbar zur Erteilung einer (hälftigen) Sonderbedarfszulassung zu verurteilen, denn die Sache ist spruchreif.

 

1. a) Streitgegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (BSG, Urteil vom 23. Februar 2015, B 6 KA 81/03 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13) sind die Beschlüsse des Beklagten vom 12. Dezember 2018 (schriftlicher Bescheid vom 24. April 2019) und vom 2. März 2022 (schriftliche Ausfertigung vom 6. April 2022). In vertragsärztlichen bzw. vertragspsychotherapeutischen Zulassungssachen wird der Berufungsausschuss mit seiner Anrufung gemäß § 96 Abs. 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) funktionell ausschließlich zuständig. § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet in diesen Verfahren keine Anwendung (ständige Recht­sprechung seit Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Januar 1993, RKa 40/91, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13). Das gilt auch in dem Fall, in dem, wie im vorliegenden, ein (erster) Beschluss des Berufungsausschusses auf Klage hin durch das Gericht rechtskräftig aufgehoben wurde. Mit einer gerichtlichen Aufhebung des Beschlusses des Berufungsausschusses lebt die Entscheidung des Zulassungsausschusses nicht mehr auf (BSG, Urteil vom 17. Oktober 2012 – B 6 KA 49/11 R –, Rdnr. 18). Demgemäß ist dann, wenn eine Neubescheidung erforderlich ist, allein der Berufungsausschuss und nicht der Zulassungsausschuss zu entsprechend wiederholter Regelung i.S. des § 31 Satz 1 SGB X zu verpflichten. Der Bescheid des Berufungsausschusses bildet den alleinigen Gegenstand jeder weiteren - gerichtlichen, bei aufhebendem Gerichtsurteil jedoch auch erneuten verwaltungsmäßigen – Beurteilung der Sache (Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Januar 1993, RKa 40/91, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 – 21).

 

b) Der Beschluss des Beklagten vom 2. März 2022 ist gemäß §  153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Der Senat entscheidet über ihn im Berufungsverfahren kraft Klage. Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klageerhebung nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Der Beschluss des Beklagten vom 2. März 2022 ist nach Erhebung der Klage im anhängigen Berufungsverfahren ergangen und trifft eine Entscheidung über die begehrte Zulassung zur vertragspsychotherapeutischen Versorgung. Eine Abänderung oder Ersetzung eines gerichtlich bereits streitgegenständlichen Beschlusses oder Bescheides liegt grundsätzlich nur vor, wenn in die Regelung eines Bescheides, seinen Verfügungssatz, eingegriffen wird und damit die Beschwer des Betroffenen endgültig gemindert oder vermehrt wird.  Daran fehlt es grundsätzlich bei einem „Ausführungsbescheid“, der in Umsetzung eines noch nicht rechtskräftigen Urteils eine nur vorläufige Regelung bezogen auf den Streitgegenstand trifft und vom Bestand dieses Urteils abhängt (BSG, Urteil vom 14. Juli 2021, B 6 KA 1/20 R, Rdnr. 20; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/B. Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 96 Rdnr. 4b). Der Beschluss des Beklagten vom 2. März 2022 ist zwar nach seinem Verfügungssatz in Ausführung des sofort vollziehbaren erstinstanzlichen Urteils des Sozialgerichts ergangen. Der Beklagte hat sich an den Vorgaben des Sozialgerichts auch orientiert. Der Bescheid enthält aber keine Vorläufigkeitsregelung. Außerdem enthält er eine eigene und auch endgültige Regelung. Denn er ist vor dem Hintergrund erfolgt, dass der Beklagte gegen das Urteil des Sozialgerichts seinerseits keine Berufung eingelegt hat. Das Urteil ist insoweit für ihn rechtskräftig geworden und der Beklagte endgültig zur Neubescheidung verpflichtet. Das hat den Beklagten veranlasst, eine erneute Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch mit neuen Erwägungen zur Sache zu treffen. Der Beklagte bezieht sich dabei zwar in seinen Gründen auf die Ausführungen des Sozialgerichts, zieht aber die im Zuge des Berufungsverfahrens durchgeführten Nachermittlungen ergänzend heran und trifft eine eigenständige neue Entscheidung über den Zulassungsantrag aus dem Jahr 2011 („ausgehend und unter Berücksichtigung der Auffassung des Gerichts und weiteren Ermittlungen ist der Berufungsausschuss weiterhin der Auffassung, dass…der Antrag abzulehnen ist“, Beschluss S. 8). Die Anwendung des §§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 SGG hängt nicht davon ab, ob Kläger oder Beklagter die Berufung eingelegt haben. Die Rechtsfolge tritt ohne Rücksicht auf die Stellung der Verfahrensbeteiligten ein. Die Frage, ob ein Beteiligter im weiteren Berufungsverfahren eine Aufhebung oder eine Änderung des Bescheides zu seinen Gunsten erreichen könnte oder ob dem die Rechtskraftwirkung des Urteils des Sozialgerichts entgegensteht, ist von der prozessual vorgelagerten Frage zu unterscheiden, ob der Bescheid Verfahrensgegenstand geworden ist, also ob die Frage der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides dem Senat überhaupt zur Entscheidung übertragen ist (BSG, a.a.O., Rdnr. 22). Ungeachtet dessen kann der Senat im vorliegenden Fall über die mit der Berufung weiter verfolgte Zulassung zur vertragspsychotherapeutischen (hälftigen) Versorgung wie auch über einen Anspruch auf (weitere) Neubescheidung nicht ohne eine Einbeziehung der erneuten Ablehnung vom 2. März 2022 entscheiden. Denn die Entscheidung des Beklagten ist nach dem Normprogramm des § 101 SGB V inhaltlich nicht teilbar. Der Bescheid ist daher Gegenstand des Verfahrens geworden. Es kann offen bleiben, ob er vollständig an die Stelle des Beschlusses vom 12. Dezember 2018 tritt (diesen also „ersetzt“) oder diesen mit der erneuten Ablehnung nur ergänzt  und „abändert“. Das in Bezug auf den Beschluss des Beklagten vom 2. März 2022 anhängige Klageverfahren S 83 KA 71/22 wird sinnvoll nur durch übereinstimmende Erledigungserklärungen beizulegen sein.

 

2. Zur Überzeugung des Senats hat der Kläger Anspruch auf Erteilung der begehrten Sonderbedarfszulassung. Der Anspruch beruht auf § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V i.V.m. §§ 36, 37 der Bedarfsplanungsrichtlinie des GBA.

 

Dabei ist für das Verpflichtungsbegehren auf Erteilung einer Sonderbedarfszulassung maßgebender Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage der Schluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz. Bis dahin sind grundsätzlich alle Änderungen sowohl der Sachlage als auch alle Rechtsänderungen zu berücksichtigen (Pawlita in: SchlegelVoelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 97 SGB V Rdnr. 113 unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, zuletzt BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, Rdnr. 22).

 

a) Nach § 103 Abs. 1 Satz 2 SGB V sind in Planungsbereichen, für die der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen – wie im einheitlichen Planungsbereich Berlin/Bundeshauptstadt für sämtliche Arztgruppen mit Ausnahme der Arztgruppe der Hausärzte, Augen- und Hautärzte (Beschluss des Landesausschusses vom 8. März 2018, zuletzt bestätigt im Beschluss vom 28.10.2020, unter Begründung zu 9., S. 12) – wegen Überversorgung Zulassungsbeschränkungen angeordnet hat, Zulassungen für die hiervon betroffenen Arztgruppen nur ausnahmsweise möglich.

 

§ 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V bestimmt, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien Vorgaben für die ausnahmsweise Besetzung zusätzlicher Vertragsarztsitze zu beschließen hat, soweit diese zur Gewährleistung der vertragsärztlichen Versorgung in einem Versorgungsbereich unerlässlich sind, um einen zusätzlichen lokalen oder einen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf insbesondere innerhalb einer Arztgruppe zu decken. Der GBA ist der ihm übertragenen Aufgabe zum Erlass konkretisierender Vorgaben in Bezug auf § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V durch die ab 1. Januar 2013 geltenden, zuletzt am 15. Juli 2021 geänderten und am 30. September 2021 in Kraft getreten Regelungen in den  §§ 36, 37 Bedarfsplanungsrichtlinie  (BedarfsplRL) nachgekommen.

 

§ 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V gewährleistet in Planungsbereichen, in denen wie vorliegend die Zulassung u.a. von Psychologischen Psychotherapeuten und -therapeutinnen wegen Überversorgung beschränkt ist, dass angeordnete Zulassungssperren die Berufsausübung nicht unverhältnismäßig beschränken und die Versorgung der Versicherten gewährleistet bleibt. Dies im Einzelnen zu konkretisieren hat der Gesetzgeber in § 101 Abs. 1 Satz 1 SGB V dem GBA übertragen, der dementsprechend in der BedarfsplRL die Voraussetzungen für solche ausnahmsweisen Zulassungen festgelegt hat. Gegen die Übertragung der Befugnis zur Normkonkretisierung auf den GBA bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken, zumal der Gesetzgeber Inhalt, Zweck und Ausmaß der Regelung präzise vorgegeben und damit die wesentlichen Fragen selbst entschieden hat.

 

Nach § 36 Abs. 1 der BedarfsplRL darf der Zulassungsausschuss unbeschadet der Anordnung von Zulassungsbeschränkungen durch den Landesausschuss dem Zulassungsantrag eines Arztes der betreffenden Arztgruppe auf Sonderbedarf nach Prüfung entsprechen, wenn die in §§ 36 bis 37 BedarfsplRL geregelten Voraussetzungen erfüllt sind und die ausnahmsweise Besetzung eines zusätzlichen Vertragsarztsitzes unerlässlich ist, um die vertragsärztliche Versorgung in einem Versorgungsbereich zu gewährleisten und dabei einen zusätzlichen lokalen oder einen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf zu decken. Sonderbedarf ist als zusätzlicher Versorgungsbedarf für eine lokale Versorgungssituation oder als qualifikationsbezogener Versorgungsbedarf festzustellen (Satz 2). Die Feststellung dieses Sonderbedarfs bedeutet die ausnahmsweise Zulassung eines zusätzlichen Vertragsarztes in einem Planungsbereich trotz Zulassungsbeschränkungen (Satz 3). Gemäß § 36 Abs. 2 BedarfsplRL ist die Zulassung aufgrund eines lokalen oder qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarfs an den Ort der Niederlassung gebunden. Ein lokaler oder qualifikationsbezogener Sonderbedarf setzt nach § 36 Abs. 4 Satz 3 BedarfsplRL voraus, dass aufgrund der durch den Zulassungsausschuss festzustellenden Besonderheiten des maßgeblichen Planungsbereichs (z. B. Struktur, Zuschnitt, Lage, Infrastruktur, geographische Besonderheiten, Verkehrsanbindung, Verteilung der niedergelassenen Ärzte) ein zumutbarer Zugang der Versicherten zur vertragsärztlichen Versorgung nicht gewährleistet ist und aufgrund dessen Versorgungsdefizite bestehen. Bei der Beurteilung ist den unterschiedlichen Anforderungen der Versorgungsebenen der §§ 11 bis 14 BedarfsplRL Rechnung zu tragen (§ 36 Abs. 4 Satz 4 BedarfsplRL, hausärztliche / fachärztliche Versorgung). Die Sonderbedarfszulassung setzt außerdem voraus, dass der Versorgungsbedarf dauerhaft erscheint (§ 36 Abs. 5 Satz 1 BedarfsplRL).

 

Nach § 37 Abs. 1 BedarfsplRL erfordert die Anerkennung eines qualifikationsbezogenen Sonderbedarfs die Prüfung und Feststellung einer bestimmten Qualifikation und die Prüfung und Feststellung eines entsprechenden besonderen Versorgungsbedarfs in einer Region durch den Zulassungsausschuss.

 

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen des § 37 BedarfsplRL im Falle des Klägers für den Planungsbereich Berlin vor.

 

aa) Der Kläger verfügt unstreitig über die besondere Qualifikation i.S. des § 37 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 BedarfsplRL. Eine besondere Qualifikation ist danach anzunehmen, wie sie durch den Inhalt des Schwerpunktes, einer fakultativen Weiterbildung oder einer besonderen Fachkunde für das Facharztgebiet nach der Weiterbildungsordnung beschrieben ist. § 37 BedarfsplRL richtet die besondere Qualifikation eng an den Subspezialisierungen des ärztlichen Weiterbildungsrechts und - bei Psychotherapeuten - an den drei Richtlinienverfahren aus (BSG, Urteil vom 28.06.2017, B 6 KA 28/16 R, juris). Der Kläger hat die Ausbildung psychologische Psychotherapie – Vertiefung: Verhaltenstherapie –  mit Erfolg abgeschlossen (Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie vom 23. August 2009). Demgemäß hat er in seiner privatärztlichen Praxis seit 2009 einen Schwerpunkt u.a. in Verhaltenstherapie. Diese Therapie hat er auch in zahlreichen Verfahren der Kostenerstattung für gesetzliche Krankenkassen erbracht (vgl. die mit seinem Antrag eingereichten anonymisierten Kostenerstattungsbewilligungen diverser Krankenkassen in der Verwaltungsakte des Beklagten). Von einer besonderen Qualifikation des Klägers geht schließlich auch das BSG in seinem Urteil vom 28. Juni 2017 aus (B 6 KA 28/16 R Rdnr. 29).

 

bb) Die ausnahmsweise Besetzung eines halben zusätzlichen Sitzes für die vertragspsychotherapeutische Versorgung ist auch unerlässlich im Sinne der Vorgaben des    § 36 Abs. 1 BedarfsplRL, um die vertragspsychotherapeutische Versorgung im betroffenen Versorgungsbereich zu gewährleisten und einen zusätzlichen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf, nämlich denjenigen in der Richtlinientherapie Verhaltenstherapie, zu decken.

 

Bei der Konkretisierung und Anwendung der für die Anerkennung eines Sonderbedarfs maßgeblichen Tatbestandsmerkmale steht den Zulassungsgremien ein der gerichtlichen Nachprüfung nur eingeschränkt zugänglicher Beurteilungsspielraum zu. Ausschlaggebend dafür ist der Umstand, dass es sich bei den Zulassungs- und Berufungsausschüssen um sachverständige, gruppenplural zusammengesetzte Gremien handelt, die bei der Entscheidung über das Vorliegen eines besonderen Versorgungsbedarfs eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen haben (vgl. zum Ganzen Bundessozialgericht, Urteil vom 13. August 2014, B 6 KA 33/13 R, dort Rdnr. 17 bis 19,  zuletzt: BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, Rdnr. 20 und Urteil des Senats vom 13. November 2019, L 7 KA 31/17, Rdnr. 34/35, jeweils juris).

 

Der Beurteilungsspielraum erstreckt sich zum einen auf die Bewertung, Gewichtung und Abwägung der ermittelten Tatsachen, zum anderen - und vor allem – auf die schlussfolgernde Bewertung, ob und inwieweit der Versorgungsbedarf bereits durch das Leistungsangebot der zugelassenen Ärzte gedeckt ist oder ob noch ein Versorgungsbedarf besteht. Soweit die Zulassungsgremien dem Umfang der Leistungserbringung durch die bereits zugelassenen Ärzte oder ihrer Kapazität entscheidende Bedeutung beimessen, muss ihr Beurteilungsergebnis auf ausreichend fundierte Ermittlungen gegründet sein. Ein Beurteilungsspielraum besteht daher nicht bei der Frage, wie weit die Zulassungsgremien ihre Ermittlungen erstrecken. Der Umfang ihrer Ermittlungen ist (allgemein) durch § 21 SGB X zwingend vorgegeben. Die Ermittlung des Sachverhalts muss das nach pflichtgemäßem Ermessen erforderliche Maß ausschöpfen, d. h. sich so weit erstrecken, wie sich Ermittlungen als erforderlich aufdrängen (BSG Urteil vom 18. Dezember 2010, B 6 KA 36/09 R, Rdnr. 18 ff., beck-online; Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, in juris Rdnr. 21 ff.). Diese Obliegenheit wird speziell für die Zulassungstatbestände durch §  36 Abs. 4 Satz 1 BedarfsplRL konkretisiert. Danach hat der Zulassungsausschuss bei der Ermittlung aller entscheidungsrelevanten Tatsachen eine umfassende Ermittlungspflicht. Dabei stehen ihm zwar grundsätzlich verschiedene Ermittlungsmethoden zur Verfügung. Jene sollten aber, so er sie ergreift, korrekt, umfassend und auch konsequent angewendet werden.

 

Mit Blick darauf kann die Prüfung und Feststellung eines besonderen Versorgungsbedarfs durch den Zulassungs- wie auch den Berufungsausschuss nicht durch ein Gericht ersetzt werden. Die Gerichte haben jedoch zu prüfen, ob der Zulassungs-/Berufungsausschuss seiner Ermittlungspflicht nachgekommen ist, die Entscheidung verfahrensfehlerfrei erging und ob der Zulassungs-/Berufungsausschuss unzutreffende Rechtsmaßstäbe zugrunde gelegt hat. Anderes gilt nur dann, wenn der Beurteilungsspielraum so verdichtet ist, dass nur eine Entscheidung zugunsten einer Zulassung (rechts-)fehlerfrei ist. In diesem (besonderen) Ausnahmefall ist das Gericht berechtigt und verpflichtet, den Berufungsausschuss zur Erteilung der Sonderbedarfszulassung in dem beantragten Umfang zu verurteilen. Das gebietet nicht zuletzt die regelmäßig betroffene Berufsfreiheit – Art. 12 des Grundgesetzes – eines Antragstellers bzw. einer Antragstellerin.

 

cc) Gemessen daran kann die Entscheidung des Beklagten, dem Kläger, zuletzt durch den Beschluss vom 2. März 2022, einen hälftigen Versorgungsauftrag zu verweigern, keinen Bestand haben. Die Beurteilung des Beklagten, beginnend mit dem Beschluss vom Dezember 2018, wonach kein Sonderbedarf bestehe, fußt erneut und anhaltend nicht auf ausreichend fundierten Ermittlungen bzw. einem defizitären Ermittlungsergebnis, das nicht ohne Weiteres hätte hingenommen werden dürfen. Kennzeichnend sind zum einen (erneut) unzureichende Ermittlungsbemühungen, konkret eine Verfahrensgestaltung, die einen verengten Blick nach sich zog und mit zu kurz bemessenen Fristen für die zwingend bei der Ermittlung zu beteiligenden Krankenkassen arbeitete. Mindestens gleich bedeutsam für das Defizit ist zum anderen eine nur unzureichende Mitarbeit und Kooperation vor allem der einbezogenen Krankenkassen, aber auch der niedergelassenen Psychotherapeuten [zum Ganzen: unten (1)]. Mit Blick darauf, dass allein dem zur Ermittlung verpflichteten Beklagten Möglichkeiten der Sachaufklärung zur Verfügung stehen, damit der Nachweis eines Sonderbedarfs (für den materiell beweisbelasteten Kläger) überhaupt geführt werden kann, führt die speziell dieses Einzelverfahren kennzeichnende wiederholte und anhaltende grobe Verletzung der Ermittlungspflicht durch den Beklagten wie auch die verweigerte Mitwirkung einzelner Krankenkassen zu einer eingeschränkten Umkehr der Beweislast für den bestehenden Sonderbedarf zugunsten des Klägers [dazu unten (2)]. Schließlich ergeben sich – ausgehend von diesem besonderen Maßstab –  bereits aus der Anzahl der tatsächlich durch das Verfahren nachgewiesenen Kostenerstattungen für Verhaltenstherapie im Bereich Friedrichshain-Kreuzberg ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass ein ungedeckter und dauerhafter Versorgungsbedarf besteht, der durch die niedergelassenen Psychotherapeuten nicht zuverlässig gedeckt werden kann. Damit sind die Voraussetzungen eines Sonderbedarfs für den Kläger nachgewiesen. Um in dieser Situation einen für den Kläger effektiven Rechtsschutz überhaupt gewährleisten zu können, erscheint eine wiederholte bzw. erneute Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung zur Überzeugung des Senats nicht ausreichend. Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, die Berufsfreiheit und das Gebot effektiven Rechtsschutzes, erfordern vielmehr, dass der Beklagte zur Erteilung der Sonderbedarfszulassung durch den Senat zu verpflichten war. Spruchreife besteht. Jede andere gerichtliche Entscheidung würde den Kläger im Ergebnis ohne effektiven Rechtsschutz zurücklassen. Allgemeine Rückschlüsse auf den Versorgungsbedarf an Verhaltenstherapie im gesamten Bereich Berlin können daraus allerdings nicht gezogen werden [unten (3)].

 

(1) Die von dem Beklagten vor seiner Entscheidung sowohl vom 12. Dezember 2018 als auch vom 2. März 2022 jeweils durchgeführte Umfrage bei den Krankenkassen/deren Verbänden zur Anzahl der Kostenerstattungsverfahren war im Ergebnis nicht aussagekräftig.

 

Der Beigeladene zu 6) teilte trotz der ersten Anfrage des Beklagten, die sich auch auf die dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg angrenzenden Postleitzahlen bezog, nur die Kostenerstattungen im Bereich der Postleitzahlen für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg mit (Schreiben vom 21. November 2018). Der Beklagte hatte hingegen zutreffend auch die Postleitzahlen abgefragt, die zu zwei weiteren benachbarten Bezirken gehören. Für die Feststellung eines Versorgungsbedarfs ist spiegelbildlich zur Festlegung einer Region, die von der Praxis gemäß § 36 Abs. 3 Nr. 1 BedarfsplRL versorgt werden soll, auch zur Bewertung der Versorgungslage (Feststellung einer unzureichenden Versorgungslage) auf die – ausgehend von dem Ort der beantragten Niederlassung - zu „versorgende Region“ abzustellen. Diese ist für Berlin nicht auf die (Verwaltungs-) Bezirke begrenzt. Zur Feststellung der Versorgungslage ist – auch innerhalb eines Planbereichs - vielmehr eine „Region“ abzugrenzen, die von dem Ort der Niederlassung aus versorgt werden soll und davon ausgehend die Versorgungslage zu bewerten. Das umschreibt den (sog.) Einzugsbereich des beantragten Ortes der Niederlassung bzw. Praxis (zuletzt BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, Rdnr. 30). Speziell für den Kläger hat das BSG bereits in seiner Entscheidung vom 28. Juni 2017 (B 6 KA 28/16 R) klare Vorgaben für die Ermittlungstätigkeit des Beklagten dergestalt aufgestellt, dass die niedergelassenen Psychotherapeuten „im Einzugsbereich zum bestehenden Angebot und Wartezeiten befragt“ werden sollen (BSG, a.a.O., Rdnr. 31). Spiegelbildlich dazu ist unter Berücksichtigung des städtisch verdichteten Raums allgemein und speziell der Großstadtlage im Planungsbereich Berlin der maßgebliche Einzugsbereich auch durch einen Versorgungsbedarf konkret für Versicherte geprägt, die mit ihren Postleitzahlen nicht nur in einem bzw. dem Verwaltungsbezirk der Praxis angesiedelt sind, sondern in Bezirken, die an ihn angrenzen. Das gilt entsprechend auch für die maßgeblichen Kostenerstattungsfälle der Krankenkassen. Die demgegenüber eigenmächtige Verengung der mitgeteilten Kostenerstattungen durch den Beigeladenen zu 6) allein für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gibt demzufolge ein nur unvollständiges Bild.

 

Das Ermittlungsdefizit des Beklagten setzt sich auch bei den übrigen beteiligten Krankenkassen und ihren Verbänden fort. Die Verfahrensführung genügt insoweit nicht den Grundanforderungen an eine sorgfältige Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes, wie sie § 21 SGB X auch für die Berufungsausschüsse zwingend vorsieht. Die Krankenkassen und beteiligten Krankenkassenverbände haben dem Beklagten entweder nur unvollständige oder gar keine Zahlen für das Kostenerstattungsverfahren gemeldet, obwohl diese offensichtlich für die vorliegend zu beurteilende Frage des Sonderbedarfs von besonderer Bedeutung sind. So standen dem Beigeladenen zu 3) mit Blick auf seine Sonderstruktur nachvollziehbar keine versichertenbezogenen Daten zur Verfügung. Darauf hatte der Verband den Beklagten auch zeitnah bereits in Reaktion auf die erste Anfrage hingewiesen. Die ihm zuletzt vom Beklagten in seinem Schreiben vom 26. Oktober 2018 gesetzte Übermittlungsfrist für die Zahl der Kostenerstattungen bis zum 15. November 2018 war vor diesem Hintergrund unangemessen kurz. Von dem in der schriftlichen Antwort des Landesverbandes vom November 2018 enthaltenen Angebot, zur Erfüllung der Anfrage die einzelnen Betriebskrankenkassen dazu noch konkret zu befragen, machte der Beklagte vor seiner erneuten Entscheidung ohne Angabe von Gründen keinen Gebrauch. Maßgeblich für diese Verfahrensweise dürfte der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 2018 gewesen sein, in welchem dieses dem Beklagten aufgrund monatelangen Verfahrensstillstandes ein Zwangsgeld für den Fall androhte, dass er seiner Verpflichtung zur Umsetzung des BSG-Urteils nicht binnen einer Frist bis zum 11. Januar 2019 nachkomme. Die Beigeladene zu 4) hat zwar für sich selbst und die IKK gesund sowie die IKK Nord konkrete Zahlen mitgeteilt. Gleichzeitig hat sie darauf hingewiesen, sie habe alle Innungskrankenkassen angeschrieben und diese gebeten, dem Beklagten selbst zu antworten. Eine solche Antwort erfolgte im Nachgang aber von keiner Innungskrankenkasse, insbesondere nicht von der vom Beklagten direkt angefragten IKK Brandenburg und Berlin und auch nicht von der mitgliederstarken Beigeladenen zu 2). Dabei ist nach Angaben der AOK fast ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland mit rund 37 Prozent Marktanteil bei ihr versichert, vgl. www.aok.de, recherchiert am 17. Mai 2022).

 

Vor diesem Hintergrund erfolgten die pauschalen Aussagen der Beigeladenen zu 3) und 4) gegenüber dem Beklagten, eine weitere Sonderbedarfszulassung sei in der zentralen Lage des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg nicht notwendig, erkennbar ohne ausreichendes Fundament. Diese pauschalen Bewertungen hätten von dem Beklagten nicht unkritisch übernommen werden dürfen.

 

Soweit Krankenkassen/-Verbände wie die Beigeladenen zu 3) und 4) im Übrigen auf eine Abdeckung des Versorgungsbedarfs durch bestehende Selektivverträge hingewiesen haben, ist diese Information für das möglichst genaue Bild der Versorgungslage zwar grundsätzlich relevant. Die Kassen haben aber weder Behandlungszahlen für die Selektivverträge im Bereich Verhaltenstherapie für den Einzugsbereich noch die an der Versorgung teilnehmenden Vertragspartner benannt. Im Hinblick darauf, dass Vertragspartner solcher Verträge zugelassene Leistungserbringer sind (§ 140a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SGB V), liegt es nahe, dass ihre Teilnahme an den Selektivverträgen Auswirkungen auf ihre Auslastung und ggf. den Umfang der Erfüllung ihres Versorgungsauftrags im Übrigen haben kann. Die Beigeladene zu 1) selbst weist in ihrer Auswertung  der Sonderbedarfsumfrage vom 12. April 2018 am Ende darauf hin, dass bei einem geringen Teilnahmeumfang der Psychotherapeuten gesondert überprüft werden müsse, ob eine Teilnahme an Selektivverträgen vorliege. Mit Blick darauf wäre aussagekräftiges Zahlenmaterial zu den Selektivverträgen auch zur kritischen Würdigung der Sonderbedarfsumfrage notwendig gewesen.

 

Die schließlich im Berufungsverfahren vom Senat angestoßenen erneuten Ermittlungen des Beklagten zu den Kostenerstattungsanträgen konnten das dem Bescheid innewohnende Ermittlungsdefizit wegen des dem Beklagten eingeräumten Beurteilungsspielraumes nicht „heilen“. Sie enthalten aber als Anhaltspunkte für ein tatsächlich bestehendes Versorgungsdefizit und rechtfertigen die Spruchreife [dazu unten (3)].

 

Zutreffend ist das Sozialgericht schließlich davon ausgegangen, dass es auch an Ermittlungen des Beklagten fehlt, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, dass die bereits zugelassenen Psychotherapeuten im Rahmen der Verhaltenstherapie ihren Versorgungsauftrag auch tatsächlich erfüllten. So gab sich der Beklagte mit den Ergebnissen der von ihm veranlassten Sonderbedarfsumfrage bei den niedergelassenen Psychotherapeuten zufrieden, die ihrerseits auf Angaben von nur 7,1 % der Befragten beruhten. Weniger als 10 % der tatsächlich Tätigen bildeten so die Grundlage für die Bewertung der Versorgungslage, konkret der Ermittlung von freien Kapazitäten. Sind die subjektiven Angaben der möglichen (künftigen) Konkurrenten des Anwärters auf die Sonderbedarfszulassung relevant, um die Bedarfsdeckung zu ermitteln (zu den notwendigen Begleitinstrumenten einer kritischem Überprüfung sogleich), so sollte die Zahl der Antwortenden zumindest groß genug sein, um noch als repräsentativ gelten zu können.  Datenerhebungen sind repräsentativ, wenn sie es ermöglichen, aus einer kleinen Stichprobe Aussagen über eine wesentlich größere Menge (Grundgesamtheit) zu treffen. Die Größe der zu ziehenden Stichprobe hängt vom gewünschten Grad der Genauigkeit der statistischen Schlüsse ab. Die Größe allein ist dabei noch kein Garant für „repräsentative“ Ergebnisse (vgl. wikipedia zur „Repräsentativität“). Für die Repräsentativität einer Umfrage ist vielmehr eine Summe an Faktoren ausschlaggebend. So ist für eine repräsentative Stichprobe entscheidend, ob sie in ihrer Zusammensetzung und in der Struktur der relevanten Merkmale der Grundgesamtheit möglichst ähnlich ist (vgl. www. maisbergerinsights.maisberger.de/wann_ist_eine_studie_repraesentativ.html). Um die Repräsentativität der Umfrage bewerten zu können, ist es notwendig zu wissen, welche Psychotherapeuten auf die Sonderbedarfsumfrage geantwortet haben (solche mit vollem oder hälftigem Versorgungsauftrag) und ob die Gruppe der Antwortenden der Grundgesamtheit entspricht. Ersteres, also die Merkmale der Antwortenden,  ließ sich zwar anhand der anonymisierten Abrechnungsdaten noch ermitteln (Excel-Tabellen des Beklagten in der Verwaltungsakte). Nicht zu entnehmen ist den Daten aber, ob die Antwortenden mit ihren Merkmalen und dem zahlenmäßigen Verhältnis zueinander der Grundgesamtheit entsprachen. Freie Kapazitäten lassen sich bei einer Teilmenge der Befragten nur aufgrund einer Hochrechnung ermitteln. Aufgrund der benannten Unsicherheiten ist die Aussagekraft, was die Ermittlung der realen freien Kapazitäten angeht, aber sehr begrenzt, wenn nicht sogar gänzlich zweifelhaft. Dies gilt zumindest dann, wenn auf Grundlage der Umfrage eine nur rechnerische Hochrechnung stattfindet, wie sie der Beklagte vorgenommen hat.

 

Auch der Senat kommt zum Ergebnis, dass aus den von der Beigeladenen zu 1) vor der Entscheidung vom Dezember 2018 übersandten Zahlen zu dem statistischen Versorgungsgrad sich das reale Versorgungsangebot nicht zuverlässig ermitteln ließ. Das beruht bereits auf einer nicht sachgerecht formulierten Anforderung der zur Beurteilung maßgebenden statistischen Daten seitens des Beklagten. Dieser hat in seiner Anfrage vom 15. Januar 2018 die Beigeladene zu 1) zwar um Mitteilung gebeten, in welchem Umfang die niedergelassenen Psychotherapeuten ihren vollen bzw. hälftigen Versorgungsauftrag durchschnittlich wahrnehmen, gleichzeitig aber darauf hingewiesen, Ausgangspunkt für den vollen Versorgungsauftrag könne die durchschnittliche Fallzahl aller im Bundesgebiet zugelassenen Psychotherapeuten sein. Bereits diese Vorgabe kann nicht gewährleisten, die Versorgungsrealität realitätsgerecht zu erfassen. Im Rahmen der gebotenen Sachverhaltsermittlung sollen die bereits niedergelassenen Ärzte/Psychotherapeuten mit der Sonderbedarfsumfrage (regelmäßig) zu ihrem tatsächlichen Leistungsumfang sowie zu freien Kapazitäten befragt werden  (BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, Rdnr. 23). Gleichzeitig soll ermittelt werden, in welchem Umfang die Leistungserbringer/-innen ihren (gesetzlichen) Versorgungsauftrag erfüllen. Die subjektiven Angaben sollen mittels objektiver Begleitdaten überprüft, zumindest aber eingeordnet werden. Ergänzend zu den Angaben über freie Kapazitäten muss deshalb zusätzlich eine Mitteilung vorliegen, wie hoch die reale Fallzahl aktuell ist und wie sie sich zum Durchschnitt verhält. Die subjektiven Angaben sollen so mittels statistischer Erhebungen zu den tatsächlichen Fallzahlen verifiziert werden. Konkret muss für eine Praxis mit weit überdurchschnittlichen Fallzahlen, die in der Sonderbedarfsumfrage erklärt, noch freie Kapazitäten zu haben,  der Berufungsausschuss die Frage stellen und (für sich) beantworten, ob daraus eine reale Versorgung folgen kann. Selbiges gilt für Praxen mit weit unterdurchschnittlichen Fallzahlen, die erklären, keine freien Kapazitäten mehr zu haben (BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, Rdnr. 54). Die Fallzahlen dienen so in erster Linie dazu, bei einem Versorgungsbedarf aus den (subjektiven) Angaben eine Einschätzung über ein tatsächlich bestehendes Versorgungsangebot treffen zu können. Dafür kann zwar die Auswertung der Beigeladenen zu 1) anhand der Abrechnungszahlen grundsätzlich eine Basis sein. Sie  ermittelte ausgehend von Durchschnitts-Fallzahlen den Anteil der Leistungserbringung durch die niedergelassenen Psychotherapeuten, unterteilt nach hälftigem und vollem Versorgungsauftrag. Der Kläger hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass sich aus der Auswertung  bereits nicht ergibt, wie der Fachgruppendurchschnitt (als Basis für den prozentual ausgewiesenen Teilnahmeumfang) ermittelt wurde. Es stellt sich die Frage, ob er als Bundesdurchschnitt (gemäß der Anforderung der Beklagten) oder aus der Anzahl der in Gesamt-Berlin oder in Friedrichshain-Kreuzberg niedergelassenen Leistungserbringer gebildet wurde. Der Beklagte hat diese Unklarheit nicht aufgegriffen, sondern die übermittelten Zahlen insoweit unkritisch übernommen.

 

Ungeachtet dessen kann – so bereits zutreffend das Sozialgericht – der Durchschnitt der Fallzahlen, zumindest für die Psychotherapeuten,  nicht als Parameter dafür dienen, ob und inwieweit die Leistungserbringer ihren Versorgungsauftrag zu 100 % erfüllen. Will der Beklagte darauf seinen Ermittlungsansatz für die freien Kapazitäten stützen, so ist das fehlerhaft. Nach § 95 Abs. 3 Satz 1 SGB V bewirkt die Zulassung, dass Vertragsärzte sowie Vertragspsychotherapeuten zur vertragsärztlichen Versorgung im Umfang ihres aus der jeweiligen Zulassung folgenden zeitlich vollen oder hälftigen Versorgungsauftrags verpflichtet werden (BSG, Urteil vom 17. März 2021, B 6 KA 2/20 R, Rdnr. 31). Der Versorgungsauftrag ist damit ein vorgeschriebener Umfang, ein „Sollen“, kein bloßes Sein. Dabei steht für den Umfang eines vollen Versorgungsauftrags eine taugliche Messzahl zur Verfügung. Die Mindestsprechstundenzahl für Ärzte und die Gruppe der Psychotherapeuten lag bis zur Änderung des § 19a Abs. 1 Satz 2 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) durch das TSVG ab dem 31. August 2019 bei wöchentlich 20 Stunden, seither bei mindestens 25 Stunden pro Woche bei vollem Versorgungsauftrag. Die Vorgabe des Beklagten an die Beigeladene zu 1), wonach jene bei ihrer Auswertung von einer durchschnittlichen Behandlungsfallzahl zur Erfüllung des Versorgungsauftrags zu 100 % auszugehen hatte, knüpfte hingegen allein an einen bestehende Behandlungsfallzahl an, fand aber keine normative Basis. Sie beruhte damit selbst auf einer bloßen Annahme.

 

(2) Das anhaltende Ermittlungsdefizit des Beklagten und die fehlende Zuarbeit von Seiten der Krankenkassen führen in der Gesamtwürdigung zu einer eingeschränkten Umkehr der Beweislast zugunsten des Klägers. Von einer solchen ist allgemein im Fall einer unverschuldeten Beweisnot auszugehen. Eine solche liegt u.a. bei einer Beweisvereitelung vor. Wird die Beweisnot durch die Beweisvereitelung eines Beteiligten hervorgerufen, darf sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung regelmäßig zu Lasten des Beteiligten mit geringeren Beweisanforderungen begnügen, der den Beweis vereitelt hat. Voraussetzung dafür ist ein pflichtwidriges Handeln oder Unterlassen eines Beteiligten (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2004, B 7 AL 88/08 R,  Rdnr. 17f. u.a. unter Berufung auf den Rechtsgedanken von § 444 Zivilprozessordnung analog).

 

Ausgehend davon hat der Beklagte im Falle des Klägers anhaltend gegen die ihm obliegende gesetzliche Pflicht zur Ermittlung der realen Versorgungslage verstoßen. Nicht der Beklagte bestimmt, welche Daten und Angaben zur korrekten Ermittlung des Sachverhalts ausreichend sind (dazu bereits oben). Es handelt sich dabei um eine unverzichtbare Obliegenheit, deren Erfüllung zwar nicht vollstreckbar, deren Verletzung aber ggf. schadensersatzbewehrt ist (zum Sekundärrechtsschutz bei rechtswidrigem Verhalten der Zulassungsgremien vgl. Dittrich, ZMGR 2021, 82 – 87). Dem Beklagten als nach § 21 SGB X i.V.m. § 36 Abs. 4 BedarfsplRL zur Amtsermittlung Verpflichteten wurde sowohl in der Entscheidung des Senats vom 27. April 2016 (L 7 KA 48/14) als auch in dem nachfolgenden Urteil des BSG (vom 28. Juni 2017 - B 6 KA 28/16 R) hinreichend verdeutlicht, dass die Kostenerstattungsanträge der Krankenkassen einen wesentlichen, wenn nicht sogar zentralen Hinweis auf einen bestehenden Bedarf liefern können. Daraus ergab sich für den Beklagten in aller Klarheit, dass nur eine ausreichende Anzahl von aussagekräftigen Kassenmeldungen zu den Zahlen der Kostenerstattungen eine reale Versorgungslage bzw. einen Mangel an Versorgung darstellen können und er sich nicht allein mit deren pauschalen Einschätzungen zur Sonderbedarfslage zufrieden geben darf. Der Beklagte hätte sich daher auch z.B. mit einer Nichtmeldung oder einer reinen „Fehlmeldung“ nicht einfach abfinden dürfen. Zumindest wäre im Wege der Plausibilität zu prüfen gewesen, ob und wenn ja welche Selektivverträge bestanden; schließlich war in Betracht zu ziehen, dass die Angaben der Krankenkassen – wie auch diejenigen der bereits niedergelassenen Psychotherapeuten in der Sonderbedarfsumfrage –  interessensorientiert sein könnten.

 

Der Beklagte kann sich gegenüber dem Kläger nicht darauf berufen, die gebotene Ermittlung sei ihm unmöglich oder es liege allein ein Versagen Dritter vor. Als Verhalten Dritter in Betracht kommen einerseits das Verhalten der Beigeladenen zu 1) und der vom Beklagten konkret eingebundenen Krankenkassen, andererseits der niedergelassenen Psychotherapeuten, die die Anfrage zum Sonderbedarf nur zu einem geringen Bruchteil beantwortet haben. Demgegenüber erhebt gemäß § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV der Zulassungsausschuss die ihm erforderlich erscheinenden Beweise. Nach § 95 Abs. 3 Sätze 4 und 5 SGB V ist die Kassenärztliche Vereinigung zur Prüfung der Einhaltung der Versorgungsaufträge und Übermittlung an die Zulassungsausschüsse verpflichtet. Für die niedergelassenen Psychotherapeuten sind die vertraglichen Bestimmungen ebenfalls verpflichtend (§ 95 Abs. 3 Satz 3 SGB V). Damit sind auch disziplinarrechtliche Maßnahmen eröffnet, falls sie ihre (Mitwirkungs-)Pflichten verletzen. Die Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen unterliegen als Körperschaften ihrerseits staatlicher Aufsicht im Hinblick auf ihre Bindung an Recht und Gesetz (§ 87 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IV], §  78 SGB V). Der Beklagte hätte mit Blick darauf die Möglichkeit gehabt, die Aufsichtsbehörden nach § 90 SGB IV einzuschalten,  um seinen Ermittlungen zu den Kostenerstattungsanträgen Nachdruck zu verleihen. Stattdessen hat der Beklagte sich allerdings nur in eine überwiegend passive Rolle begeben und sein mageres Ermittlungsergebnis nicht kritisch hinterfragt.

 

Gleichzeitig ist der Kläger zur praktischen Durchsetzung seines behaupteten und nicht von vornherein abwegigen Anspruchs auf Zulassung im Wege des Sonderbedarfs darauf angewiesen, dass der Beklagte seiner gesetzlichen Ermittlungspflicht in dem gebotenen Umfang auch nachkommt. Der Kläger kann sich die zur Darstellung der Versorgungslage benötigten statistischen Daten wie auch die Auskünfte der bereits niedergelassenen Psychotherapeuten oder der Krankenkassen nicht selbst beschaffen. Beweisanträge sind in § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV für einen antragstellenden Bewerber nicht vorgesehen. Gleichzeitig ist die Rechtsposition des Klägers, die vom Schutzbereich der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) umfasst ist, von dem Umfang wie auch der Qualität der Ermittlungstätigkeit der Zulassungsgremien abhängig. Die faktische Vereitelung einer pflichtgemäßen Ermittlung der Sachlage durch den Beklagten im Zusammenwirken mit Teilen der Krankenkassen rechtfertigt daher zur Überzeugung des Senats eine eingeschränkte Umkehr der Beweislast für das Vorliegen eines qualifikationsbezogenen Sonderbedarfs.

 

(3) Vor diesem Hintergrund sprechen ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die ausnahmsweise Besetzung eines zusätzlichen Vertragsarztsitzes am Praxissitz in Friedrichshain-Kreuzberg unerlässlich ist, um die psychotherapeutische Versorgung mit Verhaltenstherapie zu gewährleisten und damit einen zusätzlichen lokalen qualifikationsbezogenen Versorgungsbedarf zu decken.

 

Die von dem Beklagten für 2017 ermittelte Anzahl der Kostenerstattungen belief sich auf 196 Fälle, wobei diese vor allem vom Beigeladenen zu 6) gemeldet wurden und die große Beigeladene zu 2) überhaupt keine Zahlen mitteilte, ebenso wenig der Beigeladene zu 3) und die IKK Berlin und Brandenburg. Im Rahmen der im Berufungsverfahren vom Senat angestoßenen (Nach-)Ermittlungen des Beklagten bei den Krankenkassen teilte der Beigeladene zu 3) mit, dass es in vier Quartalen 2020/2021 17 Kostenerstattungen allein im Verwaltungsbezirk Friedrichshain-Kreuzberg gegeben habe, die tatsächliche Anzahl aber noch höher sein könne und 80 % der Kostenerstattungsanträge positiv beschieden worden seien. Diese Zahlen rechtfertigen es davon auszugehen, dass diese Krankenkasse auch für das Jahr 2017 schon Kostenerstattungen gemeldet hätte. Daraus lassen sich Anhaltspunkte für einen höheren Versorgungsbedarf als die tatsächlich ermittelten 196 Fälle entnehmen. Der Senat geht davon aus, dass auf dieser Tatsachenbasis insgesamt ein ungedeckter Bedarf an Therapeutinnen und Therapeuten mindestens im oberen einstelligen Bereich besteht.

Die bei den niedergelassenen Psychotherapeuten gestartete Umfrage sowie die für 2017 erfolgte statistische Auswertung der Beigeladenen zu 1) geben ebenfalls Anhaltspunkte dafür, dass der Bedarf nicht zur Gänze von den zugelassenen Therapeuten gedeckt werden kann. Freie Kapazitäten bejahten für 2017 39 von 75 Befragten, 45 sahen diese nicht, also mehr als die Hälfte. Die weitere Aussage, wonach nur 36 einen Versorgungsbedarf bejahten, 39 dagegen nicht, steht dazu nicht im Widerspruch. Insgesamt sind die Angaben nur begrenzt plausibel, denn der statistisch nachgewiesene Teilnahmeumfang und die eigene Einschätzung der Niedergelassenen, ob sie damit ihren jeweiligen Versorgungsauftrag erfüllen, differieren sehr stark. In einigen Fällen wird nicht einmal die Hälfte der durchschnittlichen Fallzahl der Fachgruppe erreicht, aber angegeben, dass die Praxis zu 100 % ausgelastet sei. Die rein statistische Auswertung der Beigeladenen zu 1) zeigt zudem, dass in gesamt Berlin 43 % mit ihrer Fallzahl über dem Fachgruppendurchschnitt lagen, in Friedrichshain-Kreuzberg dagegen 48 %. Hingegen erreichen in gesamt Berlin 9,97 %  weniger als die Hälfte der Durchschnittfallzahl, in Friedrichshain-Kreuzberg dagegen 14 %, damit signifikant mehr. Im Umfang von 50 bis 100 % der Durchschnittsfahlzahl, damit im Mittelfeld, arbeiteten in gesamt Berlin 2017 46,3 % und in Friedrichshain-Kreuzberg dagegen nur 38 % der Psychotherapeuten/Psychotherapeutinnen.

Demgegenüber hat der Beklagte keine Umstände vorgetragen, die die positiven Anhaltspunkte für den Sonderbedarf erschüttern können. Das gilt auch bei Berücksichtigung des sehr schmalen Ermittlungsergebnisses der neuen Anfrage im Berufungsverfahren. Dass die Beigeladene zu 2) insoweit schriftlich lediglich eine Fehlmeldung abgegeben hat, kann keine Berücksichtigung zugunsten der Auffassung des Beklagten finden. Denn der Begriff der „Fehlmeldung“ ist seinerseits mehrdeutig. Allein die nur telefonisch erfolgte Erläuterung eines Mitarbeiters, wonach die AOK zu der Anfrage des Beklagten keine Angaben machen könne und sie grundsätzlich keine Einzelfallentscheidung treffe und Kostenerstattungsverfahren ablehne, trägt nicht zur Klärung bei, sondern wirft selbst Fragen nach der Beachtung der gesetzlichen Vorgaben des   § 13 Abs. 3 SGB V seitens der mitgliederstarken Krankenkasse auf.

 

Mit Blick auf die verfassungsrechtlich garantierte Berufsfreiheit des Klägers (Art. 12 Abs. 1 GG) und den Vorrang der Sachleistung vor einem Kostenerstattungsverfahren (dazu BSG, Urteil vom 28. Juni 2017, B 6 KA 28/16 R, Rdnr. 34) ist die Erteilung der Sonderbedarfszulassung die für den Kläger allein rechtmäßige Entscheidung. Der Beurteilungsspielraum des Beklagten ist insoweit eingeschränkt und es ist zur Wahrung des effektiven Rechtsschutzes für den Kläger (Art. 19 Abs. 4 GG) eine Verurteilung des Beklagten durch den Senat geboten. Eine erneute Zurückverweisung der Sache zur (wiederholten) Entscheidung des Beklagten böte für den Kläger nicht die notwendige Gewähr für den Schutz seiner grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit. Diese singuläre Prozesssituation erlaubt aber keine allgemeinen Rückschlüsse auf die Versorgungssituation mit Verhaltenstherapie im Bereich Friedrichshain-Kreuzberg oder im gesamten Berlin; die Entscheidung des Senats wirkt nur inter partes.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Danach hat der Beklagte als letztlich unterlegener Beteiligter die Kosten des Verfahrens zu tragen. Eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen ist nicht veranlasst, da diese keinen eigenen Antrag gestellt haben (§ 162 Abs. 3 VwGO).

 

Die Revision wird im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfragen, insbesondere der Annahme einer in diesem Fall beschränkten Beweislastumkehr, zugelassen (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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