S 16 R 1479/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 16 R 1479/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine Teilrente nach § 42 Abs. 1 SGB VI kann im Hinblick auf die allgemeinen Berechnungsgrundsätze in § 121 Abs. 1 SGB VI in Höhe von bis zu 99,99 Prozent bzw. 0,9999 der Vollrente beansprucht werden. Eine Begrenzung der maximalen Teilrente auf 99 Prozent bzw. 0,99 der Vollrente lässt sich dem Gesetz hingegen nicht entnehmen.

 

  1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 01.02.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2022 verurteilt, der Klägerin ab dem 01.02.2022 eine höhere Altersrente für besonders langjährig Versicherte als Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent der Vollrente zu gewähren.

 

  1. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach zu tragen.

 

 

 

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um die Frage, in welchem Umfang die Altersrente der Klägerin als Teilrente zu gewähren ist.

 

Die am xx.xx.1958 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich rentenversichert. Sie beantragte am 29.10.2021, bereits vertreten durch ihren Bevollmächtigten, bei der Beklagten Altersrente für besonders langjährig Versicherte als Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent der Vollrente.

 

Mit Bescheid vom 01.02.2022 gewährte die Beklagte der Klägerin ab diesem Datum die beantragte Altersrente im Umfang der gewählten Teilrente mit einem Zahlbetrag von laufend 1.500,97 Euro nach Abzug von Beiträgen zur Krankenversicherung sowie Pflegeversicherung, ausgehend von einem Rentenbetrag von 1.688,38 Euro. Sie berücksichtigte dabei ausgehend von dem Versicherungsverlauf 49,8810 Entgeltpunkte (EP) und hiervon aufgrund der gewählten Teilrente 49,3822 EP (99 Prozent von 49,8810). Ein Anspruch auf eine unabhängig von einem Hinzuverdienst gewählte Teilrente von mehr als 99 Prozent bestehe nicht. Dem hierzu ergangenen Urteil des Bayerischen LSG vom 14.09.2021 (L 6 R 199/19) lasse sich nicht entnehmen, aufgrund welcher Rechenschritte sich die dort ausgeurteilte Teilrente von 99,99 Prozent ergebe.

 

Die Klägerin legte hiergegen am 14.02.2022, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Widerspruch ein. Die Rente sei wie beantragt auf 99,99 Prozent der Vollrente zu begrenzen. Die in § 42 SGB VI ermöglichte Teilrentengewährung werde dort nur im Sinne einer Mindestgrenze von 10 Prozent geregelt. Der Anspruch werde ansonsten nur durch die Regelung des § 34 Abs. 3 SGB VI begrenzt. Dabei könne die in § 121 Abs. 1 SGB VI vorgesehene Berechnung auf vier Dezimalstellen angewendet werden. Die gewünschte Teilrente entspreche hier mit 0,9999 diesen Vorgaben.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2022 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, da kein Anspruch auf eine unabhängig von einem Hinzuverdienst gewählte Teilrente von mehr als 99 Prozent bestehe. Zu Begründung wiederholte die sie entsprechende Begründung aus dem angefochtenen Bescheid.

 

Die Klägerin hat am 16.05.2022, vertreten durch ihren Bevollmächtigten, Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben. Sie wiederholt zur Begründung ihr Vorbringen aus dem Widerspruch und verweist auch auf ein stattgebendes Urteil des SG Freiburg vom 23.02.2022 in dem vergleichbaren Verfahren S 4 R 10/22 (dortige Beklagte: DRV Nordbayern).

 

Die Klägerin beantragt (teilweise sinngemäß),

 

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 01.02.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2022 zu verurteilen, der Klägerin ab dem 01.02.2022 eine höhere Altersrente für besonders langjährig Versicherte als Teilrente in Höhe von 99,99 % der Vollrente zu leisten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie verweist auf den Widerspruchsbescheid. Mit einem von dem Gericht angeregten Ruhen des Verfahrens im Hinblick auf das dem Urteil des SG Freiburg nachgehende Berufungsverfahren vor dem LSG Baden-Württemberg (L 5 R 1027/22) sei sie nicht einverstanden. Dem Urteil des LSG Bayern werde über den dortigen Einzelfall hinaus nicht gefolgt.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Hinsichtlich des weiteren Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die Kammer entscheidet hier im Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.

 

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG i.V.m. § 56 SGG) zulässig. Die Leistungsklage richtet sich bei Auslegung des Klageantrages anhand des erkennbaren Klagebegehrens (§ 123 SGG) auf die Verurteilung der Beklagten, der Klägerin ab dem Rentenbeginn 01.02.2022 eine höhere Altersrente für besonders langjährig Versicherte in Form einer Teilrente von 99,99 Prozent anstatt 99 Prozent der Vollrente zu gewähren. Die damit verbundene Anfechtungsklage richtet sich gegen den Rentenbescheid vom 01.02.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2022. Von den gesonderten Verfügungssätzen eines Rentenbescheides hinsichtlich Rentenart, Rentenhöhe und Dauer der Rente (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.11.2009 – L 10 R 5738/07 –, in juris; Mey, SGb 2013, 332, 333) ist hier nur der die Rentenhöhe bzw. den Monatsbetrag der Rente nach § 64 SGB VI regelnde Verfügungssatz und damit Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) angefochten. Über die Rentenberechtigung der Klägerin für die Altersrente für besonders langjährig Versicherte dem Grunde nach ab dem 01.02.2022 besteht hier daher kein Streit.

 

Die Klage ist auch begründet, weil die Klägerin diese Altersrente als höhere Teilrente im Umfang von 99,99 Prozent der Vollrente beanspruchen kann. Denn bei der Berechnung des Monatsbetrags der Rente sind die (persönlichen) EP nach § 66 Abs. 3 SGB VI in diesem Umfang anstelle des bisherigen Umfangs von 99 Prozent zu berücksichtigen (§ 64 Nr. 1 SGB VI).

 

Nach § 42 Abs. 1 SGB VI können Versicherte eine Rente wegen Alters in voller Höhe (Vollrente) oder als Teilrente in Anspruch nehmen. Nach § 42 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB VI in der ab 01.07.2017 geltenden geänderten Fassung (durch Art. 1 Nr. 16 G v. 8.12.2016 <Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben – Flexirentengesetz>, BGBl. I 2838) gilt daneben Folgendes: Eine unabhängig vom Hinzuverdienst gewählte Teilrente beträgt mindestens 10 Prozent der Vollrente. Sie kann höchstens in der Höhe in Anspruch genommen werden, die sich nach Anwendung von § 34 Absatz 3 ergibt. Die durch das Flexirentengesetz geänderte Regelung des § 42 Abs. 2 SGB VI enthält damit neben der Flexibilisierung der Teilrenten (durch Aufgabe der bisherigen Einschränkung auf die Teilrenten (nur) im Umfang von einem Drittel, der Hälfte oder zwei Dritteln der erreichten Vollrente, vgl. BT-Drs. 18/9787, S 41 zu Nr. 16) keine ausdrückliche Prozentregelung für den Höchstsatz der Teilrente. Der Begründung des Gesetzentwurfs lassen sich dazu auch keine Hinweise entnehmen (vgl. BT-Drs. 18/9787, S. 41, 42 zu Nr. 16 und 17).

 

Damit kann auf die allgemeinen Berechnungsgrundsätze in § 121 SGB VI zurückgegriffen werden (vgl. allgemein Fichte in: Hauck/Noftz, SGB, § 121 SGB VI Rn. 1). Nach § 121 Abs. 1 SGB VI werden Berechnungen auf vier Dezimalstellen durchgeführt, wenn nicht etwas anderes bestimmt ist. Eine solche Bestimmung lässt sich § 42 SGB VI nicht entnehmen und ist hier auch nicht anderweitig ersichtlich.

 

Die von der rechtskundig vertretenen Klägerin bewusst beantragte Teilrente von 99,99 Prozent entspricht in Dezimalschreibweise (0,9999) genau diesen Berechnungsgrundsätzen. Da bereits ein Prozent als Dezimalzahl eine Hundertstelstelle (0,01) und damit zwei Dezimalstellen ergibt, ist hingegen nicht auf diejenigen Dezimalstellen abzustellen, die sich bei Angabe der Teilrente in Prozent ergeben würden. Dies dürfte in dem Urteil des Bayerischen LSG vom 14.09.2021 (L 6 R 199/19 –, juris; dem folgend SG Freiburg, Urteil vom 23.02.2022 – S 4 R 10/22; Berufung anhängig bei dem LSG Baden-Württemberg, Az. L 5 R 1027/22) ebenso wie in der dem Urteil zustimmenden Anmerkung von Lindner (NZS 2022, 550) übersehen worden sein. Denn das Bayerische LSG hat den Anspruch auf eine Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent als jedenfalls von der Bestimmung des § 123 Abs. 1 SGB VI gedeckt angesehen (a.a.O. Rn. 25). Nach dieser Vorschrift werden Berechnungen von Geldbeträgen auf zwei Dezimalstellen (und damit auf Euro-Cent-Beträge) durchgeführt. Da bereits eine Berechnung in vollen Prozent eine Berechnung mit einer Dezimalzahl mit zwei Dezimalstellen bedeutet, kann der Rückgriff auf diese – ohnehin speziell für Geldbeträge geltende – Vorschrift das von dem Bayerischen LSG gefundene Ergebnis gerade nicht stützen. Es kann daher gut nachvollzogen werden, dass die Beklagte die Begründung des Urteils für unklar hält.

 

Die von der Beklagten wie offenbar auch von den anderen Rentenversicherungsträgern (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O. Rn. 22) gesetzte Obergrenze einer Teilrente von 99 Prozent ist jedoch dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu entnehmen und verkürzt die Rente der Versicherten ohne ausreichende Rechtfertigung. Auch Sinn und Zweck des Gesetzes erfordern diese Auslegung nicht (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O.). Die Neuregelung verfolgt das Ziel, den individuellen Bedürfnissen der Versicherten nach einer selbstbestimmten Kombination von Erwerbstätigkeit und Rentenbezug stärker Rechnung zu tragen. Zugleich soll ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand vermieden werden (BT-Drucks. 18/9787, a.a.O.). Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Rentenversicherungsträger davon befreit sein sollte, aufwändige Optimierungsberechnungen vorzunehmen, damit ein gewählter Prozentwert nicht den Betrag der Vollrente erreiche. Denn die Teilrente in Höhe von 99,99 Prozent kann ebenso wie eine Teilrente von 99 Prozent ohne größeren Aufwand bestimmt werden (vgl. Bayerisches LSG, a.a.O.). Jedenfalls ab einem Rentenbetrag von 100 Euro ergibt sich auch bei 99,99 Prozent noch ein nach § 123 Abs. 1 SGB VI relevanter – und rechtslogisch wohl auch zu fordernder – Unterschied der Beträge der Teilrente und der Vollrente. Dem in der Gesetzesbegründung aufgeführten Ziel der Vermeidung von hohem Verwaltungsaufwand hat der Gesetzgeber bereits durch die 10 Prozent-Regelung Rechnung getragen (vgl. Freudenberg in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VI § 42 SGB VI Rn. 21).

 

Eine von dem Bayerischen LSG wie auch in der Urteilsanmerkung (jeweils a.a.O.) ausgehend von der dortigen Berechnung für denkbar gehaltene Teilrente von mehr als 99,99 Prozent kann im Hinblick auf die erforderliche Berechnung mit vier Dezimalstellen jedoch nicht gefordert werden. Unter Berücksichtigung auch der fünften Stelle (§ 121 Abs. 2 SGB VI) ergäbe dies genau genommen eine Teilrente von 1,0 und damit eine Vollrente. Hierüber ist im Hinblick auf den gestellten Antrag jedoch nicht zu entscheiden.

 

Ausgehend von der Berechnung der Entgeltpunkte aus der Summe aller Entgeltpunkte entsprechend dem Verhältnis der Teilrente zu der Vollrente (§ 66 Abs. 3 Satz 1 SGB VI) ergibt sich bei einer Teilrente von 99,99 Prozent ein höherer Betrag an (persönlichen) Entgeltpunkten und damit ein höherer Rentenbetrag und daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch ein höherer Zahlbetrag der Rente. Für einen bislang nicht berücksichtigten Hinzuverdienst (§ 34 Abs. 3 SGB VI) ist hier nichts ersichtlich. Die Voraussetzung für ein Grundurteil (§ 130 Abs. 1 SGG) in einem Höhenstreit ohne bezifferten Klageantrag ist daher gegeben, weil hier mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird. (BSG, Urteil vom 16.04.2013 – B 14 AS 81/12 R).

 

Nach alledem war zu entscheiden wie tenoriert.

 

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits.

Rechtskraft
Aus
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