Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2021 geändert und der Beklagte unter Änderung seines Bescheides vom 11. Oktober 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 2018 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 1. März 2017 einen Grad der Behinderung von 70 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1964 geborene Klägerin begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 80. Mit Bescheid vom 11. November 2014 hatte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 50 festgestellt. Am 1. März 2017 beantragte die Klägerin die Neufeststellung und die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche mit Merkzeichen B und G und gab hierbei an, sie leide neben weiteren Erkrankungen auch an schweren depressiven Episoden. Nach Auswertung von Befundunterlagen und Einholung eines allgemeinmedizinischen Gutachtens stellte der Beklagte bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 1. März 2017 einen GdB von 60 fest unter Zugrundelegung folgender Funktionsbeeinträchtigungen, die er verwaltungsintern mit dem aus dem jeweiligen Zusatz ersichtlichen Einzel-GdB bewertete:
- Depressive Störung, psychosomatische Störungen (40),
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Muskel- und Wurzelreizerscheinungen (30),
- koronare Herzkrankheit (Durchblutungsstörungen des Herzens), abgelaufener Infarkt, Fettstoffwechselstörung bei ausgeprägter Adipositas (20),
- allergische Diathese, Pollinosis (10),
- Blutarmut bei Eisenmangel (10) sowie
- Unwillkürlicher Harnabgang (10).
Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 5. März 2018 zurück.
Mit der am 12. März 2018 erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von 80 begehrt und geltend gemacht, insbesondere ihr psychisches Leiden sei durch den Beklagten zu gering bewertet worden. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte sowie eines Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie Dr. M. Der Sachverständige ist nach Untersuchung der Klägerin in seinem Gutachten vom 25. September 2020 zu der Einschätzung gelangt, führendes Leiden bei der Klägerin sei eine Funktionsbeeinträchtigung auf psychischem Gebiet. Es handele sich hierbei nach seiner Einschätzung um eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, für die er einen Einzel-GdB von 50 vorschlage. So lasse sich eine deutliche Agoraphobie feststellen, die es der Klägerin unmöglich mache, sich ohne Begleitung im öffentlichen Raum zu bewegen. Ursprünglich festzustellende schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten in Gestalt einer Unmöglichkeit der Kontaktpflege auch zu engen Familienmitgliedern hätten im Verlauf der Behandlung eine leichte Besserung erfahren, so dass die Klägerin zu jenen Familienmitgliedern, zu den sie eine gute Beziehung habe, inzwischen wieder Kontakt pflegen könne. Daher gehe er gegenwärtig nicht vom Bestehen schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten aus. Insgesamt halte er jedoch einen Gesamt-GdB von 60 nach wie vor für zutreffend. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen. Der Beklagte hat die Einschätzung des Sachverständigen – mit Ausnahme der Ausführungen in Bezug auf das nicht streitgegenständliche Merkzeichen B – geteilt. Mit Urteil vom 15. April 2021 hat das Sozialgericht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen die Ausführungen des von ihm bestellten Sachverständigen zu Eigen gemacht. Wegen der Einzelheiten wird auf das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20. April 2021 zugestellte Urteil Bezug genommen.
Mit der am 11. Mai 2021 eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Ansicht, die bei ihr vorliegenden und auch durch den in erster Instanz bestellten Sachverständigen festgestellten Beeinträchtigungen der Psyche geböten die Annahme einer schweren Störung mit schweren sozialen Anpassungsstörungen. Insoweit überzeuge es nicht, wenn der Sachverständige und das Sozialgericht unter Hinweis auf gelegentliche Kontakte der Klägerin zu engen Familienmitgliedern von nur mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ausgehe. Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. April 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 11. Oktober 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 2018 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 1. März 2017 einen Grad der Behinderung von 80 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er hat vorgelegen und ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte über die Berufung der Klägerin ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil sich die Beteiligten mit einer derartigen Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die zulässige Berufung ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung eines Grades der Behinderung von 70 ab Antragstellung.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung, bzw. § 152 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung sind die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auf Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung (VersmedV) festgelegten so genannten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) heranzuziehen. Zwischen den Beteiligten einzig streitig ist die Bewertung des bei der Klägerin festgestellten psychischen Leidens, für das der Beklagte und das Sozialgericht auf der Grundlage des Vorschlages des vom Sozialgericht bestellten Sachverständigen einen Einzel-GdB von 50 in Ansatz bringen, die Klägerin indes einen GdB von 70 für angemessen hält. Maßgeblich ist insoweit Teil B 3.7 VMG über die Bewertung von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen. Danach sind schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB von 80 bis 100 zu bewerten. Zu Recht ist das Sozialgericht in Übereinstimmung mit dem Beklagten und dem gerichtlich bestellten Sachverständigen davon ausgegangen, dass bei der Klägerin seit Antragstellung mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten festzustellen seien, nicht aber schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten. Ausweislich der Angaben der Klägerin gegenüber dem Sachverständigen aber auch der weiteren beigezogenen medizinischen Unterlagen ist die Klägerin nach wie vor in der Lage, soziale Kontakte aufzunehmen und zu pflegen. Dies gilt nicht nur für engste Familienangehörige, etwa die sie betreuende Tochter, sondern ergibt sich etwa auch aus dem Therapiebericht des Krankenhauses Berlin vom 25. November 2016, wonach die Klägerin in der dort durchgeführten teilstationären Therapie guten Kontakt zu Mitpatienten gepflegt habe und vom Gruppenprogramm habe profitieren können. Innerhalb der damit anwendbaren Bewertungsspanne für mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten von 50 bis 70 handelt es sich hingegen nach Überzeugung des Senates in Abweichung von der Ansicht des Sozialgerichts und des Beklagten nicht um einen leichten Fall, der an der Untergrenze des Spannenrahmens läge, sondern um einen Fall, der die Zuerkennung des Mittelwertes, also einen Einzel-GdB von 60 rechtfertigt. So beschreibt der Sachverständige in seinem Gutachten die völlige Unfähigkeit der Klägerin, sich ohne fremde Begleitung im öffentlichen Raum zu bewegen. Maßgeblich sei insoweit eine ausgeprägte Agoraphobie. Zusätzlich ist die Klägerin offenkundig nicht in der Lage, sich um elementare Dinge des eigenen Lebens eigenverantwortlich zu kümmern. So steht sie für finanzielle Angelegenheiten und den Verkehr mit Behörden unter Betreuung. Sie bedarf ferner der Einnahme eines Psychopharmakum in einer durch den Sachverständigen als hoch beschriebenen Dosierung, um das negativ quälerische Grübeln zu reduzieren und sie in den Schlaf finden zu lassen. Ist damit das bei der Klägerin führende Leiden mit einem Einzel-GdB von bereits 60 zu bewerten, so führt die Gesamtschau mit den weiteren bei der Klägerin bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen, die zwischen den Beteiligten nicht im Streit stehen, namentlich dem Wirbelsäulenleiden mit einem Einzel-GdB von 30, in Anwendung der Vorgaben von Teil A 3.d) VMG zu einer Anhebung des Gesamt-GdB auf einen Wert von 70. Eine weitere Anhebung im Hinblick auf die bei der Klägerin bestehende Herzerkrankung, die mit einem GdB von 20 zu bewerten ist, ist hingegen nicht geboten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.