L 29 AS 520/22 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
29
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 8 AS 2272/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 29 AS 520/22 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Mai 2022 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt lautet:

 

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12. April 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2022 wird angeordnet und die Aufhebung der bereits getroffenen Vollziehungsmaßnahmen angeordnet.

 

Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Rechtszüge zu erstatten.

Gründe

 

Mit Bescheid vom 12. April 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2022 hat der Antragsgegner die der Antragstellerin mit Bescheid vom 20 . Januar 2022 für die Zeit von Februar 2022 bis Januar 2023 in Höhe von monatlich 460,01 €  bewilligten Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit ab Mai 2022 in Höhe von monatlich 166,71 € (Höhe der vermeintlich von ihr monatlich geschuldeten Betriebs- und Heizkostenvorauszahlungen) unter Berufung auf § 66 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) mit der Begründung entzogen, sie habe trotz Aufforderung die Betriebs- und Heizkostenabrechnung für das Jahr 2020 nicht eingereicht. Hiergegen ist Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist.

 

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 28. Mai 2022 die „Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen und weiterhin die ungeminderten Leistungen an die Antragstellerin auszuzahlen“.

 

Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Der Senat hat die die Beschwerde zurückweisende Entscheidung mit einem sogenannten Maßgabetenor versehen, da die Entscheidung über die aufschiebende Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht im Wege einer Verpflichtung des Antragsgegners erfolgt und § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG nur die Aufhebung bereits getroffener Vollziehungsmaßnahmen ermöglicht.

 

Im Ergebnis zutreffend hat das Sozialgericht erkannt, dass die im Rahmen von § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG – Widerspruch und Klage gegen die streitige Entziehungsentscheidung haben gemäß § 39 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung – anzustellende Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin ausgeht. Denn an der Rechtmäßigkeit der Entziehungsentscheidung bestehen ernstliche Zweifel.

 

Diese dürften indes nicht – wie das Sozialgericht angenommen hat – darin bestehen, dass die Antragstellerin einen Pauschal-Untermietvertrag mit dem Hauptmieter, offenbar ihrem Vater, abgeschlossen hat, der eine jährliche Betriebskostenabrechnung nicht vorsieht. Denn insofern dürfte der Antragsgegner insbesondere zutreffend darauf hingewiesen haben, dass im Untermietvertrag (dem Hauptmietvertrag entsprechende) Betriebs- und Heizkostenvorauszahlungen aufgeführt sind, die Antragstellerin in der Vergangenheit diverse an ihren Vater gerichtete Betriebs- und Heizkostenabrechnungen des Vermieters, des Wohnungsunternehmens Stadt und Land, vorgelegt hat und im Jahr 2012 auch eine diesbezügliche Nachforderung bei den Leistungen für Unterkunft und Heizung berücksichtigt worden ist. Die Frage, ob ein Pauschal-Untermietvertrag vorliegt, kann hier jedoch offen bleiben.

 

Denn jedenfalls bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entziehungsentscheidung insofern, als der Antragsgegner die Antragstellerin nicht ausreichend konkret im Sinne von § 66 Abs. 3 SGB I auf die mögliche Rechtsfolge bei einer Mitwirkungsverweigerung hingewiesen haben dürfte.

 

Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der oder die Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden und der Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm/ihr gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

 

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist der in § 66 Abs. 3 SGB I vorgesehene schriftliche Hinweis eine zwingende (formelle) Voraussetzung für die Entziehung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung im Verwaltungsverfahren. Dieser Hinweis muss die notwendige Bestimmtheit aufweisen, damit der/die zur Mitwirkung Aufgeforderte eindeutig erkennen kann, was ihm/ihr bei Unterlassung der Mitwirkung droht. Daher darf sich der Hinweis nicht auf eine allgemeine Belehrung oder Wiedergabe des Gesetzeswortlauts beschränken, sondern muss anhand der dem Leistungsträger durch § 66 Abs. 1 SGB I eingeräumten Entscheidungsalternativen unmissverständlich und konkret die Entscheidung bezeichnen, die im Einzelfall beabsichtigt ist, wenn der/die Betroffene dem Mitwirkungsverlangen innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommt. Der vorherige schriftliche Hinweis auf die mögliche(n) Rechtsfolge(n) fehlender Mitwirkung nach § 66 Abs. 3 SGB I ist eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren. Er soll sicherstellen, dass der/die Betroffene in Kenntnis der ihm/ihr drohenden Rechtsfolgen seine Haltung auf seinen/ihren Einzelfall bezogen überdenken kann, um nicht von einer späteren ganz oder teilweisen Leistungsversagung oder -entziehung nach § 66 Abs. 1 SGB I überrascht zu werden (Warn- und Appellfunktion). Gerade aus diesem Grund muss der schriftliche Hinweis nach § 66 Abs. 3 SGB I Ausführungen darüber enthalten, aufgrund welcher Umstände im Einzelfall ein Mitwirkungsversäumnis bei dem/der Sozialleistungsempfänger/-in vorliegt und welche rechtliche(n) Konsequenz(en) das für ihn/sie haben kann (BSG, Urteil vom 12. Oktober 2018 – B 9 SB 1/17 R – juris Rn. 27 f. m.w.N.).

 

Es erscheint sehr zweifelhaft, ob das mit „Aufforderung zur Mitwirkung" überschriebene Schreiben des Antragsgegners vom 20. Januar 2022 und das mit „Erinnerung an die Aufforderung zur Mitwirkung vom 20.01.2022" überschriebene weitere Schreiben vom 10. März 2022 diese Anforderungen erfüllen. Mit ihnen wies der Antragsgegner die Antragstellerin lediglich allgemein auf die Mitwirkungsvorschriften in den §§ 60 ff. SGB I, die in beiden Schreiben im Wortlaut  wiedergegeben waren, sowie auf die – sich bereits aus dem Gesetzestext (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I) ergebende – Möglichkeit hin, dass Geldleistungen „ganz versagt werden“ können, bis die Mitwirkung nachgeholt werde, was bedeute, dass sie (die Antragstellerin) keine Leistung erhalte. Von dieser Formulierung war schon nicht die – nach bis Januar 2023 erfolgter Leistungsbewilligung – allein in Betracht kommende und später mit dem angefochtenen Bescheid auch ausgesprochene Leistungsentziehung erfasst. Aber auch unabhängig davon enthielt der Hinweis keinen Bezug zum konkreten Fall bzw. keinen Anhaltspunkt für die hier konkret in Betracht gezogene Leistungsentziehung. Dass eine Entziehung der auf den Betriebs- und Heizkostenanteil an den Untermietkosten ab Mai 2022 entfallenen Leistungen für Unterkunft und Heizung im Raum stand, verstand sich auch keineswegs von selbst (wie es sich etwa von selbst verstehen mag, dass eine vollständige Leistungsversagung in Rede steht, wenn auf einen Neuantrag auf SGB II-Leistungen zur Klärung der Hilfebedürftigkeit die Vorlage von Einkommensunterlagen verlangt wird). Vielmehr steht die mit Bescheid vom 12. April 2022 erfolgte teilweise Leistungsentziehung für die Zeit ab Mai 2022 nicht recht im Einklang damit, dass ein etwaiges Betriebskostenguthaben, auf das die Mitwirkungsaufforderung offenbar vorrangig abzielte, nach § 22 Abs. 3 SGB II den Bedarf für Unterkunft und Heizung nur nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift mindern würde. Das betrifft den regelhaft (nur) den Monat nach der etwaigen Rückzahlung oder Gutschrift, ggf. – bei einem die monatlichen Aufwendungen übersteigenden Guthaben – auch den Folgemonat oder die Folgemonate (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 – B 4 AS 8/20 R – juris Rn. 28). Da die vorliegenden Betriebs- und Heizkostenabrechnungen für die Wohnung der Antragstellerin jeweils im Herbst des Jahres für das vorangegangene Jahr erstellt wurden und, soweit ersichtlich, Rückzahlungen sodann kurzfristig erfolgten, mangelt es an einem direkten zeitlichen Zusammenhang zwischen der erfolgten Leistungsentziehung und der offenbar beabsichtigten Prüfung der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung. Angesichts dieser Diskrepanz erscheint zudem fraglich, ob hier der dauerhaften Leistungsentziehung für die Zukunft nicht Sanktionswirkung beikommt, obwohl § 66 Abs. 1 SGB I keinen Sanktionscharakter haben soll (Mrozynski, Kommentar zum SGB I, 6. Aufl. § 66 Rn. 1 m.w.N.), es vielmehr im Kern um die Klärung des Leistungsanspruchs geht (vgl. § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I). Insofern ließe sich für die erfolgte Leistungsentziehung allenfalls anführen, dass eine etwaige Betriebs- bzw. Heizkostenerstattung auch eine (künftige) Absenkung der Betriebs- bzw. Heizkostenvorauszahlungen zur Folge haben könnte. Diese Möglichkeit ist indes recht vage, zumal im vorliegenden Fall, in dem, soweit ersichtlich, auf die Betriebs- und Heizkostenabrechnungen für die Wohnung der Antragstellerin für die Jahre 2016 bis 2019, die erhebliche Gutschriften auswiesen, die Betriebs- oder Heizkostenvorauszahlungen nicht angepasst wurden.

 

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Leistungsentziehung bestehen ferner insoweit, als die Antragstellerin lediglich Untermieterin ist und die Betriebs- und Heizkostenabrechnungen gegenüber dem Hauptmieter (ihrem Vater) erfolgen. Nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I bestehen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 SGB I nicht, soweit ihre Erfüllung den Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Anforderung von Unterlagen private Dritte betrifft, die nicht am Sozialleistungsverhältnis beteiligt sind. Auskunftspflichten, die Dritte betreffen, erstrecken sich jedoch nur auf Tatsachen, die dem Leistungsempfänger oder der Leistungsempfängerin selbst bekannt sind. Grundsätzlich besteht keine Ermittlungspflicht des Leistungsempfängers/der Leistungsempfängerin gegenüber Dritten. Er/sie muss sich grundsätzlich keine Erkenntnisse verschaffen. Daraus folgt, dass regelhaft keine Verpflichtung besteht, Beweismittel von privaten Dritten zu beschaffen und vorzulegen. Dies gilt  insbesondere dann, wenn der/die betreffende Dritte es abgelehnt hat, entsprechende Angaben zu machen. Wenn von einem Leistungsempfänger oder einer Leistungsempfängerin etwas subjektiv Unmögliches verlangt wird, kann von einer Mitwirkungsobliegenheit im Sinne des § 60 Abs. 1 SGB I nicht ausgegangen werden (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 – L 7 AS 772/07 ER – juris Rn. 14 m.w.N.). So liegt womöglich der Fall hier; jedenfalls macht die Antragstellerin geltend, die in Rede stehende Betriebs- und Heizkostenabrechnung von ihrem Vater nicht zu erhalten. Auf die Vorschrift des § 60 SGB II, wonach der Antragsgegner für entscheidungserheblich erachtete Auskünfte direkt von Dritten erlangen kann, wird hingewiesen.

 

Mit der vorliegenden Entscheidung über die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Mai 2022 erübrigt sich eine Entscheidung über den Antrag des Antragsgegners auf Aussetzung der Vollstreckung gemäß § 199 SGG.

  

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

 

Dieser Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
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