L 3 R 1071/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 15 R 1975/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 R 1071/16
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.10.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist ein Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente aufgrund von Arbeitszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Die Klägerin ist die Witwe und Sonderrechtsnachfolgerin des am 00.00.1924 geborenen und am 02.09.2016 verstorbenen Y (nachfolgend: Verfolgter). Dieser war anerkannter Verfolgter im Sinne des § 1 Abs. 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Er erhielt eine Entschädigung wegen Schadens an Freiheit für die Zeit von März 1944 bis März 1945 (Bescheid des Bezirksamtes für Wiedergutmachung Koblenz vom 11.07.1961).

In seinem damaligen formularmäßigen Antrag auf Entschädigung gab der Verfolgte am 09.08.1956 an,

vom 01.07.1940 bis zum 31.08.1940 im Zwangsarbeitslager (ZAL) Kiszenpuszta,

vom 01.03.1944 bis zum 31.03.1944 im ZAL Komaron,

vom 01.04.1944 bis zum 01.11.1944 im ZAL Kiskunmadaras und

vom 01.11.1944 bis zum 30.03.1945 im ZAL Bruck

gewesen zu sein. Seinen Lebenslauf und den Verfolgungsvorgang schilderte er wie folgt: „[…] Auf nationalsozialistischen Druck wurde ich als Jude schon am 01.07.1940 zu Zwangsarbeit eingezogen und kam in das ZAL Kiszenpuszta. Dort blieb ich bis 31.08.1940 und wurde wieder entlassen. Im Jahre 1944, dem 01.03., wurde ich wieder zur Zwangsarbeit eingezogen und kam in das ZAL Komarom. Dort war ich bis 31.03.1944. Am 01. April 1944 kam ich ins Arbeitslager Kiskunmadaras dort blieb ich bis 01.11.1944. Am 01.11.1944 brachte man uns über Budapest in das ZAL Bruck a. d. Leitha (Österreich) [...] Alle diese Arbeitsläger, in denen ich zwecks Zwangsarbeit interniert war, waren mit Stacheldraht umgeben, schwer bewacht, wir durften es unter schwersten Strafandrohungen nicht verlassen und waren unserer Freiheit völlig beraubt. Von und zur Arbeit wurden wir escortiert und auch während der Arbeit waren wir streng bewacht. […]“

In dem Formularantrag vom 16.07.1957 auf Entschädigung wegen eines Schadens an Freiheit wurde der Verfolgte gebeten, die Freiheitsschäden in zeitlicher Reihenfolge anzugeben. Hierzu wurde erläutert: „Der Schaden an Freiheit kann durch Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung entstanden sein. In der Spalte „Art der Freiheitsentziehung oder der Freiheitsbeschränkung“ machen Sie bitte folgende Angaben: Polizei- oder Untersuchungshaft, […], Zwangsarbeitslager, Zwangsaufenthalt im Ghetto, […].“ Der Verfolgte wiederholte seine in dem Antragsformular vom 09.08.1956 gemachten Angaben und führte ergänzend aus: „Am 01.07.1940 nach Kiszenpuszta zur Zwangsarbeit einberufen. Am 01.03.1944 zu weiterer Zwangsarbeit einberufen und nach Komarom zugeteilt. Hier bis 31.03.1944 geblieben. Am 01.04.1944 zu weiterer Zwangsarbeit nach Kiskunmadaras einberufen und bis 01.11.1944 geblieben. Am 01.11.1944 in ein weiteres Zwangsarbeitslager nach Bruck an der Leitha über Budapest einberufen und hier schwere Befestigungsarbeiten unter deutschem Kommando bei der Todt-Organisation geleistet – dies bis zur Befreiung durch die Russen am 30.03.1945. […]“

Der Zeuge Z gab in seiner eidlichen Erklärung vom 16.07.1957 u.a. an: „Als ich Anfang März 1944 zum Zwangsarbeitsdienst ins ZAL Komarom einberufen wurde, traf ich dort auch den Antragsteller und lernte ihn hier zum ersten Male kennen. Wir verrichteten hier bis ungefähr gegen Ende März 1944 Zwangsarbeit und wurden von dort weiter ins ZAL Kiskunmadaras zu erneuter Zwangsarbeit geschickt. Hier mussten wir bei schwerer Zwangsarbeit bis gegen 01. November 1944 verbleiben. Am 01. November 1944 wurde der Antragsteller in ein weiteres Zwangsarbeitslager über Budapest, nach Bruck a. d. Leitha geschickt, um dort Befestigungsarbeiten unter deutschem Kommando auszuführen. Ich hingegen wurde in ein Zwangsarbeitslager nach Budapest geschickt, von wo mir die Flucht glückte.“

In einer eidlichen Erklärung vom 07.07.1960 gab der Zeuge R u.a. an: „Ich lernte den Antragsteller im Zwangsarbeitsdienst im ZAL Komarno kennen im Frühjahr 1944. Wir gehörten der gleichen Arbeitskompanie an und arbeiteten in der I-Festung zusammen. Wir blieben auch weiterhin in der gleichen Arbeitskompanie zusammen und waren im ZAL Kiskunmadras ebenfalls bei Zwangsarbeiten. Im November 1944 wurden wir über Budapest in das ZAL Bruck a. d. Leithe befördert, dort arbeiteten wir unter der Todt-Organisation. In Bruck erkrankte der Antragsteller. Er blieb in diesem Lager zurück, während ich weitergeleitet wurde. Unsere Wege trennten sich ungefähr im Frühjahr 1945.“

Am 24.06.2003 beantragte der Verfolgte die Gewährung einer Altersrente auf Grund von Beitragszeiten nach dem ZRBG. Er gab an, sich in den Ghettos Nagy Magyar und Duna Szerdahely, Gebiet Czallaköz CSR, aufgehalten zu haben.

Die Beklagte übersandte dem Verfolgten zur Klärung des Sachverhalts einen Fragebogen für die Anerkennung von Zeiten unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG (Schreiben vom 20.01.2004). Nach vergeblicher Erinnerung (03.08.2004) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.11.2004 die Gewährung einer Rente nach dem ZRBG ab. Der Verfolgte habe die Vordrucke, aus denen Angaben über die Tätigkeit im Ghetto hervorgehen, trotz Erinnerung nicht eingereicht. Nach § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) habe der Versicherungsträger den Sachverhalt, der zur Feststellung des Rechtsverhältnisses, insbesondere der Versicherungszeiten, führen könne, klarzustellen. Dies sei nur möglich, wenn der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nachkomme, die ihm nach den für alle Bereiche des Rechtslebens geltenden allgemeinen Grundsätzen über die Mitwirkungspflicht obliegen. Dieser Mitwirkungspflicht sei er nicht nachgekommen.

Im Jahr 2010 nahm die Beklagte von Amts wegen das Rentenverfahren auf und übersandte dem Verfolgten die Antragsformulare für die Gewährung einer Altersrente nach dem ZRBG. Diese gingen am 23.06.2010 ausgefüllt bei ihr ein. Der Kläger gab an, sich zwangsweise in folgenden Ghettos aufgehalten zu haben:

Kiscseny Pusztara, Ungarn

1943, 2 Monate

Nagy Magyar

1943, 1 Monat

Duna Szerdahej

1943, 1 Monat

 

Zu der Frage, ob er in einem dieser Ghettos gearbeitet habe, gab der Verfolgte an:

1943, 2 Monate, Esterhazy (Arbeitgeber), Feldarbeit

1943, 1 Monat, Fel (Arbeitgeber?), Feldarbeit

Von Ende 1943 bis zur Befreiung 1944 habe er sich im Arbeitslager aufgehalten.

Im Juli 2011 wandte sich der Verfolgte an die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Bund und beanstandete, dass er noch keine Nachricht erhalten habe, obwohl er im Dezember 2010 alle Unterlagen übersandt habe. Beigefügt war ein weiterer Antrag auf Gewährung einer Altersrente nach dem ZRBG, den der Verfolgte am „23.12.201“ unterzeichnet hatte. Hierin wird als Ort des Ghettos „Somorja – Nagy Magar Gebiet Duna -Szerdahey Hungaria“ angegeben.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte des Amtes für Wiedergutmachung, Saarburg, und die Unterlagen der Claims Conference bei. Diese teilte mit, dass der Verfolgte von dort keine Leistungen erhalten habe: Der Antrag sei von der Österreichischen Stiftung „Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit“ bearbeitet worden. Der Kläger hatte Zwangsarbeit in Bruck an der Leitha geltend gemacht.

Mit Bescheid vom 13.07.2012, dem Verfolgten zugegangen am 30.07.2012, lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 08.11.2004 ab. Eine Anerkennung von Ghetto-Beitragszeiten sei nicht möglich. Die Arbeitszeit in den benannten Ghettos Kiscseni Pusztara, Nagy Magyar und Duna Szerdahej im Jahre 1943 seien nicht glaubhaft gemacht. Damit sei eine Anerkennung nach dem ZRBG weiterhin nicht möglich. Für das Jahr 1943 finde das ZRBG auf die benannten Orte keine Anwendung. Die Arbeit im Ghetto müsse zwar nicht bewiesen werden. Es genüge, wenn sie unter Berücksichtigung aller vorhandenen Erkenntnisse überwiegend wahrscheinlich sei. Aus den Unterlagen, die vom Amt für Wiedergutmachung in Saarburg zur Verfügung gestellt worden seien, gehe u.a. hervor, dass sich der Verfolgte von Juli 1940 bis August 1940 im Zwangsarbeitslager Kiscseni Pusztara, von Anfang März 1944 bis Ende März 1944 im Zwangsarbeitslager Komaron und von April 1944 bis Anfang November 1944 im Zwangsarbeitslager Kiskunmadaras aufgehalten habe. Ein Ghettoaufenthalt sei nicht erwähnt worden.

Am 28.06.2013 beantragte der Verfolgte die Überprüfung der Bescheide und die Zahlung der Altersrente nach dem ZRBG. Diesen bei der DRV Bund gestellten Antrag nahm der Kläger nach Einsichtnahme in die Verwaltungsakte am 28.08.2013 zurück.

Am 30.01.2014 beantragte der Kläger erneut die Überprüfung der Ablehnungsbescheide und die Zahlung einer Regelaltersrente nach dem ZRBG unter Anerkennung einer Ghettobeitragszeit für April 1944. In einer Erklärung vom 06.10.2013 gab der Verfolgte an: „Ich wurde in Welky Mager, CSR, geboren. Als der Krieg begann, wurde ich ins ZAL Kiszenpusza eingewiesen. Dort war ich bis 07.1940. Dann im März 1944 hat man mich ins ZAL Komaron eingewiesen und ich war dort einen Monat. Und im April 1944, einen Monat, befand ich mich im Ghetto Dunajska Streda. Da ich dort nur einen Monat war und ich dachte, dass nicht so wichtig war, habe ich es in meinen Erklärungen nicht erwähnt. Aber ich war dort und später arbeitete ich wieder in den ZAL.“

In dem Formularantrag auf Gewährung einer Altersrente gab der Verfolgte mit Datum vom 10.02.2014 an, dass er im Ghetto Dunajska Streda von April 1944 bis Mai 1944 gewesen sei. Er habe dort Straßenreinigungsarbeiten verrichtet. Der Judenrat sei Arbeitgeber gewesen. Während dieser Zeit habe er den Judenstern getragen. Von Juni 1944 bis März 1945 habe er sich im ZAL Kiskunmadaras und Bruck aufgehalten.

Mit Bescheid vom 27.02.2014 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 13.07.2012 ab. Die Erklärung vom 06.10.2013 reiche allein nicht aus, die in dem Bescheid vom 13.07.2012 dargelegten Widersprüche zu entkräften. Zudem habe der Verfolgte in seinem Antrag auf Altersrente nach dem ZRBG vom 07.06.2010 angegeben, sich bereits im Jahr 1943 für einen Monat in Dunajska Streda aufgehalten zu haben und nicht im Jahr 1944.

Der Verfolgte legte am 03.03.2014 Widerspruch ein. Beigefügt war ein Schreiben von A vom 21.03.2014, in dem sie ausführte, der Verfolgte habe 2003 in dem Antrag auf Altersrente und in der eidlichen Erklärung schon alles erklärt. Er habe angegeben, im Ghetto Dunajska Streda gewesen zu sein. Er sei der Auffassung, der kurzfristige Aufenthalt im Ghetto sei nicht wichtig gewesen sei, und in den Daten habe er sich nach dem Aufenthalt in so vielen Zwangsarbeitslagern irren können. Aber im Ghetto sei er – wenn auch nur einen Monat - gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.09.2014 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Ein Beschäftigungsverhältnis aus eigenem Willensentschluss im Ghetto Dunajska Streda im April 1944 sei nicht überwiegend wahrscheinlich. Aufgrund der Angaben im Entschädigungsverfahren, die von mehreren Zeugen bestätigt worden seien, habe sich der Verfolgte vom 01.04.1944 bis zum 31.10.1944 im Zwangsarbeitslager Kiskunmadaras aufgehalten.

Der Verfolgte hat am 15.09.2014 Klage erhoben. Er habe den größten Völkermord der Weltgeschichte überstanden und einen Zeitraum durchlebt, in dem in einer geschlossenen Situation, unterschiedliche Sequenzen von Bedrohung und Verlust, Gewalt und Handlungsmöglichkeiten erfahren worden seien. Es solle daher nachgesehen werden, wenn Erinnerungen zu den Aufenthalten und freiwilligen Tätigkeiten in den Hintergrund getreten seien und daher in den Fragebögen Fragen nicht immer präzise beantwortet worden seien.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2014 zu verurteilen, ihm eine Regelaltersrente nach den gesetzlichen Bestimmungen unter Anerkennung der Zeit von Mitte April 1944 bis Mitte Mai 1944 als einer glaubhaft gemachten Beitragszeit zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung gewesen, dass der Kläger einen Aufenthalt in einem Ghetto nicht glaubhaft gemacht habe.

Das Sozialgericht hat die den Verfolgten betreffenden Entschädigungsakten beigezogen.

Durch Urteil vom 11.10.2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass ein Aufenthalt im Ghetto Duna Szerdahely nicht glaubhaft gemacht sei. Einen Aufenthalt in diesem Ghetto habe der Verfolgte in dem Entschädigungsverfahren nicht angegeben. Damals habe er erklärt, vom Zwangsarbeitslager Komarom, wo er sich vom 01.03.1944 bis zum 30.04.1944 aufgehalten habe, in das Zwangsarbeitslager Kiskunmadaras gekommen zu sein. Auch Herr Z habe in seiner eidlichen Erklärung vom 16.07.1957 lediglich davon gesprochen, dass er selbst Anfang März 1944 zum Zwangsarbeitsdienst in das Zwangsarbeitslager Komarom einberufen worden sei, dort den Kläger getroffen habe und mit ihm bis ungefähr gegen Ende März 1944 dort Zwangsarbeit geleistet habe, und dass er und der Kläger dann von dem Zwangsarbeitslager Komarom zu erneuter Zwangsarbeit in das Zwangsarbeitslager Kiskunmadaras, wo sie beide bis gegen 01.11.1944 bei schwerer Zwangsarbeit verblieben seien, verschickt worden seien. Wegen der genauen Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das am 07.12.2016 zugestellte Urteil hat der Verfolgte am 08.12.2016 Berufung eingelegt. Bei Anwendung der normalen Richtlinien zur Glaubhaftmachung sei die Ablehnung nachvollziehbar. Er stütze sich auf die neuen Maßstäbe der rechtlichen Arbeitsanweisungen für die Versicherungsträger vom 05.01.2016. Danach seien bei der Glaubhaftmachung von ZRBG-Beitragszeiten keine strengen Maßstäbe anzusetzen, weil nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die ZRBG-Sachverhalte, der über 65 Jahre zurückreichende Zeitablauf und die spezifische Art der NS-Verfolgung Auswirkungen auf die Beweiswürdigung hätten. Bei der Beweiswürdigung sei vorrangig auf das aktuelle und jüngste Tatsachenvorbringen abzustellen. Es sei nachvollziehbar, wenn Arbeiten „aus eigenem Willensentschluss“ in früheren (Entschädigungs-) Verfahren unerwähnt geblieben seien. Es sei im Rahmen früherer Entschädigungsverfahren um Fragen der Freiheitsentziehung gegangen und (heute rentenrechtlich differenziert zu betrachtende) Zeiträume und Aufenthaltsorte hätten zusammengefasst werden können. Verbleibende Zweifel seien bei dem hier geforderten Beweismaß unschädlich und scheinbar widersprüchliche Angaben ließen sich bei wohlwollender Betrachtungsweise erklären. Es sei ihm klar, dass die Arbeitsrichtlinien für das Gericht nicht bindend seien, aber der Gesetzgeber fordere in § 2 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) die möglichst weitgehende Verwirklichung der sozialen Rechte. Zeugen könnten nicht mehr benannt werden. Nach dem Tod des Verfolgten trägt die Klägerin ergänzend vor, sie sei fast 50 Jahre mit dem Verfolgten verheiratet gewesen und bekräftige im Rahmend der Glaubhaftmachung dessen Angaben. Es könne nicht zu ihren Lasten ausgelegt werden, dass der Verfolgte erst im Rentenverfahren sein Verfolgungsschicksal ergänzend und vervollständigend darstellt habe. Dass es in den späteren Jahren nach 2003 zu missverständlichen Angaben gekommen sei, dürfe angesichts des Alters des Verfolgten nicht verwundern. Er habe die Anträge nicht mehr alleine ausfüllen können. Es werde deutlich, dass es dem Verfolgten nicht mehr selbst gelungen sei, die vielen Stationen seiner Verfolgung einzuordnen. Die Angaben des Verfolgten fügten sich in die historischen Erkenntnisse zum slowakischen bzw. ungarischen Holocaust ein. Für die Tatsache, dass sich auch der Verfolgte zwischen seinen Aufenthalten in den Zwangsarbeitslagern nochmals für einen guten Monat in den Ghettos aufgehalten habe, spreche schon aus historischen Gründen mehr dafür als dagegen. Habe er sich im Ghetto aufgehalten, so sei er dort auch einer Tätigkeit nachgegangen, dies nicht nur, um sich zusätzlich Lebensmittel zu verdienen, sondern auch, um die Arbeitspflicht für Juden zu erfüllen. Auch für den Ort Komarom erkenne die Beklagte nunmehr die Existenz eines Ghettos vom 24.04.1944 bis zum 16.06.1944 an.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.10.2016 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27.02.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2014 zu verpflichten, den Bescheid vom 13.07.2012 zurückzunehmen und für den verstorbenen Verfolgten Regelaltersrente ab dem 01.07.1997 unter Anerkennung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit von Mitte April bis Mitte Mai 1944 nach dem ZRBG zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

In dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 24.10.2018 hat die Klägerin Frau N, die Schwester des Verfolgten, als Zeugin benannt.

Der Senat hat zunächst die die Zeugin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen. Sodann sollte die Zeugin im Rahmen eines entsprechenden Rechtshilfeersuchens von einem  israelischen Gericht gehört werden. Dieses hat von einer persönlichen Anhörung Abstand genommen. Die Zeugin hat in einer eidesstattlichen Versicherung im Wesentlichen angegeben, während der Verfolgung nicht mit ihrem Bruder gemeinsam an einem Ort gelebt zu haben. Ob er in einem Ghetto gearbeitet habe, wisse sie nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte, der den Verfolgten betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten und der Akte des Amtes für Wiedergutmachung, Saarburg, (Az: 158 240) sowie der die Zeugin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten  Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 110 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Abwesenheit der Klägerin verhandeln und entscheiden, weil ihr Prozessbevollmächtigter in der Terminsmitteilung, die ihm am 11.03.2022 zugestellt worden ist, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 27.02.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.09.2014 ist rechtmäßig. Die Beklagte hat es zu Recht angelehnt, den Bescheid vom 13.07.2012 zurückzunehmen. Dieser Bescheid ist rechtmäßig. Der Verfolgte hatte keinen Anspruch auf Gewährung einer Regelaltersrente.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein bindend gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zur Überzeugung des Senats ist für den verstorbenen Verfolgten eine Regelaltersrente nicht zu bewilligen. Eine Ghettobeitragszeit des Verfolgten im Sinne des § 2 Abs. 1 ZRBG von April bis Mai 1944 ist nicht glaubhaft gemacht.

Nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) hat ein Versicherter Anspruch auf Altersrente, wenn er das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren erfüllt hat. Zwar hat der Verfolgte das 65. Lebensjahr im Februar 1989 vollendet, er kann jedoch die erforderliche Wartezeit nicht vorweisen. Als anrechnungsfähige Versicherungszeiten kommen insoweit Beitrags- und Ersatzzeiten im Sinne der §§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI in Betracht. Dabei finden nach § 250 Abs. 1 SGB VI Ersatzzeiten als rentenrechtliche Zeiten allerdings nur dann Berücksichtigung, wenn vor Beginn der Rente zumindest ein Beitrag wirksam entrichtet worden ist oder als wirksam entrichtet gilt.

Der Verfolgte hat jedoch keine auf die Wartezeit anrechenbaren Beitragszeiten zurückgelegt. Gemäß §§ 55 Abs. 1, 247 Abs. 3 S. 1 SGB VI sind Beitragszeiten Zeiten, für die nach Bundesrecht oder Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Nach § 2 Abs. 1 ZRBG gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge als gezahlt und werden als sog. „Ghetto-Beitragszeiten“ bei der Anrechnung auf die Wartezeit als Beitragszeiten berücksichtigt. Die nunmehr behaupteten Ghetto-Beitragszeiten in Duna Szerdahely sind indes nicht glaubhaft gemacht.

Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 4 Abs. 1 Fremdrentengesetz - FRG -, § 3 Abs. 1 Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung - WGSVG -). Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die „gute Möglichkeit“, dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss also mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Dabei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich (BSG Urteil vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 R).

Zur Überzeugung des Senats ist es nicht überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Verfolgte im streitgegenständlichen Zeitraum im Ghetto Duna Szerdahely aufgehalten hat. Seine Angaben in dem Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente weichen von seinen früheren Angaben im Entschädigungsverfahren ab und sind auch in den Rentenverfahren nicht einheitlich. Einen Aufenthalt im Ghetto hat der Verfolgte im Entschädigungsverfahren nicht angegeben. Vielmehr hat er sowohl am 09.08.1956 als auch am 16.07.1957 erklärt, unmittelbar aus dem Zwangsarbeitslager Komarom in das Zwangsarbeitslager Kiskunmadaras gekommen zu sein. Nachdem er aufgefordert worden war, die Art der Freiheitsentziehung zu beschreiben, gab der Kläger – obwohl der Zwangsaufenthalt im Ghetto beispielhaft als Freiheitsentziehung benannt worden war – einen Aufenthalt im Ghetto Duna Szerdahely nicht an. Seine damaligen Angaben wurden insbesondere von dem Zeugen Z bestätigt. Dieser erklärte in einer eidlichen Erklärung vom 16.07.1957, sie seien aus dem Zwangsarbeitslager Komarom in das Zwangsarbeitslager Kiskunmadaras geschickt worden und dort bis November 1944 verblieben. Einen zwischenzeitlichen Aufenthalt in einem Ghetto gab auch der Zeuge Z nicht an. Ebenso wenig schilderte der Zeuge R in seiner eidlichen Erklärung vom  07.07.1960 einen Aufenthalt in einem Ghetto. Nach den Angaben dieses Zeugen hätten sie im ZAL Komarom in der gleichen Arbeitskompanie in der I-Festung gearbeitet. Sie seien auch weiterhin zusammen geblieben und seien im Zwangsarbeitslager Kiskunmandaras gewesen.

Auch die Angaben des Verfolgten in den Rentenverfahren sind nicht geeignet, glaubhaft zu machen, dass er sich von April bis Mai 1944 im Ghetto Duna Szerdahely aufgehalten und eine Tätigkeit verrichtet hat. In den Verwaltungsverfahren hat der Kläger divergierende Angaben hinsichtlich der Ghettos, in denen er sich aufgehalten haben will, hinsichtlich des zeitlichen Umfangs und auch hinsichtlich der Art der Arbeit gemacht. Seinen ersten Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente nach dem ZRBG begründete der Verfolgte mit Beschäftigungszeiten in den Ghettos Nagy Magyar und Duna Szerdahely. Im Jahr 2010 gab der Verfolgte an, im Jahr 1943 insgesamt vier Monate in einem Ghetto gewesen zu sein, nämlich zwei Monate im Ghetto Kisceny Pusztara, einen Monat im Ghetto Nagy Magyar und einen Monat im Ghetto Duna Szerdahely. In diesen Ghettos habe er drei Monate Feldarbeit geleistet, zwei davon bei dem Arbeitgeber Esterhazy. Die Verrichtung von Straßenreinigungsarbeiten, die er nach seinen Angaben aus Februar 2014 im Ghetto Duna Szerdahely verrichtet haben will, erwähnte der Verfolgte nicht. In dem vom Verfolgten vorgelegten Antrag auf Rente nach dem ZRBG aus Dezember 2010 bezeichnete er den Ort des Ghettos mit: „Somorja – Nagy Magar Gebiet Duna-Szerdahey Hungaria“. In dem Antragsformular vom 10.02.2014 gab der Verfolgte dann an, von April bis Mai 1944 im Ghetto Dunajska Streda gewesen zu sein und dort Straßenreinigungsarbeiten verrichtet zu haben. Die Verrichtung von Feldarbeiten und Aufenthalte in den Ghettos Nagy Magyar, Somorja oder Kisceny Pusztara erwähnte der Verfolgte nicht mehr.

Soweit der Verfolgte vorgetragen hat, er habe den Ghettoaufenthalt im Entschädigungsverfahren nicht angegeben, weil er nur einen Monat gedauert habe, überzeugt dies vor dem Hintergrund nicht, als dass er im Jahr 2010 erklärt hat, im Jahr 1943 nicht nur einen, sondern insgesamt vier Monate in drei verschiedenen Ghettos verbracht zu haben. Dabei hat der Senat in seine Überlegungen einbezogen, dass der Verfolgte im Entschädigungsverfahren in dem von ihm auch verwendeten Formularantrag nach Aufenthalten in einem Ghetto als Zeit der Freiheitsbeschränkung gefragt worden war.

Im Hinblick auf diese Widersprüche und insbesondere vor dem Hintergrund, dass im Entschädigungsverfahren der Zeuge Z eine gemeinsame Verlegung von dem ZAL Komarom in das ZAL Kiskunmadaras und einen Verbleib dort bis November 1944 bestätigte, sieht es der Senat nicht als überwiegend wahrscheinlich an, dass sich der Verfolgte zwischen den Aufenthalten in den ZAL Komarom und ZAL Kiskunmadaras im Ghetto Duna Szerdahely aufgehalten und Straßenreinigungsarbeiten verrichtet hat.

Auch die von der Klägerin benannten historischen Erkenntnisse, dass vom Geburtsort des Verfolgten, Nagy Magyar (= Velky Mager), Deportationen nach Duna Szerdahely durchgeführt wurden, sind nicht geeignet, den nun geltend gemachten Aufenthalt des Verfolgten in dem dortigen Ghetto glaubhaft zu machen. Allein der Umstand, dass der Verfolgte in Nagy Magyar geboren wurde, lässt nicht den Schluss zu, dass er nach Duna Szerdahely deportiert wurde. Der Verfolgte selbst hat nie angegeben, von seinem Geburtsort nach Duna Szerdahely deportiert worden zu sein. Nach seinen Erklärungen in dem BEG-Verfahren hielt sich der Verfolgte mindestens seit März 1944 nicht mehr in Nagy Magyar auf, denn am 01.03.1944 kam er in das ZAL Komarom.

Soweit die Klägerin darauf hinweist, dass die Beklagte in Komarom ein Ghetto für die Zeit vom 24.04.1944 bis zum 16.06.1944 anerkennt, führt dies nicht dazu, dass eine Ghettobeitragszeit für den Verfolgten anzuerkennen ist. In Komarom hielt sich der Verfolgte seinen Angaben und den Angaben der Zeugen Z und R im Entschädigungsverfahren nach zu einer früheren Zeit, nämlich im März 1944, auf.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs. 2 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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