L 4 KR 366/21

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 18 KR 4412/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 366/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 

1. Klageziel ist nicht die Versorgung mit bestimmten Cannabisblättern bzw. eine Kostenübernahme, sondern die Erteilung einer Genehmigung nach § 31 Abs. 6 SGB V.

2. Zur statthaften Klageart.

3. Eine Befristung der Genehmigung nach § 31 Abs. 6 SGB V ist grundsätzlich nicht zulässig. Hieraus ergibt sich eine Teilrechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes. Aus der Teilrechtswidrigkeit ergibt sich nicht, dass der Verwaltungsakt ohne Weiteres als unbefristeter Verwaltungsakt anzusehen ist.

4. Vorliegend zu den Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V, insb. zu noch möglichen alternativen Therapien.

 

I.     Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 8. Juni 2021 aufgehoben und die Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 8. Juni 2018 und 26. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. November 2018 abgewiesen.

II.   Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III.  Die Revision wird zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Der Kläger und Berufungsbeklagte begehrt die Versorgung mit Cannabisblüten (Bedrocan bzw. Pedanios) durch die Beklagte und Berufungsklägerin über den 31.12.2018 hinaus.

Der 1962 geborene Kläger leidet an einer kompletten Paraplegie mit Spastik der quergestreiften Skelettmuskulatur und chronischen Schmerzen im Sinne von Deafferenzierungsschmerzen nach einem privaten Motocross-Unfall im Jahr 2011. Er beantragte erstmals im August 2017 bei der Beklagten unter Vorlage eines Attestes der Berufsausübungsgemeinschaft S Dres. R u.a. die Versorgung mit Cannabispräparaten in Form von Bedrocan-Blüten. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern (MDK, jetzt Medizinischer Dienst - MD) vom 20.09.2017 ein, der zu dem Ergebnis gelangte, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung erfüllt seien. Die Beklagte genehmigte mit Bescheid vom 27.09.2017 den Antrag auf Versorgung mit dem Arzneimittel Bedrocan für zunächst sechs Monate. Aufgrund von diesbezüglichen Lieferschwierigkeiten genehmigte die Beklagte mit Bescheid vom 19.10.2017 auf Antrag wiederum auf sechs Monate befristet den Bezug von Cannabisblüten der Sorte Pedanios 22/1.

Am 27.04.2018 ging bei der Beklagten ein Folgeantrag des Klägers über die Berufsausübungsgemeinschaft S, Dres. B1 und Kollegen, mit ausgefülltem Arztfragebogen auf Versorgung mit Cannabis gemäß § 31 Abs. 6 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) vom 19.04.2018 ein. Mit Schreiben vom selben Tag teilte die Beklagte mit, dass der Antrag eingegangen und beim MDK ein Gutachten beauftragt worden sei. Mit Schreiben vom 29.05.2018 teilte die Beklagte mit, dass die bei Einschaltung des MDK gesetzlich vorgesehene 5-Wochen-Frist nicht eingehalten werden könne und dass bis spätestens 15.06.2018 eine Entscheidung ergehe. Als Grund für die Verzögerung wurde dargelegt, dass das beantragte Gutachten des MDK noch nicht vorliege.

Die Beklagte bestätigte mit Bescheid vom 08.06.2018 dem Kläger, dass dieser vom 08.06.2018 bis vorerst 31.07.2018 berechtigt sei, zur Behandlung das Arzneimittel auf Cannabis-Basis (wahlweise Bedrocan oder Pedanios) zu Lasten der Beklagten verordnet zu erhalten. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass die Genehmigung "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" erfolge. Das Schreiben enthielt weiter die Mitteilung, dass die Versorgung über den 31.07.2018 derzeit noch geprüft werde. Das Schreiben enthielt keine Rechtsmittelbelehrung. Der Kläger legte durch seine damalige Prozessbevollmächtigte am 08.08.2018 Widerspruch ein; er wandte sich gegen die erneute Befristung.

Mit Bescheid vom 26.09.2018 erfolgte eine weitere befristete Genehmigung bis 31.12.2018, erneut mit dem Zusatz "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht"; enthalten war ebenfalls wieder der Hinweis, dass die Versorgung über den 31.12.2018 noch geprüft werde. Auch hiergegen legte die Prozessbevollmächtigte des Klägers Widerspruch ein und wandte sich dabei zum einen gegen die neuerliche Befristung (sowie die Beschränkung auf zwei Sorten).

Am 22.10.2018 erstellte der MDK das Gutachten nach Aktenlage. Als Diagnosen bestünden beim Kläger eine spastische Paraparese und Paraplegie sowie als weitere Diagnosen ein chronischer Schmerz und ein Zustand nach lumbaler Bandscheiben-Operation vom 13.02.2018. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, da die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt sei. Es sei aber bei der Spastik und den Schmerzen (neuropathischen Schmerzen; Deafferenzierungsschmerz) und nach der lumbalen Bandscheiben-OP nicht nachvollziehbar, dass keine anderweitigen Therapien versucht worden seien. So sei zum einen kein Behandlungsversuch mit Gabapentin unternommen worden, was sich aus dem Abschlussbericht der Unfallklinik M vom 22.02.2018 ergebe. Zum anderen komme eine multimodale Therapie in Form einer neurologischen Rehabilitation und eine multimodale Schmerztherapie in Betracht. Allerdings könnten Cannabinoide im zu begutachtenden Einzelfall nachvollziehbar zu einer Reduktion von schwerwiegenden Symptomen führen.
 
Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.11.2018 zurück. Die vorläufige und befristet erteilte Genehmigung sei nur erfolgt, um eine Untätigkeitsklage zu vermeiden. Die Befristung sei nach § 32 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) auch zulässig. Im Übrigen sei jedoch ein Anspruch auf eine Folgegenehmigung dem Grunde nach nicht gegeben, denn die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verordnung bzw. Kostenübernahme seien hier nicht mehr erfüllt, so dass eine Genehmigung ab 01.01.2019 nicht weiter erteilt werden könne. Auf das Gutachten des MDK vom 22.10.2018 werde verwiesen. Die Bescheide aus dem Jahr 2017 seien rechtskräftig geworden. Eine Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3 a SGB V habe nicht eintreten können, weil ein wirksamer Antrag eine vertragsärztliche Verordnung voraussetze, welche hier nicht vorliege. Zudem fehle es an der hinreichenden Bestimmtheit des Antrags.  

Der Kläger hat Klage zum Sozialgericht München erhoben. Die Anmerkung "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" müsse als gegenstandlos betrachtet werden sowie auch die zeitlichen Beschränkungen der Folgegenehmigungen. Er hat im Verfahren ein Attest des Hausarztes Dr. B1 (aus obiger Berufsausübungsgemeinschaft) vom 10.01.2019 vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass Therapieversuche mit Pregabalin sehr schlecht vertragen worden seien und Schwindel, Übelkeit und erhebliche Müdigkeit verursacht hätten. Seines Erachtens dürften auch bei einer Gabapentintherapie ähnliche Nebenwirkungen bei nur sehr fraglicher Wirkung zu befürchten sein. Eine multimodale Schmerztherapie sei aufgrund der eingeschränkten Mobilität des Klägers schwer durchführbar.

Einem Antrag des Klägers im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Antrag, ihm entsprechend ärztlicher Verordnung die Versorgung mit Cannabisblüten nach  § 31 Abs. 6 SGB V bis zum Abschluss des Hauptsachverfahrens vorläufig zu genehmigen, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 10.04.2019 stattgegeben (Az.: S 55 KR 519/19 ER). Die Kammer ist davon ausgegangen, dass nach summarischer Prüfung eine Genehmigungsfiktion eingetreten sei. Mit den befristeten Genehmigungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht sei keine wirksame Entscheidung im Sinne des § 13 Abs. 3 a SGB V über den Antrag erfolgt. Der Beschluss ist rechtskräftig geworden.

Die Beklagte hat am 21.12.2020 beim Sozialgericht München im Hinblick auf die Änderung der Rechtslage zur Genehmigungsfiktion einen Antrag nach § 86 b Abs. 1 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf Abänderung des Beschlusses des Sozialgerichts München im Verfahren S 55 KR 519/19 ER vom 10.04.2019 gestellt (Az.: S 18 KR 152/21 ER). Sie hat den Antrag mit Schreiben vom 24.06.2021 zurückgenommen.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 08.06.2021 die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 08.06.2018 und 26.09.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2018 verurteilt, dem Kläger die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität ohne Beschränkung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V über den 31.12.2018 hinaus zu gewähren. Die Versorgung mit Cannabis gemäß § 31 Abs. 6 SGB V sei mit Bescheid vom 08.06.2018 durch die Beklagte unbefristet genehmigt worden, sodass die Beklagte die von ihr bisher bis 31.12.2018 befristete Versorgung des Klägers mit Cannabispräparaten auch über den 31.12.2018 hinaus sicherstellen müsse. Vorliegend sei kein Fall des § 54 SGB X gegeben, so dass der Zusatz "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" der Bescheide der Beklagten vom 08.06.2018 und 26.09.2018 keinerlei rechtliche Bedeutung habe. In beiden Bescheiden sei die Genehmigung zur weiteren Versorgung mit Cannabispräparaten erteilt worden. Eine solche Genehmigung könne die Beklagte nur erteilen, wenn sie die rechtlichen Voraussetzungen als erfüllt ansehe. Aufgrund des bestandskräftigen Bescheides vom 27.09.2017, in dem die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V als erfüllt angesehen worden seien, sei auch davon auszugehen, dass die Voraussetzungen weiterhin über die in dem Bescheid gesetzte Befristung vorlagen. Eine weitere befristete Genehmigung zu erteilen mit dem Zusatz "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" ausschließlich aus dem Grund, dass verwaltungsintern bzw. in der Zusammenarbeit mit dem MDK eine rechtzeitige Bearbeitung wohl nicht möglich gewesen sei, könne nicht zulasten des Klägers gehen. Dies hätte auch zur Folge, dass der Eintritt einer Genehmigungsfiktion nach § 13 a SGB V umgangen werden könnte. Folglich habe die Beklagte hier eine Genehmigung erteilt.
Diese sei auch nicht nur befristet erteilt worden, da eine Genehmigung nach § 31 Abs. 6 SGB V keine Befristung vorsehe. Eine Befristung nach § 32 Abs. 1 Alt. 2 SGB X sei vorliegend nicht möglich, da andernfalls die Verwaltung quasi jeden Verwaltungsakt mit einer Befristung versehen könnte und damit die grundsätzliche Nebenbestimmungsfeindlichkeit einer gebundenen Entscheidung unterlaufen würde. Vorliegend sei jedoch weder für die Kammer ersichtlich noch von der Beklagten vorgetragen worden, dass sich bei dem Kläger konkret abgezeichnet hätte, dass die Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V entfallen würden.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 07.07.2021 zugestellte Urteil am 21.07.2021 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und zur Begründung Folgendes vorgebracht:
* Der Antrag auf Versorgung mit Cannabisblüten oder Extrakten sei bereits unzulässig, da er auf eine Verurteilung zu einer nicht näher spezifizierten Leistung ziele.

Insoweit bestehe auch kein materiell-rechtlicher Anspruch auf eine kassenseitige Genehmigung, welche in ihrem Wortlaut alle Cannabisblüten bzw. Extrakte umfasse und nicht zumindest unter dem Vorbehalt einer vertragsärztlichen Betäubungsmittelverordnung stehe. § 31 Abs. 6 SGB V begründe keinen unmittelbar durchsetzbaren Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln, sondern stelle nur ein ausfüllungsbedürftiges Rahmenrecht dar, welches jeweils durch die ärztliche Verordnung konkretisiert werde (BSG, NZS 1997, 325).

Der behandelnde Vertragsarzt habe zuletzt lediglich Cannabisblüten mit einem bestimmten THC-Gehalt (Pedanios 20/1 und Bedrocan 22/12) verordnet und beantragt. Eine Änderung der Dosis oder der Wechsel zwischen den einzelnen Sorten getrockneter Blüten seien seit der Gesetzesänderung des § 31 Abs. 6 SGB V vom 16.08.2019 ausdrücklich nicht mehr genehmigungspflichtig.

* Im Hinblick auf eine Genehmigungsfiktion scheide ein Sachleistungsanspruch des Klägers nach § 13 Abs. 3 a S. 6 SGB V aus, da hier lediglich ein Kostenerstattungsanspruch eröffnet werde.

* Auch seien die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V hier nicht erfüllt:
Es fehle zum einen an der Darlegung einer besonders schwerwiegenden Erkrankung. Zwar stelle die Grunderkrankung des Klägers (komplette Paraplegie der quergestreiften Skelettmuskulatur) eine schwerwiegende Erkrankung dar. Hier seien aber im Hinblick auf die genannten Therapieziele (Schmerzreduktion und Entspannung) die aktuellen Auswirkungen auf den Kläger seit dem Abschlussbericht der Unfallklinik M vom 22.02.2018 fraglich.

Gemäß dem Gutachten des MDK vom 22.10.2018 stünden noch geeignete Standardtherapien zur Verfügung. Zudem liege kein Nachweis dafür vor, dass sämtliche Schmerzmittel im Rahmen des WHO-Stufenschemas ausprobiert worden seien oder entsprechende Fachärzte herangezogen worden seien, um die Behandlung angemessen zu begleiten. Gemäß den Entlassungsberichten der BG Unfallklinik M vom 21.09.2016 wünsche der Kläger keine neue Medikation; auch gemäß dem Bericht vom 22.02.2018 habe er keinen medikamentösen Therapieversuch zur Optimierung der Schmerzsymptomatik gewünscht. Entsprechend sei keine orale Analgetika-Therapie oder Gabapentingabe erfolgt. Inzwischen sei eine deutliche Besserung der Beschwerdesymptomatik erreicht worden.

Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die vorgeschlagenen Standardtherapien in ihrer Wirksamkeit beschränkt seien. Ein entsprechender Abwägungsprozess des behandelnden Arztes sei nicht dargelegt worden. Insbesondere sei auch keine Auseinandersetzung mit den einschlägigen Leitlinien erfolgt. Die Ausführungen des Vertragsarztes zu alternativen Therapieversuchen seien nur sehr allgemein.

* Es lägen ferner keine ausreichenden Indizien für eine spürbar positive Einwirkung der Cannabisblüten auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome vor.

* Es fehle außerdem an der Vorlage einer ärztlichen Verordnung.

* Der Bescheid vom 27.09.2017 mit Befristung sei bestandskräftig geworden. Ausführungen hierzu erübrigten sich daher.

* Die Erteilung einer befristeten Genehmigung sei nicht rechtswidrig. Im Übrigen lägen aber die Voraussetzungen für die beantragte unbefristete Cannabisversorgung in materieller Hinsicht nicht vor. Die Befristung sei im Hinblick auf die Genehmigungsfiktion und die Vermeidung einer Untätigkeitsklage erfolgt.

* Bei dem Zusatz "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" handele es sich lediglich um einen erläuternden Hinweis durch die Beklagte. Er stelle keine Nebenbestimmung dar. Er habe lediglich deutlich machen sollen, dass keine endgültige Entscheidung in der Sache getroffen worden sei.

* Die Konkretisierung des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V, dass "nur in begründeten Ausnahmefällen" eine Genehmigung abzulehnen sei, schränke die Prüfungsbefugnis der Beklagten nicht ein.

Die bisherige Prozessbevollmächtigte des Klägers hat während des Berufungsverfahrens die Vertretung des Klägers niedergelegt.

Der Kläger ist der Berufung entgegengetreten. Er hat darauf verwiesen, dass er teilweise extreme Krämpfe und Schmerzen habe. Mit Cannabis habe er ein für ihn gut wirkendes Mittel gefunden, das er gut vertrage. Bei den Schmerzmitteln, die in der Unfallklinik M getestet worden seien, habe er teilweise extreme Nebenwirkungen gehabt. Zum Teil sei er nicht mehr in der Lage gewesen, sein Zimmer wiederzufinden, oder er sei sehr vergesslich gewesen. Er habe deshalb die Versuche abgebrochen.

Die Beklagte hat nochmals darauf verwiesen, dass der Kläger nach dem Arztbrief der Unfallklinik M vom 21.09.2016 und dem Abschlussbericht vom 22.02.2018 schon damals medikamentöse Therapieversuche nicht gewünscht habe. Nachweise über die Erprobung anderer Schmerzmittel lägen nicht vor.

Die Beklagte hat aufgrund des Beschlusses des Sozialgerichts vom 10.04.2019 im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes am 18.04.2019 eine vorläufige Genehmigung erteilt. Vom Kläger seien aber lediglich Verordnungen für Cannabisblütenzubereitungen bis Juni 2020 eingelöst worden. Auf Nachfrage des Senats hat der Kläger mitgeteilt, auch nach dem Urteil des Sozialgerichts kein Cannabis genommen zu haben, da er Bedenken hinsichtlich der eventuellen Rückzahlung gehabt habe. Er habe aber Schmerzen.

Die Beklagte hat noch ihre Arzneimittelauswertung übersandt und auf Nachfrage mitgeteilt, dass bisher ausschließlich vertragsärztliche Betäubungsmittelrezepte mit der Beklagten abgerechnet worden seien.

Der Kläger hat telefonisch am 04.07.2022 mitgeteilt, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht zur mündlichen Verhandlung kommen könne ("querschnittsgelähmt ab Brust") und er insgesamt nicht kommen wolle. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens ist daraufhin aufgehoben worden.
 
Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 08.06.2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

      die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten, der Gerichtsakten des Sozialgerichts in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sowie der Klage- und Berufungsakte verwiesen.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und begründet.

Der Senat konnte in Abwesenheit des Klägers entscheiden, da dieser ordnungsgemäß geladen war und in der Ladung auf die Möglichkeit der Entscheidung auch im Falle des Ausbleibens hingewiesen wurde (§§ 110, 126, 132 SGG). Die Anordnung des persönlichen Erscheinens war auf Anregung des Klägers vorab aufgehoben worden.

Der Kläger beantragte erstinstanzlich die Kostenübernahme für die Versorgung mit Cannabis über den 31.12.2018 hinaus. Nach seinen Angaben hat er sich nicht auf eigene Kosten Cannabisblüten beschafft, so dass ein Kostenerstattungsanspruch (§ 13 Abs. 3 SGB V) nicht geltend gemacht wird. Nach Auflistung der Beklagten hat der Kläger aber Verordnungen für Cannabisblütenzubereitungen bis Juni 2020 über die Beklagte eingelöst. Auf die vorläufige Genehmigung vom 18.04.2019 nach dem Beschluss des Sozialgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist hinzuweisen.
Klageziel ist aber nicht eine Versorgung mit bestimmten Cannabisblättern bzw. eine Kostenübernahme. Das Klageziel ist nämlich zutreffend dahingehend auszulegen, dass der Kläger die Erteilung einer Genehmigung - im Sinne einer unbefristeten Genehmigung - nach § 31 Abs. 6 SGB V begehrt. Hierauf waren bei sachgerechter Auslegung seine Anträge bei der Beklagten, auch der hier maßgebliche Folgeantrag vom 27.04.2018, gerichtet. Der Kläger wandte sich bereits im Widerspruchsverfahren vor allem gegen die Befristung der Genehmigung.

Die beiden 2017 ergangenen Bescheide (Bescheide vom 27.09.2017 und 19.10.2017) sind bindend geworden und damit nicht Gegenstand des Verfahrens. Sie sind im Übrigen durch Zeitablauf erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X). Nicht bestandskräftig sind die Bescheide der Beklagten vom 08.06.2018 (Befristung bis 31.07.2018) und 26.09.2018 (Befristung bis 31.12.2018), die hier streitgegenständlich sind.

Richtige Klageart hiergegen ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf die begehrte unbefristete Genehmigung (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG). Vorliegend kommt weder eine isolierte Anfechtungsklage gegen die Befristung (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) noch eine Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 131 Abs. 1 Satz 3 SGG) in Betracht.

Die Befristung wie in den streitgegenständlichen Bescheiden vom 08.06.2018 und 26.09.2018 stellt eine - unselbstständige - Nebenbestimmung im Sinne des § 32 SGB X dar. Gegen belastende Nebenbestimmungen zu einem begünstigenden Verwaltungsakt ist zwar grundsätzlich die (isolierte) Anfechtungsklage - und nach Fristende ggf. die Fortsetzungsfeststellungsklage - gegeben (BSG, Urt. v. 27.02.1992, 6 RKa 15/91 - juris Rn. 21; vom 05.08.1999, B 3 KR 12/89 R - juris Rn. 9; vom 06.04.2000, B 11/7 AL 10/99 R - juris Rn. 19; vom 30.01.2002, B 6 KA 20/11 R - juris Rn. 20; BVerwG, Urt. v. 21.06.2007, BVerwGE 112, 221; LSG Baden-Württemberg, Urt. vom 23.04.2015, L 7 SO 43/14 - juris Rn. 29). Eine isolierte Anfechtung kommt nach der Rechtsprechung jedoch nicht in Betracht, wenn eine isolierte Aufhebbarkeit offenkundig von vorneherein ausscheidet (die Rechtslage darstellend: OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 08.11.2018, 6 A 2007/15 - juris Rn. 107 ff mit Hinweis auf BVerwG, a.a.O.) oder die betreffende Bestimmung integrierter Bestandteil eines im Ermessen der Behörde stehenden, begünstigenden Verwaltungsaktes ist, der die Begünstigungswirkung nach Inhalt und Umfang festlegt und konkretisiert (OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, a.a.O., juris Rn. 109 ff m.w.N., u.a. auf die Rechtsprechung des BVerwG). Das LSG Baden-Württemberg (a.a.O., juris Rn. 29) hat dargelegt, maßgeblich für die Frage der isolierten Anfechtbarkeit sei, ob der begünstigende Verwaltungsakt ohne die Nebenbestimmung sinnvoller- und rechtmäßigerweise bestehen bleiben kann.

Der Senat kann offen lassen, ob vorliegend eine isolierte Aufhebbarkeit der Befristung möglich ist, da das Klageziel des Klägers, wie oben bereits in Bezug auf das Klageziel dargelegt, nicht lediglich auf die Anfechtung der Befristung gerichtet ist, sondern auf Erteilung der (unbefristeten und damit auch über den 01.01.2019 wirkenden) Genehmigung nach § 31 Abs. 6 SGB V. Zweifelsfrei betraf der Folgeantrag vom 27.04.2018 die Erteilung einer unbefristeten Genehmigung. Mit dem Erlass befristeter Genehmigungen entschied die Beklagte nicht vollumfänglich über diesen Antrag. Dies machte sie in den Bescheiden deutlich mit dem Hinweis, dass die Voraussetzungen einer Genehmigung über die Befristung hinaus noch von ihr geprüft würden. Auch nach dem objektiven Empfängerhorizont war dies deutlich. So wandte sich der Kläger bzw. seine damalige Prozessbevollmächtigte gegen jene Befristungen. Eine umfassende Prüfung erfolgte dann erst im Widerspruchsbescheid, nachdem die gutachterliche Äußerung des MDK vom 22.10.2018 vorlag. Dabei vertrat die Beklagte zum einen die Ansicht, dass eine Befristung zulässig sei, zum anderen hat sie eine unbefristete Genehmigung für die Zeit ab 01.01.2019 ausdrücklich unter Verweis auf das Ergebnis des dann ergangenen MDK-Gutachtens abgelehnt. Die Ausführungen in der Begründung befassen sich damit ausdrücklich mit der Ablehnung einer Genehmigung über den 31.12.2018 hinaus. Auch der Klageantrag im erstinstanzlichen Verfahren ist nicht auf Aufhebung der Befristung oder auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Befristung gerichtet, sondern auf Gewährung der Cannabisversorgung "über den 31.12.2018 hinaus". Der Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist daher auch nicht durch Zeitablauf gemäß § 39 SGB X erledigt.

Damit kommt auch nach Ablauf der Frist am 31.12.2018 keine Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 131 Abs. 1 Satz 3 SGG) in Betracht, zumal auch kein berechtigtes Interesse an der Feststellung (hierzu: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 131 Rn. 10 ff) besteht. Insbesondere scheidet eine Wiederholungsgefahr aus, nachdem die Beklagte im Rahmen des streitgegenständlichen Widerspruchsbescheides abschließend und vollumfänglich über eine (unbefristete) Genehmigung entschieden hat.

Die zulässige Klage ist jedoch nicht begründet. Ein Anspruch des Klägers auf die Genehmigung ergibt sich weder aus einer Rechtswidrigkeit der Befristung bis 31.12.2018 (1.) noch aus § 31 Abs. 6 SGB V (2.).

1.
Das Sozialgericht hat zwar zutreffend festgestellt, dass die in den Bescheiden ausgesprochene Befristung der Genehmigung unzulässig und damit rechtswidrig war. Der Senat teilt nicht die Schlussfolgerung des Sozialgerichts, dass deshalb die Bescheide eine Genehmigung ohne Befristung enthalten:

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Befristung für jeweils sechs Monate lagen nicht vor. Nach § 32 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt werden. Eine Befristung der Genehmigung nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V ist weder durch Rechtsvorschrift zugelassen noch ist ersichtlich, dass mit einer Befristung sichergestellt werden könnte, dass die für eine Genehmigung nach § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V erforderlichen Voraussetzungen erfüllt werden.
§ 32 Abs. 2 Nr. 1 SGB X scheidet als Rechtsgrundlage für eine Befristung vorliegend aus, da diese Regelung nicht bei gebundenen Entscheidungen wie bei § 31 Abs. 6 SGB V gilt (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 32 SGB X (Stand: 31.03.2022), Rn 84; BSG vom 28.09.2005, B 6 KA 60/03 R, Rn 22).
 
Im Übrigen ist zu beachten, dass nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V nur die erste Verordnung von Cannabis einer Genehmigung bedarf. Mit der darin angelegten Systematik ist eine Befristung der Genehmigung nicht vereinbar. Die Krankenkasse soll nach der ersten Verordnung offenbar gerade kein Prüfungsrecht mehr bezüglich des Therapieverlaufs haben; die Therapiehoheit soll grundsätzlich beim Vertragsarzt liegen.

Die in den streitgegenständlichen Bescheiden angeordnete Befristung der Genehmigung war daher zwar nach § 32 Abs. 3 SGB X unzulässig und somit rechtswidrig - aber nicht nichtig (§ 39 Abs. 3 SGB X). Die Befristung ist jedoch bereits am 31.12.2018 abgelaufen und hat sich damit gemäß § 39 Abs. 2 SGB X durch Zeitablauf erledigt. Einer Teilaufhebung der angefochtenen Bescheide bedarf es daher nicht.

Aus der Teilrechtswidrigkeit ergibt sich nicht, dass der Verwaltungsakt ohne Weiteres als unbefristeter Verwaltungsakt anzusehen ist (z.B. auch: Bayer. Landessozialgericht, Urt. v. 28.04.2017, L 8 SO 206/15 - juris Rn. 42 ff). Vielmehr erledigt sich mit Ablauf der Frist grundsätzlich die Regelung des Verwaltungsakts (vgl. auch § 39 Abs. 2 SGB X).


Ob die Befristung eine unzulässige Umgehung des § 13 Abs. 3 a SGB V darstellt, kann der Senat somit offen lassen. Soweit das Sozialgericht mit der Genehmigungsfiktion argumentiert hat, entspricht dies allerdings nicht (mehr) der aktuellen Rechtsprechung des BSG (hierzu: BSG, Urteil v. 26.05.2020, B 1 KR 9/18 R), der sich der Senat anschließt.

2.
Der Kläger kann auch keinen Anspruch auf eine Genehmigung auf Cannabisblüten aus  § 31 Abs. 6 SGB V herleiten. Die Beklagte hat zu Recht im Widerspruchsbescheid das Vorliegen der Voraussetzungen des § 31 Abs. 6 SGB V verneint und somit insgesamt im Ergebnis zutreffend einen Anspruch auf eine (unbefristete) Genehmigung versagt.

Der Antrag vom 27.04.2018 war gerichtet auf Cannabis-Versorgung je nach aktueller Verfügbarkeit/Lieferbarkeit mit der Ergänzung: "THC Gehalt zwischen 18 % und 22 %, z.B. Bedrocan oder Pedanios 20/1". Damit ist der Antrag noch in ausreichender Form eingegrenzt und bestimmt.

Grundsätzlich bedarf die Versorgung mit Arzneimitteln als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung einer vertragsärztlichen Verordnung gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V in entsprechender Form (BSG v. 16.12.1993, BSGE 73, 271). Für die Versorgung mit Cannabisblüten ist zudem eine Verordnung auf einem Betäubungsmittelrezept erforderlich (§ 11 Abs. 5 S. 1 Arzneimittel-Richtlinie in Verbindung mit § 13 Abs. 2 S. 1 BtmG, § 8 Abs. 1 S. 1 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung - BtMVV - vom 20.01.1998 (in der Fassung von Art. 43 des Gesetzes vom 29.03.2017, BGBl. I S. 626), welches die in  § 9 BtMVV vorgeschriebenen Angaben enthält. Die Beklagte hat im Berufungsverfahren bescheinigt, dass bisher ausschließlich vertragsärztliche Betäubungsmittelrezepte mit der Beklagten abgerechnet wurden (bis Juni 2020).
 
Dem (Folge-)Antrag vom 27.04.2018, wie er sich in der vorgelegten Verwaltungsakte befindet, lag nur ein Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V der Berufsausübungsgemeinschaft Dres. B1 u.a. zugrunde. Insoweit zutreffend hat sich die Beklagte im Berufungsverfahren darauf berufen, dass eine vertragsärztliche Verordnung nicht vorgelegt wurde. Der Senat hat das Vorliegen einer vertragsärztlichen Verordnung unter Zugrundelegung und Auslegung des Wortlauts des § 31 Abs. 6 SGB V für erforderlich erachtet (vgl. Bayer. Landessozialgericht, Urt. v. 03.03.2022, L 4 KR 307/19 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Auch in der Kommentarliteratur wird vielfach vertreten, dass die Versorgung mit Cannabis vertragsärztlich zu verordnen ist (KassKomm-Nolte,  § 31 SGB V, Rn. 75 g mit Nachweis zum Streitstand, auch in der Rechtsprechung).
Allerdings lag auch dem Erstantrag vom 10.08.2017, dem die Beklagte zunächst für einen begrenzten Zeitraum stattgab, keine vertragsärztliche Verordnung bei. Zu dieser Zeit galt bereits § 31 Abs. 6 SGB V (angefügt durch das Gesetz vom 06.03.2017, BGBl. I 403, mit Wirkung vom 10.03.2017). Da der damalige Antrag in dieser Form von der Beklagten (wenn auch befristet) genehmigt wurde, liegt die Annahme eines Vertrauensschutzes zugunsten des Klägers bzw. die Möglichkeit der dolo-agit-Einrede analog § 242 BGB durch den Kläger nahe.

Letztlich kann diese Frage aber hier offen bleiben, da aus anderen Gründen kein Anspruch auf die Genehmigung besteht:

Zwar liegt nach Ansicht des Senats beim Kläger eine schwerwiegende Erkrankung vor. Auch wenn diese Voraussetzung von der Berufungsklägerin nun bestritten wird, ist auch der MDK in dem Gutachten vom 22.10.2018 ausdrücklich vom Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung bei bestehender spastischer Paraparese und Paraplegie mit den weiteren Diagnosen eines chronischen Schmerzes und eines Zustands nach lumbaler Bandscheiben-Operation vom 13.02.2018 ausgegangen. Entsprechend war auch die Stellungnahme des MDK vom 20.09.2017, die jedoch noch aus der Zeit vor der stationären Behandlung in der BG Unfallklinik M vom 30.01. bis 23.02.2018 datiert.

Mit dem MDK (vgl. Gutachten vom 22.10.2018) ist ferner davon auszugehen, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Der MDK stellte fest, dass Cannabinoide in dem zu begutachtenden Einzelfall des Klägers "nachvollziehbar zu einer Reduktion von schwerwiegenden Symptomen führen" können.

Anhaltspunkte für eine Kontraindikation liegen beim Kläger nicht vor.

Der Anspruch nach § 31 Abs. 6 SGB V scheitert jedoch daran, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung als Alternative zur Verfügung steht. Dies gilt insbesondere zum einen hinsichtlich eines Behandlungsversuchs mit Gabapentin, zum anderen im Hinblick auf die Option einer multimodalen Schmerztherapie.

Der MDK hat es in dem Gutachten vom 22.10.2018 als nicht nachvollziehbar angesehen, dass bei Spastik und neuropathischen Schmerzen bzw. Deafferenzierungsschmerz keine anderweitigen Therapien wie beispielsweise ein Behandlungsversuch mit Gabapentin unternommen wurden. Der Kläger hat hierzu vorgetragen, Alternativen ausprobiert zu haben. Bei den Schmerzmitteln, die in der BG Unfallklinik M getestet wurden, habe er teilweise extreme Nebenwirkungen gehabt. Zum Teil sei er nicht mehr in der Lage gewesen, sein Zimmer wiederzufinden, oder er war sehr vergesslich. Er habe deshalb die Versuche abgebrochen.

Dem widerspricht zu Recht die Beklagte unter Verweis auf den Arztbrief der BG Unfallklinik M vom 21.09.2016 und den Abschlussbericht vom 22.02.2018. Hieraus ergibt sich, dass der Kläger damals keine medikamentösen Therapieversuche wünschte. Tatsächlich finden sich keine Nachweise über die Erprobung anderer Schmerzmittel. Gemäß dem Abschlussbericht der Unfallklinik M vom 22.02.2018 wurden zur Schmerzbehandlung 2017 und im Rahmen der Behandlung im Februar 2018 Infiltrationsversuche der Spinalwurzel L4/5 mit Lokalanasthetikum und Cortison vorgenommen. Dies führte (vorübergehend) zur deutlichen Schmerzlinderung. Opertiv wurde am 13.02.2018 eine translaminäre Sequesterotomie L4/5 rechts durchgeführt. Der Verlauf war komplikationslos, die Schmerzen im Bereich der LWS zeigten sich gelindert. Es folgten regelmäßige physiotherapeutische Einzelbehandlungen auf neurophysiologischer Basis mit weiterer Erleichterung der Schmerzen. Der Kläger wurde deutlich schmerzkompensiert entlassen. Als weiteres Prozedere wurde die ambulante Fortführung der querschnittsspezifischen Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage empfohlen. Auch hier wurde ausdrücklich der Versuch einer oralen Therapie mit Gabapentin 100 empfohlen. Es findet sich der Zusatz, dass der Kläger dies "bislang nicht wünschte".

Auch die vom MDK vorgeschlagene multimodale (Schmerz-) Therapie wurde nicht durchgeführt. Der behandelnde Arzt Dr. B1 hat eine derartige Schmerztherapie beim Kläger nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sondern lediglich darauf verwiesen, dass diese aufgrund der eingeschränkten Mobilität des Klägers schwer durchführbar ist. Der Kläger hat hierzu nicht substantiiert Stellung genommen, sondern zuletzt auf Nachfrage des Senats nur mitgeteilt, er verstehe auch nicht, warum er immer wieder irgendwelche Schmerztherapien machen solle. Seine Behauptung, dass "in der Vergangenheit ja so ziemlich alles getestet wurde" (Schriftsatz vom 05.07.2022) und bei den meisten die Nebenwirkungen so stark gewesen seien, dass er "nicht mehr selbstständig funktionieren konnte", ist nicht belegt. So verweist neben der BG Unfallklinik M auch der behandelnde Arzt Dr. B1 in dem Fragebogen vom 19.04.2018 darauf, dass noch ein Versuch mit Gabapentin möglich wäre.

Auch aus der von der Beklagten vorgelegten Arzneimittelauswertung ergibt sich kein derartiger Behandlungsversuch. Von den hier relevanten Arzneimitteln hat der Kläger nach Juni 2020 lediglich ein Spasmolytikum (Spasmex 15) eingenommen.

Nach abschließender Einschätzung des Senats stehen somit noch alternative Behandlungsmethoden im Raum; der Kläger zeigt jedoch keine Bereitschaft, diese in Anspruch zu nehmen oder zumindest anzutesten.

Letztlich scheitert der Leistungsanspruch auch an der nicht ausreichenden begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b SGB V. Der behandelnde Vertragsarzt muss im Rahmen eines Abwägungsprozesses, der nachvollziehbar darzulegen ist und auch die Nebenwirkungen des Cannabisarzneimittels einfließen lassen muss, zu dem Ergebnis gekommen sein, dass die Standardtherapie nicht zur Anwendung kommen kann, aber Indizien dafür bestehen, dass die Anwendung von Cannabisarzneimitteln eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome haben wird (vgl. Pitz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 31 SGB V (Stand: 09.08.2021), Rn. 126 m.w.N.).

Wie dargelegt, kommt aber selbst Dr. B1 in Beantwortung des Fragebogens der Beklagten vom 19.04.2018 zu dem Ergebnis (Nr. 5), dass noch ein Versuch mit Gabapentin möglich wäre. Enthalten ist lediglich ein allgemeiner Hinweis, dass dies schon einmal nicht gut vertragen wurde. Eine Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen fand damit nicht statt. Vor allem wurde somit auch die Frage, warum dem medizinischen Standard entsprechende alternative Behandlungsoptionen beim Kläger nicht zum Einsatz kommen können, vom Vertragsarzt nicht dargelegt. Auch setzt sich Dr. B1 nicht näher mit der Möglichkeit einer multimodalen Schmerztherapie auseinander (siehe hierzu oben).

Die Berufung der Beklagten ist daher begründet und das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben. Ob der vom Sozialgericht formulierte und von der Beklagten ebenfalls beanstandete Tenor, dem Kläger die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität ohne Beschränkung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V über den 31.12.2018 hinaus zu gewähren, zutreffend gefasst ist, kann der Senat somit dahinstellen lassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung insbesondere der Fragen zur befristeten Genehmigung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved