L 21 R 535/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 18 R 253/22
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 R 535/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15.6.2022 aufgehoben und festgestellt, dass der Rechtsstreit S 18 R 609/21 nicht durch Klagerücknahme beendet ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Fortsetzung des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen unter dem Aktenzeichen S 18 R 253/22 (ursprünglich: S 18 R 609/21).

Die Klägerin wandte sich mit ihrer  ursprünglichen Klage (SG Gelsenkirchen, S 18 R 609/21) gegen die Ablehnung ihres Antrages vom 1.7.2020 auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.


Gegen die Ablehnung ihres Antrags mit Bescheid vom 10.9.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.5.2021 erhob sie am 9.6.2021 bei dem SG Gelsenkirchen durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage. Mit der Klage kündigte sie an, die Aufhebung der Bescheide und die Gewährung einer  Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung beantragen zu wollen und die Klage nach Gewährung von Akteneinsicht zu begründen. Mit gerichtlicher Verfügung vom 14.6.2021 forderte das Gericht die Klägerin zur Klagebegründung und zur Übersendung einer Schweigepflichtentbindungserklärung sowie des ausgefüllten Fragebogens zur Person auf.

Am 12.7.2021 gingen bei Gericht der Fragebogen zur Person, der auch Angaben über die behandelnden Ärzte und Krankenhausbehandlungen enthielt, sowie die Schweigepflichtentbindungserklärung und ein Ambulanzbericht des Universitätsklinikums H vom 2.2.2021 ein. Letzterer enthielt die Diagnose einer schmerzhaften Small-Fiber-Neuropathie der Füße beidseits unbekannter Ursache und die Anregung einer weiterführenden Abklärung mit Steigerung der Medikation und Beginn einer Psychotherapie.

Nachdem der Klägerbevollmächtigte mit gerichtlichen Schreiben vom 28.7.2021 und 30.8.2021 an die Übersendung der Klagebegründung erinnert worden war, teilte er unter dem 10.9.2021 mit, bisher keine Akteneinsicht erhalten zu haben. Er sei auf die Akteneinsicht angewiesen, da er im Widerspruchsverfahren noch nicht mandatiert gewesen sei. Mit gerichtlicher Verfügung vom 13.9.2021 übersandte das SG die Leistungsakte mit der Bitte um Überlassung der Klagebegründung binnen drei Wochen. Die Akte erhielt der Prozessbevollmächtigte am 17.9.2021 und reichte sie mit Schreiben vom 24.9.2021 zurück. Das SG erinnerte mit gerichtlicher Verfügung vom 14.10.2021 und 5.11.2021 an die Klagebegründung.

Am 29.11.2021 verfügte die Vorsitzende eine Aufforderung, das Verfahren innerhalb von drei Monaten nach Zustellung durch Übersendung der Klagebegründung zu betreiben. Da das Gericht mehrfach erfolglos dazu aufgefordert habe, die Begründung zu übersenden, werde davon ausgegangen, dass kein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits bestehe. Darüber hinaus enthält dieses von der Vorsitzenden mit vollem Namen unterschriebene Schreiben den Hinweis, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gilt, falls dieser Aufforderung nicht fristgerecht binnen drei Monaten ab Zustellung nachgekommen wird. Zugang der Aufforderung war ausweislich der Postzustellungsurkunde am 3.12.2021.

Am 7.3.2022 trug das Gericht die Klage als unter dem 4.3.2022 erledigt aus. Ebenfalls am 7.3.2022 ging die Klagebegründung durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein, in der er die im Widerspruchsbescheid genannten Diagnosen wiedergab, auf eine erhebliche Verschlechterung hinwies, die Einholung von Befundberichten und Sachverständigengutachten anregte und im Übrigen zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Widerspruchsbegründung der Klägerin vom 30.9.2020 verwies.

Mit Schreiben vom 8.3.2022 teilte das Gericht dem Prozessbevollmächtigten mit, dass die Betreibensaufforderung vom 30.11.2021 mit Postzustellungsurkunde vom 3.12.2021 zugestellt worden sei und die Klage als zurückgenommen gelte.


Am 16.3.2022 hat der Klägerbevollmächtigte bei dem SG Gelsenkirchen die Fortführung des Verfahrens beantragt, hilfsweise die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hilfsweise die Überprüfung der angefochtenen Bescheide gem. §§ 44 ff. SGB X. Er hat zur Begründung ausgeführt, die Klagerücknahmefiktion sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen anzuwenden, nämlich wenn Anlass zu der Annahme bestehe, dass das Rechtsschutzinteresse der Klägerin entfallen sei. Eine fehlende Klagebegründung lasse nur ausnahmsweise auf ein weggefallenes Rechtsschutzinteresse schließen. Unter Berücksichtigung der Widerspruchsbegründung vom 30.9.2020 und den bereits mit Schriftsatz vom 7.7.2021 übersandten ausgefüllten Fragebögen sowie der Schweigepflichtentbindungserklärung lasse sich gerade kein weggefallenes Rechtsschutzinteresse herleiten. Der Sachverhalt habe aufgrund der vorgelegten Unterlagen in medizinischer Hinsicht ohne weiteres von Amts wegen gem. § 106 SGG weiter aufgeklärt werden können. Die Betreibensaufforderung habe er zudem erst am 6.12.2021 zur Kenntnis nehmen können, da sie wohl am Freitag, den 3.12.2021, nach Schließung der Kanzlei zugestellt worden sei. Entsprechend sei jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Da die Bürovorsteherin von einem Fristbeginn am 6.12.2021 ausgegangen sei und als Fristende daher den 7.3.2022 notiert habe, sei dem Prozessbevollmächtigten der Vorgang auch erst am 7.3.2022 vorgelegt und die Klagebegründung gefertigt worden.

Das SG hat daraufhin die vormalige Klage S 18 R 609/21 neu eingetragen und das Verfahren unter dem Aktenzeichen S 18 R 253/22 geführt.

Mit Schreiben vom 6.4.2022 hat die Beklagte mitgeteilt, sie erkläre sich mit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie mit einer Fortführung des Klageverfahrens einverstanden.


Das Sozialgericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 14.4.2022 darauf hingewiesen, dass es beabsichtige festzustellen, dass die Klage als zurückgenommen gelte, da die Klagerücknahmefiktion nach § 102 SGG vorliegend eingreife, und zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Mit Gerichtsbescheid vom 15.6.2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Die auf Fortführung des ursprünglichen Klageverfahrens gerichtete Klage sei zulässig. Sie führe in der Sache jedoch nicht zum Erfolg, da die ursprüngliche Klage durch fiktive Klagerücknahme gem. § 102 SGG erledigt worden sei. Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung seien erfüllt. Innerhalb der Drei-Monats-Frist sei eine Klagebegründung nicht erfolgt. Der am 7.3.2022 eingegangene Schriftsatz sei verspätet gewesen. Eine Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht, da es sich bei der Drei-Monats-Frist um eine gesetzliche Ausschlussfrist handele. Aufgrund der Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung und des Verhaltens der Klägerin habe das Gericht davon ausgehen müssen, dass sie das Interesse an dem Rechtsstreit verloren habe. Die Nichtvorlage einer Klagebegründung könne auch Anlass für und die Aufforderung zur Vorlage einer solchen Gegenstand einer Betreibensaufforderung sein. Dass die Vorlage einer Klagebegründung eine regelhafte Obliegenheit des Klägers sei, ergebe sich schon aus der Soll-Vorschrift des § 92 Abs. 1 SGG. Auch nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG sei die Aufforderung, eine Klage bzw. eine Berufung zu begründen, zulässiger Inhalt einer Betreibensaufforderung.

Gegen den dem Bevollmächtigten der Klägerin am 21.6.2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat er für die Klägerin am 4.7.2022 bei dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Berufung eingelegt.

Das Verfahren sei fortzuführen, da für den Tag der Zustellung der Tag maßbeglich sei, an dem der Rechtsanwalt persönlich Kenntnis von der Zustellung erlangt habe. Damit sei die Klagebegründung nicht verspätet. Im Übrigen seien die Voraussetzungen für den Eintritt der Klagerücknahmefiktion aus den im Schriftsatz vom 16.3.2022 genannten Gründen nicht erfüllt. Auch dem im Schriftsatz vom 6.4.2022 erklärten Willen der Beklagten entspreche es, den Rechtsstreit fortzusetzen. 

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

  1. festzustellen, dass ihr unter dem Aktenzeichen S 18 R 609/21 beim Sozialgericht Gelsenkirchen geführte Rechtsstreit gegen die Beklagte nicht durch fiktive Klagerücknahme erledigt ist und das Verfahren fortzuführen ist,
  2. hilfsweise Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,
  3. den Bescheid vom 10.9.2022 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.5.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller – hilfsweise wegen teilweiser – Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu bewilligen.

 

Die Beklagte stellt keinen Antrag.


Mit Schriftsätzen vom 29.7.2022 bzw. 1.8.2022 haben die Beteiligten sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.


1) Der Senat konnte gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten mit Schriftsätzen vom  29.7.2022 bzw. 1.8.2022 ihr Einverständnis dazu gegeben haben.


2) Die Berufung ist statthaft (§ 143 SGG) und auch im Übrigen zulässig (§§ 144, 151 SGG).

Dabei legt der Senat den klageabweisenden Tenor des Gerichtsbescheids des SG unter Heranziehung des Tatbestands und der Entscheidungsgründe sowie der Anhörung zum Gerichtsbescheid dahingehend aus, dass das SG inhaltlich feststellen wollte, dass die Klage S 18 R 609/21 als zurückgenommen gilt. Denn dem Antrag der Klägerin entsprechend ist unter dem Aktenzeichen L 18 R 253/22 allein der Streit über die Fortführung des ursprünglichen Klageverfahrens S 18 R 609/21 rechtshängig geworden. Nur über diese Frage der Fortsetzung hat das SG mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid auch entschieden.

Gegen diese sinngemäß erklärte Feststellung des SG, dass die Klage zurückgenommen ist, ist das Rechtsmittel statthaft, das auch gegen eine Entscheidung in der Sache selbst einzulegen wäre. Der Berufungsstreitwert des § 144 Abs. 1 SGG, der auch bei Verfahren über die Wirksamkeit einer fiktiven Klagerücknahme maßgeblich ist (BSG vom 19.3.2020 – B 4 AS 4/20 R, Rn. 18), ist erreicht. Denn hier sind Leistungen für mehr als ein Jahr streitig (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG); darüber hinaus übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 €.

3) Die Berufung ist auch begründet.


a) Das SG hat zu Unrecht festgestellt, dass das Klageverfahren S 18 R 609/21 am 4.3.2022 aufgrund fiktiver Rücknahmeerklärung der Klägerin beendet worden ist. Denn die Voraussetzungen für den Eintritt einer Rücknahmefiktion nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG haben nicht vorgelegen.

Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger ist in der Betreibensaufforderung auf die sich aus Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Zwar genügt hier die Betreibensaufforderung des SG den formellen Anforderungen, da sie mit vollem Namen der Kammervorsitzenden unterschrieben und (wirksam) zugestellt worden ist. Jedoch haben die Voraussetzungen für eine Rücknahmefiktion nicht vorgelegen. Die Vorschrift des § 102 SGG ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Fiktion der Klagerücknahme führt zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solch scharfen prozessualen Instruments muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Beteiligter ein von ihm eingeleitetes Verfahren auch durchführen will (BVerfG vom 17.9.2012 – 1 BvR 2254/11, Rn. 28, juris; BSG vom 1.7.2010 – B 13 R 58/09 R, Rn. 42 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BVerfG (vgl. etwa Beschlüsse vom 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95, Rn. 17 ff., juris, und vom 17.9.2012, a.a.O.) darf ein Gericht daher im Einzelfall nur dann von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. § 102 Abs. 2 SGG dient nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eines Beteiligten. Die Rücknahmefiktion soll nur die Voraussetzungen für die Annahme eines weggefallenen Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BVerfG vom 17.9.2012, a.a.O.). § 102 Abs. 2 SGG bezweckt indes nicht, einen Kläger zu einer Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern dient (nur) der Klärung aufgekommener Zweifel am Fortbestehen seines Rechtsschutzinteresses (BVerfG vom 17.9.2012, a.a.O.).  

Das SG ist wegen der trotz Ankündigung und Aufforderung unterbliebenen Klagebegründung von einem mangelnden Interesse der Klägerin an dem Rechtsstreit ausgegangen. Dem Prozessbevollmächtigte ist die Leistungsakte der Beklagten, die er zur Klagebegründung erbeten hatte, am 17.9.2021 zugegangen; unter dem 14.10.2021 und unter dem 5.11.2021 ist er an die Klagebegründung erinnert worden, am 29.11.2021 erging die Betreibensaufforderung.

Dem SG ist zuzustimmen, dass im Einzelfall auch die fehlende Klagebegründung Anlass und die Aufforderung zur Einreichung Gegenstand einer Betreibensaufforderung sein kann. So hat das BSG noch am 8.12.2020 – B 4 AS 280/20 B entschieden, dass der Kläger bei der Klärung des Gegenstands der Berufung (gleiches muss für die Klage gelten) und der wesentlichen Einwendungen nicht von seinen Mitwirkungspflichten freigestellt ist und dass die fehlende Vorlage einer Berufungsbegründung insbesondere dann Anlass für eine Betreibensaufforderung sein kann, wenn die Berufungsbegründung trotz Fristsetzung nicht eingereicht wird (BSG, a.a.O., Rn. 13). Im dortigen Ausgangsfall war zwischen der Berufungseinlegung und der Betreibensaufforderung ein Zeitraum von einem halben Jahr vergangen und die Frage, ob überhaupt Berufung eingelegt werden sollte und ggf. mit welchem Begehren, war unklar.

Im vorliegenden Fall stellt sich der Sachverhalt jedoch anders dar. Streitig war die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten hatte die Klägerin noch selbst Widerspruch eingelegt und darin ihre Gesundheitseinschränkungen und die Gründe für die Beantragung der Rente ausgeführt. Nach dem zurückweisenden Widerspruchsbescheid hat sie den im Verfahren tätigen Prozessbevollmächtigen mit der Klageerhebung beauftragt. Die Klage ist fristgerecht erhoben worden und fristgerecht sind auch die Schweigepflichtentbindungserklärung übersandt und die behandelnden Ärzte benannt sowie ein aktueller Ambulanzbrief eingereicht worden. Dem Eingang der erbetenen Akten beim Prozessbevollmächtigten Mitte September 2021 folgte nach zweimaligen Erinnerungen an die Klagebegründung mit Wiedervorlagefristen von zwei bzw. drei Wochen, Ende November 2021 bereits die Betreibensaufforderung. Zu diesem Zeitpunkt lagen alle Voraussetzungen und erforderlichen Informationen für erste gerichtliche Ermittlungen von Amts wegen auf der Grundlage der §§ 103 Satz 1, 106 SGG durch das Einholen von Befundberichten vor, um zu klären, welche Gesundheitseinschränkungen ärztlich bestätigt sind und ob ggf. seit den Ermittlungen der Beklagten eine Verschlechterung eingetreten ist und es einer weiteren medizinischen Sachaufklärung bedarf. Eine Klagebegründung war insoweit, auch wenn angekündigt, für den Fortgang des Verfahrens nicht zwingend erforderlich. So erschöpfte sie sich auch, als sie am 7.3.2022 einging, in der Mitteilung einer Verschlechterung, der Anregung, Befundberichte und ein Sachverständigengutachten einzuholen, und dem Verweis auf die Widerspruchsbegründung. Neben der (seit zweieinhalb Monaten) ausgebliebenen Klagebegründung, die nach § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG lediglich eine Obliegenheit darstellt, finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin trotz Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Führung des Klageverfahrens mit bereits benanntem und klarem Klageziel, Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht und Übersendung eines Ambulanzbriefes an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen war. Der Senat vermag in diesem konkreten Fall die vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG erforderliche Eindeutigkeit des entfallenen Rechtsschutzinteresses nicht zu erkennen.

b) Da der Antrag zu 1. zulässig und begründet ist, war über den hilfsweise gestellten Antrag zu 2. auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu entscheiden. Der Senat geht davon aus, dass der Antrag zu 3. als Folgeantrag zu der hilfsweise begehrten Wiedereinsetzung zu verstehen ist und daher – wie dieser - auch nur hilfsweise gestellt werden sollte. Anderenfalls wäre der Senat auch gehindert, eine Sachentscheidung über den dann unzulässigen Antrag zu 3. zu treffen, da zulässiger Streitgegenstand alleine die Frage ist, ob der Rechtsstreit S 18 R 609/21 erledigt ist. Allein hierüber hat das SG in dem angefochtenen Gerichtsbescheid entschieden und das Landessozialgericht prüft den Streitfall (nur) im gleichen Umfang wie das SG (§ 157 Abs. 1 Satz 1 SGG).


4) Mangels Erfüllung der Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme ist der Rechtsstreit in erster Instanz deshalb nicht gem. § 102 Abs. 2 SGG beendet worden und vor dem Sozialgericht fortzusetzen (vgl. LSG NRW vom 19.5.2017 – L 17 U 315/16, Rn. 20, juris und vom 1.4.2020 – L 21 R 322/20, Rn. 37, juris; Sächsisches LSG vom 28.2.2013 – L 7 AS 523/09, Rn. 27 ff., juris; Keller in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 2020, § 159 Rn. 3b m.w.N.). Mit der Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheides vom 15.6.2022 und der Feststellung, dass der Rechtsstreit S 18 R 609/21 nicht durch Klagerücknahme beendet worden ist, ist der zulässige Streitgegenstand des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits erschöpft. Eine Zurückverweisung an das Sozialgericht (§ 159 Abs. 1 SGG) kommt nicht in Betracht und steht deshalb auch nicht im Ermessen des Senats. Denn die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens S 18 R 609/21 war zu keinem Zeitpunkt entfallen, weil eine Erledigung im Sinne des § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht eingetreten war. Daher hat das SG von Amts wegen noch über das dort durchgehend offen gebliebene Verfahren in der Sache zu entscheiden.

 
5) Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit ein Zwischenstreit ist (vgl. LSG NRW vom 19.5.2017 – L 17 U 315/16, Rn. 22, juris, und vom 1.4.2020 – L 21 R 322/20, Rn. 38, juris; Sächsisches LSG vom 28.2.2013 – L 7 AS 523/09, Rn. 30, juris). Insoweit folgt die Entscheidung über die Kosten der vom Sozialgericht zu Unrecht angenommenen Verfahrensbeendigung durch fiktive Klagerücknahme der Entscheidung in der Sache, was im Übrigen auch der Billigkeit entspricht.

6) Gründe, im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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