1. Die Entsendung muss im Rahmen eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses im Inland erfolgen. Hierfür ist auch erforderlich, dass infolge der Eigenart der Beschäftigung feststeht oder von vornherein vereinbart ist, dass die Beschäftigung nach Beendigung der Entsendung bei dem entsendenden Arbeitgeber mit Hauptpflichten im Inland weitergeführt wird.
2. Die Entsendebescheinigung hat die Funktion, die Zuordnung zu einer Rechtsordnung zwischen zwei Staaten zu regeln. Im Hinblick darauf kann ihr auch im Verhältnis der Sozialversicherungsträger innerhalb des Entsendestaates keine weitergehende Bindungswirkung zukommen, als im Verhältnis zu dem Staat, in den der Arbeitnehmer entsandt wird. D.h. es besteht auch im Verhältnis der Sozialversicherungsträger im selben Staat jedenfalls dann keine Bindungswirkung an die Entsendebescheinigung, wenn diese offensichtlich unrichtig ist.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten sich um die Anerkennung des Ereignisses vom 1. Mai 2015 als Arbeitsunfall.
Der Kläger war seit Sommer 2013 mehrmals zeitlich befristet bei der D. Sportreisen GmbH (im Folgenden: Arbeitgeberin) als Sportguide beschäftigt und war jeweils im Ausland für diese tätig. Zuletzt schloss er mit der Arbeitgeberin am 6. März 2015 einen befristeten Arbeitsvertrag vom 28. April 2015 bis einschließlich 14. Oktober 2015. Insoweit sollte der Kläger vom 28. April bis 25. Juli 2015 als Mountainbike-Guide in einem Sportclub in C-Stadt, Türkei, und vom 16. August bis 14. Oktober 2015 als Allrounder „Sport“ in einem Hotel in E-Stadt, Kroatien, eingesetzt werden. Das Beschäftigungsverhältnis sollte nach dem Vertrag zum angegebenen Termin enden, ohne dass es einer ausdrücklichen Kündigung bedürfte, und der Fortsetzung eines des Arbeitsverhältnisses nach Ende der Befristung wurde bereits mit Vertragsschluss ausdrücklich widersprochen (§ 1 des Arbeitsvertrages). Die von dem Kläger zu erbringenden Tätigkeiten wurden gem. § 2 des Arbeitsvertrages in Anlage 1 zum Vertrag fixiert und umfassten ausschließlich Aufgabenbereiche vor Ort, d. h. in der Türkei bzw. in Kroatien. Eine freiwillige Auslandsunfallversicherung nach § 140 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) wurde von der Arbeitgeberin für den Kläger nicht abgeschlossen.
Laut Unfallanzeige vom 4. Mai 2015 erlitt der Kläger am 1. Mai 2015 bei der Erkundung von Mountainbikestrecken in C-Stadt, Türkei, mit seinem Quad einen Sturz und brach sich das Schlüsselbein links. Der Kläger begab sich zur Behandlung in eine Privatklinik in H-Stadt; dort wurde er noch am Unfalltag operiert und am Folgetag entlassen.
Ebenfalls mit Schreiben vom 4. Mai 2015 kündigte die Arbeitgeberin den befristeten Arbeitsvertrag mit dem Kläger innerhalb der Probezeit zum 20. Mai 2015.
Die Beklagte übersandte das Formular „Bescheinigung über Anspruch auf Sachleistungen bei Arbeitsunfall oder Berufskrankheit während des Aufenthalts in der Türkei“ nach dem „Deutsch-türkischen Abkommen über Soziale Sicherheit“ (im Folgenden: DTSVA) – auf Wunsch des Klägers – direkt an das Krankenhaus in der Türkei. Darin heißt es, dass dem Kläger zeitlich unbegrenzt Sachleistungen wegen des Arbeitsunfalls am 1. Mai 2015 gewährt werden. Die Bescheinigung wurde dem Kläger nicht zur Kenntnis gegeben. Am 4. Mai 2015 teilte der Kläger der Beklagten telefonisch mit, dass das Krankenhaus die Bescheinigung nicht akzeptierte, und die Beklagte bat ihn um Vorlage eines Nachweises, dass er kein staatliches Krankenhaus habe aufsuchen können. In der Folgezeit ergaben sich Streitigkeiten wegen der Kostenübernahme zwischen der Privatklinik und der Beklagten.
Die Arbeitgeberin hatte bei der AOK am 14. April 2015 einen Antrag auf Erteilung einer Entsendebescheinigung für den Einsatz des Klägers vom 28. April 2015 bis 25. Juli 2015 in der Türkei gestellt und darin u.a. angegeben, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger seit dem 27. März 2015 bestehe; Angaben zur Befristung des Arbeitsvertrages enthält der Antrag nicht. Mit Schreiben vom 6. Mai 2015 übersandte die AOK dem Arbeitgeber eine auf diesen Tag datierende Entsendebescheinigung nach dem DTSVA bezüglich des Einsatzes des Klägers in der Türkei vom 28. April bis 25. Juli 2015. Die AOK bat um Überprüfung der Bescheinigung auf Richtigkeit und Vollständigkeit. Auf spätere telefonische Nachfrage der Beklagten teilte die AOK mit, die Bescheinigung allein basierend auf den Angaben der Arbeitgeberin ausgestellt zu haben, ohne Vorlage des Arbeitsvertrages.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland begab sich der Kläger am 26. Mai 2015 in das St. Vinzenz-Krankenhaus in A-Stadt, wo er erneut operiert und bis zum 1. Juni 2015 stationär behandelt wurde.
Am 8. Juni 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten telefonisch die Gewährung von Verletztengeld, woraufhin ihm diese mitteilte, dass die Krankenkasse in ihrem Auftrag auszahle. Am Folgetag teilte die Beklagte dem Kläger telefonisch mit, dass vorerst Krankengeld ausgezahlt werde, bis entschieden sei, ob es sich um einen Arbeitsunfall handele. Nach Mitteilung der AOK an die Beklagte übernahm die AOK Heilbehandlungskosten des Klägers, zahlte Krankengeld ab 1. Mai 2015 vorläufig aus und meldete vorsorglich einen Erstattungsanspruch bei der Beklagten an.
Mit Bescheid vom 19. Juni 2015 lehnte die Beklagte Ansprüche auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlass des Ereignisses vom 1. Mai 2015 ab. Der Kläger gehöre nicht zum Kreis der versicherten Personen, da er die Beschäftigung, bei der sich der Unfall ereignet habe, außerhalb von Deutschland ausgeübt habe und kein Fall der Entsendung/Ausstrahlung gegeben sei. Der Kläger sei weder vor dem Einsatz in der Türkei noch im Nachhinein im Inland beschäftigt gewesen.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Nach dem befristeten Arbeitsvertrag sei ein Einsatz in Deutschland vom 27. Juli bis 15. August 2015 möglich gewesen, da diese Zeit als Arbeitszeit zähle und insoweit kein Auslandseinsatz geplant gewesen sei, so dass er der Disposition seiner Arbeitgeberin in Deutschland unterlegen habe.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. November 2015 zurück. Es sei bereits fraglich, ob durch die etwa dreiwöchige Unterbrechung des Auslandseinsatzes eine solche Zäsur eingetreten sei, dass von zwei voneinander unabhängigen Auslandseinsätzen und nicht von einem Gesamtauslandseinsatz auszugehen sei. Selbst wenn man von zwei Fällen der Entsendung ausgehen wolle, ergebe sich aus der Gesamtschau der Umstände, dass der Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses nicht in Deutschland, sondern vielmehr im Ausland gelegen habe. Der Zeitraum zwischen den beiden Auslandseinsätzen sei nicht näher bezeichnet, so dass nicht feststehe, ob und gegebenenfalls welchen Hauptleistungspflichten der Kläger in dieser Zeit habe nachkommen sollen. Daher bestehe kein Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Daraufhin hat der Kläger am 18. Dezember 2015 bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main (Sozialgericht) Klage erhoben. Er habe auch in der Zeit zwischen den beiden Auslandseinsätzen der Weisung der Arbeitgeberin gemäß § 106 Gewerbeordnung unterlegen. Außerdem habe er einen Urlaubsanspruch von zwölf Werktagen bei einer halbjährigen Beschäftigungszeit gehabt; bei der zusammenhängenden Inanspruchnahme des Urlaubs handele es sich auch um eine Hauptpflicht aus dem Arbeitsverhältnis. Dies habe in der Zeit zwischen den beiden Einsätzen erfolgen sollen. Es möge zwar zutreffend sein, dass seine Hauptpflicht in der Betreuung im Ausland liege; gleichwohl sei nicht davon auszugehen, dass er die Zwischenzeit zwischen den beiden Auslandseinsätzen ohne Einforderung einer Arbeitsleistung zu Hause hätte verbringen dürfen.
Die Beklagte teilte auf Nachfrage des Sozialgerichts mit, dass nicht beantwortet werden könne, ob der Arbeitgeber Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung für den Kläger abgeführt habe. Aus dem Entgeltnachweis gehe lediglich die Anzahl der Versicherten, das nachweispflichtige Arbeitsentgelt und die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden aller Versicherten hervor, so dass nicht ersichtlich sei, ob der Entgeltnachweis auch den Kläger umfasse.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 17. Oktober 2019 abgewiesen. Die Beklagte habe die Feststellung eines Arbeitsunfalls zu Recht abgelehnt, da die Voraussetzungen für eine Ausstrahlung nach § 4 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV) nicht erfüllt seien. Der Kläger sei weder vor Aufnahme der Tätigkeit in der Türkei im Inland beschäftigt gewesen – hierfür reiche allein der Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einem inländischen Unternehmen nicht aus – noch nach Beendigung dieser Tätigkeit. Der Arbeitsvertrag – unabhängig davon, ob es sich um ein einheitliches oder zwei Beschäftigungsverhältnisse im Ausland gehandelt habe – habe nach Beendigung der Tätigkeit des Klägers im Ausland keine Bestimmung über eine im Inland zu erfüllende Hauptleistungspflicht enthalten. Die Bescheinigung der Beklagten über „Anspruch auf Sachleistungen bei Arbeitsunfall“ habe keine Wirkung zu Gunsten des Klägers entfalten können, da sie diesem nicht zur Kenntnis gelangt sei. Auch bei den telefonischen Mitteilungen der Beklagten, dass mit dem Krankenhaus alles geklärt sei, und über die Auszahlung von Verletztengeld/Krankengeld habe es sich nicht um mündliche Verwaltungsakte oder sonstige verbindliche Regelungen gehandelt. Ebenso sei kein formell-rechtliches Versicherungsverhältnis zwischen den Beteiligten durch die Zahlung von Beiträgen für den Kläger nachgewiesen.
Gegen dieses ihm am 28. November 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 27. Dezember 2019 bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt Berufung eingelegt und sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt. Die Voraussetzungen einer Ausstrahlung nach § 4 SGB IV seien erfüllt und in der Sache mit denen einer Entsendung nach Art. 6 DTSVA identisch. Insoweit entfalte die Entsendebescheinigung jedenfalls eine Indizwirkung. Es sei von einem einheitlichen Beschäftigungsverhältnis vom 28. April bis 14. Oktober 2015 auszugehen. In der Zeit zwischen den beiden Auslandseinsätzen sei er als Arbeitnehmer zur Dienstleistung verpflichtet gewesen, auch ohne dass der Arbeitsvertrag insoweit eine konkrete Bestimmung enthalte. Es sei Aufgabe des Arbeitgebers und nicht des Arbeitnehmers durch einseitige Erklärung den quantitativen Umfang der Hauptleistungspflicht auszufüllen. Zudem habe die Beklagte zumindest eine mündliche Kostenzusage erteilt, was aus dem Empfängerhorizont als begünstigender Verwaltungsakt zu werten sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. Oktober 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2015 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 1. Mai 2015 ein Versicherungsfall ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, dass keine Ausstrahlung im Sinne von § 4 SGB IV bzw. Entsendung nach Art. 6 DTSVA vorliegt, da es an einem Inlandsbezug des Beschäftigungsverhältnisses vor oder nach dem Auslandseinsatz in der Türkei fehle. Denn es habe weder infolge der Eigenart der Beschäftigung noch aufgrund einer Vereinbarung festgestanden, dass die Beschäftigung im Inland weitergeführt werde. Im Arbeitsvertrag seien lediglich Aufgaben des Klägers vor Ort während des Auslandseinsatzes geregelt und keinerlei Inlandsaufgaben vereinbart worden. Das Beschäftigungsverhältnis, obwohl mit einem Unternehmen in Deutschland begründet, sei ausschließlich in einem ausländischen Staat verwirklicht worden und habe keine Beziehung zur deutschen Sozialversicherung gehabt. Es sei außerdem keine mündliche Zusage der Kostenübernahme der Krankenhausbehandlung gegeben worden und eine Zusage erfordere für ihre Wirksamkeit nach § 34 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) zudem Schriftform. Die Entsendebescheinigung der AOK habe vorliegend keine Bindungswirkung ihr gegenüber entfaltet, da die AOK die Bescheinigung ohne Vorliegen des Arbeitsvertrages und nur auf Grundlage des Arbeitgeberantrags ausgestellt habe und dieser Antrag fehlerhafte Angaben zum Beginn des Arbeitsverhältnisses enthalten habe. Zudem sei die Bescheinigung erst am 6. Mai 2015 ausgestellt worden, so dass der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls auch nicht auf ihre Gültigkeit habe vertrauen können.
Der Senat hat Beweis erhoben zunächst durch schriftliche Zeugenvernehmungen von Herrn E. K. (seinerzeit Mitarbeiter bei D. Sportreisen im Bereich Personal) und Herrn C. F. (Leiter Personalabteilung bei D. Sportreisen) und sodann die beiden Zeugen im Rahmen eines Erörterungstermins am 19. April 2021 per Videokonferenz gehört. Außerdem wurde der Kläger in diesem Erörterungstermin befragt. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Zeugenvernehmungen und die Sitzungsniederschrift über den Erörterungstermin verwiesen.
Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 14. Oktober 2021 (Beklagte) bzw. 3. Dezember 2021 (Kläger) Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand und zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die zum Verfahren beigezogen worden und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Das erstinstanzliche Urteil und der Bescheid vom 19. Juni 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November sind im Ergebnis zu Recht ergangen.
Der Kläger hat am 1. Mai 2015 keinen nach dem SGB VII versicherten Arbeitsunfall erlitten.
Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb Versicherter ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität (HLSG, Urteil vom 30. Juni 2020 – L 3 U 105/16 ZVW).
Die Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall im Sinne von § 8 SGB VII liegen nicht vor, da der Kläger zum Zeitpunkt seines Unfalls nicht zum in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personenkreis gehörte. Der Arbeitsunfall ereignete sich nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs und es liegt kein Fall der Einbeziehung in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung im Wege der Entsendung nach Art. 6 DTSVA vor, der nach § 6 SGB IV gegenüber § 4 SGB IV (Ausstrahlung) vorrangig ist. Die Arbeitgeberin des Klägers hatte für ihn auch keine Auslandsversicherung nach § 140 Abs. 2 SGB VII abgeschlossen.
Nach § 30 Abs. 1 SGB I gelten die Vorschriften des SGB für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des SGB haben. Hiervon abweichend (§ 37 Satz 2 SGB I) gelten nach § 3 Nr. 1 SGB IV die Vorschriften über die Versicherungspflicht, soweit sie eine Beschäftigung voraussetzen, für alle Personen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzbuchs beschäftigt oder selbständig tätig sind (Kruschinsky in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky/Heinz, SGB VII, § 2 Rn. 230 ff). § 4 Abs. 1 SGB IV bestimmt in Erweiterung dieses in § 3 SGB IV verankerten Territorialitätsprinzips, dass die Vorschriften über die Versicherungspflicht – soweit sie eine Beschäftigung voraussetzen – auch für Personen gelten, die im Rahmen eines im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches bestehenden Beschäftigungsverhältnisses in ein Gebiet außerhalb dieses Geltungsbereichs entsandt werden, wenn die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist. § 4 SGB IV wird vorliegend jedoch von Art. 6 des zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei am 30. April 1964 geschlossenen DTSVA gemäß § 6 SGB IV verdrängt.
§ 6 SGB IV enthält den Anwendungsbefehl für die Bundesrepublik Deutschland betreffendes zwischen- und überstaatliches Recht und bestimmt die Hierarchie der anzuwendenden Kollisionsregeln: Zwischen- und überstaatliches Recht hat Vorrang vor nationalem Recht (vgl. BSG Urteil vom 3. April 2014 - B 2 U 25/12 R - BSGE 115, 256 auch zu den Grenzen des Vorrangs). Welches Kollisionsrecht anzuwenden ist, richtet sich danach, welche Staaten an der Auslandsberührung beteiligt sind, ob es sich um EWR-Staaten/die Schweiz handelt oder um Staaten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialversicherungsabkommen geschlossen hat, das im konkreten Fall Regelungen über die Anwendbarkeit nationalen Rechts trifft, oder Nicht-EWR-Staaten, mit denen kein Sozialversicherungsabkommen besteht. Nur wenn weder europäisches Gemeinschaftsrecht noch ein Sozialversicherungsabkommen einschlägig ist, richtet sich das anwendbare Recht nach deutschem Kollisionsrecht, also nach den §§ 3 bis 5 SGB IV (vgl. dazu Padé/Dietrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl., § 6 SGB IV (Stand: 11.07.2022), Rn. 11).
Bei dem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei am 30. April 1964 geschlossenen DTSVA handelt es sich um einen bilateralen Vertrag, der durch ein sog. Vertragsgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz – hier das Gesetz zu dem Abkommen vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 13. September 1965 (BGBl II 1965, 1169) – rechtliche Wirkung erhalten hat (Änderungen durch das Gesetz zu dem Zusatzabkommen vom 2. November 1984 zum Abkommen vom 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit und zu der Vereinbarung vom 2. November 1984 zur Durchführung des Abkommens (BGBl II 1986, 1038) und das Gesetz zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27. April 2002 (BGBl I 2002, 1464).
Die Voraussetzungen einer Entsendung nach Art. 6 DTSVA liegen nicht vor.
Art. 6 Abs. 1 DTSVA lautet:
„Wird ein Arbeitnehmer eines Unternehmens mit dem Sitz im Gebiet der einen Vertragspartei vorübergehend zur Arbeitsleistung in das Gebiet der anderen Vertragspartei entsandt, um dort eine Arbeit für Rechnung dieses Unternehmen auszuführen, so gelten für ihn die Rechtsvorschriften der ersten Vertragspartei für die Dauer der Beschäftigung im Gebiet der zweiten Vertragspartei so weiter, als wäre er an dem Ort beschäftigt, an dem das Unternehmen seinen Sitz hat.“
Für die Frage, ob eine Entsendung im Sinne eines bilateralen Abkommens wie dem DTSVA vorliegt, ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das Recht des Entsendestaates ausschlaggebend (vgl. Urteil vom 16. Dezember 1999, B 14 KG 1/99 R, Rn. 15 f. (zum Abkommen Deutschland-Jugoslawien), s. dazu auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. September 2019 – L 9 KR 52/15 –, Rn. 35, juris).
Der Entsendebegriff im Sinne von Art. 6 DTSVA ist in der vorliegenden Konstellation mit der Bundesrepublik Deutschland als Entsendestaat somit im Sinne von § 4 SGB IV auszulegen.
Nach seinem Wortlaut setzt § 4 Abs. 1 SGB IV – neben einem Auslandsaufenthalt – ein im Inland bestehendes Arbeitsverhältnis und einen im Voraus zeitlich begrenzten Einsatz im Ausland voraus. Die Entsendung muss im Rahmen eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses im Inland erfolgen. Fehlt es an diesem Rahmen, kann es nicht zur Ausstrahlung kommen, da dann kein im Inland (schon) bestehender Versicherungsschutz zu erhalten ist (BSG, Urteile vom 10. August 1999 – B 2 U 30/98 R – juris Rn. 23 und vom 5. Dezember 2006 – B 11a AL 3/06 R – juris Rn. 17; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 30. Juni 2020 – L 3 U 105/16 ZVW –, Rn. 38, juris).
Eine Ausstrahlung ist auch bei Beschäftigungsverhältnissen allein im Hinblick auf die Entsendung, d.h. ohne tatsächliche vorherige Beschäftigung im Inland, nicht ausgeschlossen, solange sichergestellt ist, dass der Schwerpunkt der rechtlichen und tatsächlichen Merkmale des Beschäftigungsverhältnisses im Geltungsbereich des SGB liegt. Bei dieser Variante bildet das mit dem inländischen Arbeitgeber abgeschlossene Beschäftigungsverhältnis insoweit noch den einen Teil des "Rahmens" für die Entsendung, als der Arbeitgeber aufgrund dieses Beschäftigungsverhältnisses die die Entsendung auslösende Weisung erteilen kann. Der für eine Auslandsbeschäftigung vorgesehene Arbeitnehmer muss sich darüber hinaus vor Aufnahme des Auslandseinsatzes auch im Inland befinden und nach Beendigung der Entsendung ist in diesem Fall erforderlich, dass infolge der Eigenart der Beschäftigung feststeht oder von vornherein vereinbart ist, dass die Beschäftigung bei dem entsendenden Arbeitgeber mit Hauptpflichten im Inland weitergeführt wird (BSG Urteile vom 17. Dezember 2015 - B 2 U 1/14 R -, Rn. 16; vom 19. Dezember 2013 - B 2 U 14/12 R; vom 10. August 1999 - B 2 U 30/98 R; vom 8. Dezember 1994 - 2 RU 37/93; 17. November 1992 - 4 RA 15/91; vom 22. Juni 1989 – 4 REg 4/88 und vom 14. Januar 1987 - 10 RKg 20/85; Beschluss des erkennenden Senats vom 5. Dezember 2011 - L 3 U 174/10 -, juris). Nur dann liegt der vom Gesetzgeber und von der Rechtsprechung geforderte Schwerpunkt der rechtlichen und tatsächlichen Merkmale des Beschäftigungsverhältnisses im Inland. Haben der Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber weder bei Eingehung des Beschäftigungsverhältnisses noch zum Zeitpunkt der Entsendung Vereinbarungen getroffen, nach denen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis nach dem Ende der Auslandstätigkeit in Deutschland erbracht werden sollten, liegen die Voraussetzungen einer Ausstrahlung nicht vor (BSG Urteil vom 19. Dezember 2013 – B 2 U 14/12 R). Wenn also für die Zeit nach der Entsendung eine Weiterbeschäftigung beim entsendenden Arbeitgeber im Inland nicht gewährleistet ist, unterliegt der Arbeitnehmer während der Beschäftigung im Ausland nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, auch wenn die Rückkehr an den deutschen Wohnsitz beabsichtigt war (BSG, Urteil vom 10. August 1999, B 2 U 30/98 R). In diesen Fällen fehlt es jedoch in der Regel von vornherein an dem typischen Merkmal der Entsendung, nämlich an der fortbestehenden Inlandsintegration bei vorübergehender Auslandsbeschäftigung (BSGE 75, 232; KassKomm/Zieglmeier, 118. EL März 2022, SGB IV § 4 Rn. 13).
Die Bejahung einer Ausstrahlung bei fehlender vorangegangener Beschäftigung beim Entsendungsarbeitgeber im Inland ohne das Erfordernis einer solchen Weiterbeschäftigung wäre mit der Zwecksetzung des § 4 Abs. 1 SGB IV, dass ins Ausland entsandte Arbeitnehmer ihren Versicherungsschutz nicht verlieren sollen, nicht zu vereinbaren. Denn eine Auslegung des § 4 Abs. 1 SGB IV in diesem Sinne würde solche Personen begünstigen, die im Inland nicht oder überwiegend nicht versichert waren und andererseits in der gesetzlichen Unfallversicherung die Arbeitgeber sowie in den übrigen Bereichen der Sozialversicherung Arbeitgeber und Arbeitnehmer beitragsmäßig belasten. Eine derartige Regelung würde letztlich die einseitige Schaffung einer deutschen Versicherungspflicht im Ausland bedeuten, ohne dass dies durch die Aufrechterhaltung eines im Inland bestehenden Versicherungsverhältnisses gerechtfertigt wäre. Dies ließe sich aber mit der Souveränität der betroffenen Staaten kaum vereinbaren, zumal § 4 Abs. 1 SGB IV nicht nur für Deutsche, sondern auch für aus Deutschland entsandte Ausländer gilt. Auch wäre eine derart weite Auslegung der Vorschrift nicht damit in Einklang zu bringen, dass § 4 SGB IV als Ausnahme von dem in § 3 SGB IV geregelten Territorialprinzip im Zweifel eng auszulegen ist. Schließlich bedarf es in der gesetzlichen Unfallversicherung auch unter dem Gesichtspunkt eines umfassenden Schutzes der entsandten Arbeitnehmer keiner derart weiten Auslegung des § 4 Abs. 1 SGB IV, weil ein solcher Schutz über die freiwillige Versicherung nach § 140 Abs. 2 SGB VII erreicht werden kann (BSG, Urteil vom 10. August 1999 – B 2 U 30/98 R –, Rn. 24).
Im Übrigen sprechen auch die inhaltlich vergleichbaren Voraussetzungen der Entsendung in § 4 SGB IV und Art. 6 Abs. 1 DTSVA für eine entsprechende Auslegung:
Aus der Perspektive von Deutschland als Entsendestaat ist auch nach Art. 6 Abs. 1 DTSVA erforderlich, dass ein Beschäftigungsverhältnis mit einem in Deutschland ansässigen Unternehmen besteht, aus dem ein Arbeitnehmer vorübergehend zur Arbeitsleistung in die Türkei entsandt wird, um dort eine Arbeit für Rechnung des deutschen Unternehmens auszuführen. Hierbei ist wesentliches Merkmal des Entsendebegriffs, dass der Auslandseinsatz aus dem inländischen Beschäftigungsverhältnis „vorübergehend“, d. h. auf eine bestimmte Zeit begrenzt ist. Diese Voraussetzung findet sich vergleichbar – wenngleich hinsichtlich der Form der Begrenzung etwas präziser – auch in § 4 SGB IV und zwar in der Formulierung, dass „die Entsendung infolge der Eigenart der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt“ sein muss. Art. 6 Abs. 1 DTSVA lässt zwar offen, woraus sich dort die Voraussetzung „vorübergehend“ ergibt, allerdings sind neben den in § 4 SGB IV genannten Möglichkeiten „Eigenart der Beschäftigung“ und „vertragliche Vereinbarung“ kaum weitere Möglichkeiten denkbar (vgl. zur Auslegung des Entsendebegriffs für das „Deutsch-ungarische Sozialversicherungsabkommen“ Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Oktober 2009 – L 2 U 46/09 –, juris).
Die dargestellten Voraussetzungen einer Entsendung liegen nicht vor.
Es bestand weder ein inländisches Beschäftigungsverhältnis des Klägers mit der Arbeitgeberin unmittelbar vor Antritt seines Einsatzes in der Türkei am 28. April 2015, noch stand infolge der Eigenart der Beschäftigung fest oder war von vornherein vereinbart, dass die Beschäftigung bei der Arbeitgeberin nach dem Einsatz in der Türkei mit Hauptleistungspflichten im Inland weitergeführt werden sollte. Somit fehlt es an dem für eine Entsendung erforderlichen Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses im Geltungsbereich des SGB.
Zwar war der Kläger vor dem am 28. April 2015 begonnenen Einsatz in der Türkei, bei dem sich der streitgegenständliche Unfall ereignete, bereits mehrfach bei der Arbeitgeberin zeitlich befristet beschäftigt und in verschiedenen ausländischen Urlaubsorten eingesetzt. Hierbei handelte es sich jedoch immer um einzelne, jeweils zeitlich befristete Beschäftigungsverhältnisse, welche sich auf konkrete Arbeitseinsätze im Ausland bezogen, und nicht um ein durchgehend fortbestehendes Beschäftigungsverhältnis. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass sich der Kläger zwischen den einzelnen Beschäftigungsverhältnissen – insbesondere auch in der Zeit vor dem streitgegenständlichen Einsatz in der Türkei – arbeitsuchend melden sollte und gemeldet hat.
Es handelt sich demnach bei dem vorliegend streitgegenständlichen Beschäftigungsverhältnis um ein im Hinblick auf den Einsatz in der Türkei (und danach in Kroatien) geschlossenes Beschäftigungsverhältnis ohne vorherige Beschäftigung im Inland. Es kann im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob sich der Kläger bei Abschluss des zugrundeliegenden Arbeitsvertrages am 6. März 2015 – einen Tag vor Beginn seines Einsatzes in der Schweiz – noch in der Bundesrepublik Deutschland befand, da es jedenfalls an dem erforderlichen Nachweis fehlt, dass infolge der Eigenart der Beschäftigung feststand oder von vornherein vereinbart war, dass die Beschäftigung bei der Arbeitgeberin mit Hauptpflichten im Inland weitergeführt wird. Es erfolgte daher keine Entsendung im Rahmen eines bestehenden Beschäftigungsverhältnisses im Inland.
Die Formulierung des am 6. März 2015 geschlossenen Arbeitsvertrags ist insoweit widersprüchlich, als teilweise von „Beschäftigungsverhältnissen“ (vor § 1 und Überschrift § 1 des Arbeitsvertrages) und an anderen Stellen von lediglich einem Beschäftigungsverhältnis vom 28. April 2015 bis 14. Oktober 2015 (Kästchen über § 1 des Arbeitsvertrages) die Rede ist. Wenn man davon ausginge, dass es sich um getrennte Beschäftigungsverhältnisse handelt, so hätte das streitgegenständliche Beschäftigungsverhältnis ohnehin mit dem Ende des Türkeieinsatzes geendet, ohne dass Vertragspflichten des Klägers im Inland darüberhinaus überhaupt in Betracht gekommen wären. Aber auch wenn man von einem Fortbestand des Beschäftigungsverhältnisses über den Einsatz des Klägers in der Türkei hinaus bis zum Ende des Kroatieneinsatzes und damit einem einheitlichen Beschäftigungsverhältnis vom 28. April 2015 bis einschließlich 14. Oktober 2015 ausgeht, sind jedenfalls keine Hauptleistungspflichten des Klägers im Inland in der Zeit zwischen den beiden Auslandstätigkeiten, d.h. vom 26. Juli bis 15. August 2015, nachgewiesen.
Die Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag besteht in der Leistung der darin versprochenen Dienste nach Weisung des Arbeitgebers. Dies folgt aus §§ 611, 611a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Der Arbeitsvertrag gem. § 611a BGB ist ein Unterfall des Dienstvertrages gem. § 611 BGB, auf den neben den speziellen Vorschriften für Arbeitsverträge die (allgemeinen) Vorschriften über den Dienstvertrag (§§ 611-630 BGB) anwendbar sind (Fandel/Kock in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 8. Aufl, § 611a BGB (Stand: 03.07.2017), Rn. 275). Nach § 611 Abs. 1 BGB besteht die Hauptleistungspflicht des Dienstverpflichteten in der Leistung der versprochenen Dienste und die Hauptleistungspflicht des Dienstberechtigten in der Zahlung der vereinbarten oder gemäß § 612 Abs. 1, Abs. 2 BGB zu gewährenden Vergütung. Durch den Arbeitsvertrag nach § 611a BGB wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen.
Das streitgegenständliche Beschäftigungsverhältnis hat – ebenso wie sämtliche vorangegangenen Beschäftigungsverhältnisse zwischen dem Kläger und der Arbeitgeberin – lediglich Hauptleistungspflichten des Klägers im Ausland begründet, wie sich aus der Anlage 1 zum Arbeitsvertrag eindeutig ergibt. Weitere Leistungspflichten, die der Kläger nach dem Ende des Einsatzes in der Türkei im Inland zu erfüllen gehabt hätte, waren im Arbeitsvertrag nicht vereinbart, so dass insbesondere eine im Inland zu erbringende Hauptleistungspflicht nicht nachgewiesen ist.
Vielmehr findet sich im Arbeitsvertrag gar keine Vertragsbestimmung hinsichtlich von dem Kläger in der Zwischenzeit zwischen den Arbeitseinsätzen in der Türkei und Kroatien, d.h. vom 26. Juli bis 15. August 2015, zu erbringenden Leistungspflichten.
Auch eine den Arbeitsvertrag hinsichtlich dieser Zwischenzeit ergänzende Weisung des Arbeitgebers bzw. eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeberin und Kläger, dass dieser nach seiner Rückkehr aus der Türkei eine Tätigkeit im Inland ausüben sollte, gab es im Voraus, d.h. bis zum Beginn der Tätigkeit in der Türkei nicht. Vielmehr haben der Kläger und die Zeugen übereinstimmend angegeben, dass bei Abschluss des Arbeitsvertrages und auch zu Beginn der Beschäftigung gerade noch offen war, wie es in der Zwischenzeit nach dem Türkeieinsatz weitergehen sollte. Nach den Angaben des Zeugen F. bei seiner Vernehmung im Erörterungstermin am 19. April 2021 war der Umgang mit der Zwischenzeit zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht abschließend geklärt, sondern es sollte darüber gesprochen werden, wenn es soweit ist. In Betracht gekommen wäre nach seinen Angaben ein längerer Aufenthalt in der Türkei, eine frühere Reise nach Kroatien, ein anderer Einsatz oder eine vorübergehende Rückkehr nach Deutschland. Auch zum Umgang mit dem Urlaub des Klägers gab es nach Angaben des Zeugen keine Planung. Entsprechend hat auch der Kläger selbst bei seiner Befragung durch das Sozialgericht im Verhandlungstermin lediglich mehrere Möglichkeiten für die Zeiten zwischen dem Türkei- und dem Kroatieneinsatz vorgetragen, u.a. die Inanspruchnahme von Urlaub, aber keine konkrete Vereinbarung mit der Arbeitgeberin. In seiner Befragung vor dem Landessozialgericht hat er angegeben, dass er in den Pausen zwischen seinen Einsätzen durchbezahlt worden sei.
Vor dem Hintergrund des Inhalts des schriftlichen Vertrages und dieser sich nicht widersprechenden Angaben des Zeugen und des Klägers steht zur Überzeugung des erkennenden Senats fest, dass für die Zeit nach Beendigung des Einsatzes in der Türkei mit dem Kläger im Voraus keine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit Hauptleistungspflichten im Inland vereinbart war. Allein die theoretische arbeitsrechtliche Berechtigung des Arbeitgebers, dem Kläger Tätigkeiten im Inland z.B. in einer deutschen Urlaubsdestination zuzuweisen, reicht nicht als Nachweis dafür aus, dass eine solche Inlandsbeschäftigung des Klägers tatsächlich gewährleistet war und nicht eine der anderen von dem Zeugen F. genannten Möglichkeiten gewählt worden wäre. Dies auch vor dem Hintergrund, dass es nach den eigenen Angaben des Klägers im Erörterungstermin nicht seiner Intention entsprochen hätte, in Deutschland eingesetzt zu werden. Von einem gewissen Mitspracherecht des Klägers bzgl. der jeweiligen Einsatzorte ist nach der tatsächlichen Gestaltung der arbeitsvertraglichen Beziehung, wie sie sich insbesondere aus den Angaben des Klägers und der Zeugen im Erörterungstermin ergibt, durchaus auszugehen. Im Übrigen hätte auch eine Inanspruchnahme von Urlaub nicht als Erfüllung einer Hauptpflicht des Klägers im Inland gezählt. Die Entsendevoraussetzungen im Sinne von Art. 6 DTSVA lagen somit nicht vor.
Das tatsächliche Fehlen der Entsendevoraussetzungen kann auch nicht durch die am 6. Mai 2015 von der AOK Hessen ausgestellte Entsendebescheinigung überwunden/geheilt werden. Denn diese bindet die Beklagte und auch das Gericht nicht, da die Bescheinigung auf falschen Angaben beruht und die Voraussetzungen einer Entsendung tatsächlich nicht vorliegen.
Durch die Entsendebescheinigung erklärt der zuständige Träger des Staates, in dem das den Arbeitnehmer entsendende Unternehmen seinen Sitz hat, dass sein eigenes nationales System der sozialen Sicherheit auf die entsandten Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung anwendbar bleiben soll. Hierdurch sollen „Doppelversicherungen“ vermieden werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist innerhalb der EU der zuständige Sozialleistungsträger des anderen EU-Mitgliedstaates, in den der Arbeitnehmer entsandt wird, an diese Bescheinigung grundsätzlich gebunden, so dass er den Arbeitnehmer nicht zusätzlich seinem eigenen nationalen System der sozialen Sicherung unterstellen darf (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000; Aktenzeichen: C-202/97; SG Hamburg, Urteil vom 25. August 2006 – S 40 U 147/04 –, Rn. 65, juris). Nach der jahrelangen Rechtsprechung des EuGH galt diese Bindungswirkung für den Empfängerstaat uneingeschränkt (EuGH v. 10.02.2000 - C-202/97 - ECLI:EU:C:2000:75 - Fitzwilliam; EuGH v. 30.03.2000 - C-178/97 - ECLI:EU:C:2000:169 - Barry Banks; EuGH v. 26.01.2006 - C-2/05 - ECLI:EU:C:2006:69 - Herbosch Kiere NV; vgl. jedoch EuGH v. 09.09.2015 - C-72/14 - ECLI:EU:C:2015:564 mit Anmerkung Padé, jurisPR-SozR 20/2015 Anm. 1) und die deutschen Gerichte sind dieser Rechtsprechung zunächst weitgehend gefolgt (Dietrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl., § 4 SGB IV (Stand: 17.06.2022), Rn. 23 m.w.N.). Inzwischen hat der EuGH seine sehr weitgehende Rechtsprechung zur uneingeschränkten Verbindlichkeit von Bescheinigungen jedoch etwas aufgeweicht (vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2015, C-72/14) und hält eine Überprüfung der Entsendebescheinigung insbesondere auf offenkundige Fehler für zulässig. Auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird in der Konsequenz keine uneingeschränkte Bindungswirkung der Entsendebescheinigung (mehr) angenommen (BSG Urteil vom 29. Juni 2016 - B 12 R 8/14 R - juris Rn. 27 mit Anmerkung Pietrek, jurisPR-SozR 13/2017 Anm. 1).
Entsendebescheinigungen von Abkommensstaaten wird inzwischen vielfach ähnliche Wirkung beigemessen wie Entsendebescheinigungen innerhalb der EU (BSG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - B 14 KG 1/99 R - juris Rn. 19; LSG Bayern, Urteil vom 23. Januar 2007 - L 5 KR 124/05 - juris Rn. 21 und LSG Bayern, Urteil vom 27. Februar 2007 - L 5 KR 32/04 (Polen), anders aber Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26. Oktober 2009 - L 2 U 46/09 bzgl. Entsendebescheinigungen im Rahmen des „Deutsch-ungarischen Sozialversicherungsabkommen“ juris Rn. 60 ff. unter Bezug auf Entscheidungen des BGH vom 24. Oktober 2007 (1 StR 160/07 und 1 StR 189/07).
Vorliegend ist jedoch nicht die Frage der Bindungswirkung der von der AOK ausgestellten deutschen Entsendebescheinigung für die Türkei relevant, sondern die der Bindungswirkung innerstaatlich zwischen den verschiedenen Sozialversicherungsträgern in der Bundesrepublik Deutschland als Entsendestaat.
Die Reichweite der Bindungswirkung einer Entsendebescheinigung zwischen den Sozialversicherungsträgern desselben Mitgliedstaates ist ebenfalls umstritten.
Vertreten wird insoweit, dass die Bescheinigung, die von einer Krankenkasse ausgestellt wird, zwar die Krankenkasse bindet, die sie ausgestellt hat, nicht jedoch den Träger der Unfallversicherung im selben Staat (SG Hamburg, Urteil vom 25. August 2006 - S 40 U 147/04 - juris Rn. 62). D.h. die Entsendebescheinigung begründet keine Versicherungsflicht innerhalb des nationalen Sozialversicherungssystems, wenn die Voraussetzungen tatsächlich nicht vorliegen. Hierfür spricht, dass Unfallversicherungsträger und Krankenversicherung keine Funktionseinheit bilden. Die Gegenansicht befürwortet eine erweiternde Auslegung von § 4 SGB IV als Kompetenznorm im Sinne von § 28h Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 SGB IV für die Feststellung auch der Unfallversicherungspflicht (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28. Februar 2017 - L 4 KR 258/15 - juris Rn. 23) und begründet dies damit, dass den Krankenkassen in ihrer Funktion als Einzugsstelle unter anderem die Aufgabe übertragen ist, in gesetzlicher Verfahrens- und Prozessstandschaft anstelle der hierfür originär zuständigen Träger über die Versicherungspflicht zu entscheiden (Dietrich in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl., § 4 SGB IV (Stand: 17.06.2022), Rn. 25). Allerdings ergibt sich gerade aus § 28h Abs. 2 SGB IV, dass die Krankenkasse als Einzugsstelle über die Versicherungspflicht und Beitragshöhe nur in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung entscheidet. § 28h SGB IV findet in der Unfallversicherung keine Anwendung (Scheer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl., § 28h SGB IV (Stand: 14.04.2022), Rn. 40).
Vor diesem Hintergrund dürfte mehr gegen als für eine innerstaatliche Bindung des Unfallversicherungsträgers an eine von der Krankenkasse ausgestellte Entsendebescheinigung sprechen. Dies kann vorliegend im Ergebnis jedoch dahingestellt bleiben, da der Entsendebescheinigung – im Hinblick auf deren Funktion, die Zuordnung zu einer Rechtsordnung zwischen zwei Staaten zu regeln – auch im Verhältnis der Sozialversicherungsträger innerhalb des Entsendestaates nach Auffassung des erkennenden Senats keine weitergehende Bindungswirkung zukommen kann, als im Verhältnis zu dem Staat, in den der Arbeitnehmer entsandt wird. D.h. es besteht auch im Verhältnis der Sozialversicherungsträger im selben Staat jedenfalls dann keine Bindungswirkung an die Entsendebescheinigung, wenn diese offensichtlich unrichtig ist.
Vorliegend ist die am 6. Mai 2015 von der AOK Hessen ausgestellte Entsendebescheinigung offensichtlich unrichtig, da sie auf falschen Angaben der Arbeitgeberin im Antragsformular beruht.
In seinem auf den 14. April 2015 datierenden Antrag bzgl. der „Entsendung vom 28. April 2015 bis 25. Juli 2015“ hat die Arbeitgeberin angegeben, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger seit dem 27. März 2015 bestehe; Angaben zur Befristung des Arbeitsvertrages enthält der Antrag nicht. Tatsächlich gab es nach den vorliegenden Unterlagen kein am 27. März 2015 beginnendes Beschäftigungsverhältnis des Klägers mit der Arbeitgeberin, in dessen Rahmen der Kläger am 28. April 2015 in die Türkei entsandt worden wäre. Es wurde vielmehr zur fraglichen Zeit zunächst ein Beschäftigungsverhältnis vom 7. März 1015 bis 15. April 2015 (Einsatzort Schweiz) geschlossen, welches folglich beendet war, bevor der Kläger das streitgegenständliche Beschäftigungsverhältnis am 28. April 2015 (Einsatzort Türkei) begann. Nach Angaben der Arbeitgeberin war der Kläger in der Zwischenzeit, d.h. vom 16. bis 27. April 2015 arbeitsuchend gemeldet. Somit lag keinesfalls ein durchgehendes Beschäftigungsverhältnis vor, aus dem der Kläger hätte entsandt werden können. Da – wie bereits ausgeführt – auch keine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über die Zeit der Entsendung hinaus im Inland vereinbart und folglich auch nicht im Antrag angegeben war, lagen die Voraussetzungen für die Erteilung der Entsendebescheinigung offensichtlich nicht vor. Der Antrag suggeriert hingegen, dass der Kläger aus einem bereits im Inland bestehenden Arbeitsverhältnis vorübergehend im Ausland eingesetzt wird, und offenbart auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass es keine Vereinbarung über eine Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses nach dem Ende der Auslandstätigkeit im Inland gab. Die Bescheinigung, die ohne Vorlage des Arbeitsvertrages allein anhand des Antragsformulars von der AOK ausgestellt wurde, basiert damit auf den fehlerhaften Angaben der Arbeitgeberin und ist daher weder für die Beklagte noch für das Gericht bindend.
Auch aus Vertrauensschutzgründen ist eine Bindungswirkung der Entsendebescheinigung vorliegend nicht geboten, da diese erst am 6. Mai 2015 ausgestellt wurde, so dass der Kläger im Zeitpunkt eines Unfalls am 1. Mai 2015 noch gar nicht auf ihre Gültigkeit hätte vertrauen können.
Eine Selbstbindung der Beklagten durch eine etwaige mündliche Zusage, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen, ist nicht eingetreten, da hierin mangels Schriftform jedenfalls keine wirksame Zusicherung nach § 34 Abs. 1 SGB X liegt.
Auch die Bescheinigung der Beklagten über „Anspruch auf Sachleistungen bei Arbeitsunfall“ vom 4. Mai 2015 mit der Angabe, dass es sich bei dem Ereignis vom 1. Mai 2015 um einen Arbeitsunfall handelt, konnte keine Wirkung zugunsten des Klägers entfalten, da sie laut Erklärung des Klägers nicht zu dessen Kenntnis gelangt ist, so dass ein möglicherweise darin zu sehender Verwaltungsakt mangels Bekanntgabe gegenüber dem Kläger nicht wirksam geworden ist (§ 39 SGB X).
Ein Anspruch aufgrund einer sog. Formalversicherung ist ebenfalls nicht gegeben.
Dieses Institut ist von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes unter den allgemein gültigen Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes entwickelt worden und unterstellt unter bestimmten engen Voraussetzungen eine nicht versicherungspflichtige Person dem vollen sozialversicherungsrechtlichen Schutz (vgl. die Zusammenfassung zum Sonderfall Formalversicherung unter dem Recht der RVO und nach dem SGB VII von Kruschinsky in: Becker u.a., Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, § 2 Rn. 907 ff.). Die Formalversicherung greift ein, wo das Gesetz das Versicherungsverhältnis mit einer Mitgliedschaft zum Versicherungsträger verbindet, wie bei der Unternehmerversicherung in der Unfallversicherung; sie kommt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aber auch ohne formale Mitgliedschaft zwischen einer versicherungspflichtigen Person und einer Berufsgenossenschaft zur Anwendung, wenn der Unternehmer diese Person mit in die pauschalen Lohnnachweise aufgenommen hat und für sie entsprechende Beiträge an die Berufsgenossenschaft abgeführt worden sind. Letzteres gilt aber mit der Einschränkung, dass dem Unfallversicherungsträger der Haftungsgrund zurechenbar sein muss in der Hinsicht, dass er diesen Rechtsfehler in seinem Verantwortungsbereich begangen und ihn auch im Rahmen seiner Aufklärungs- und Ermittlungspflicht hätte vermeiden können. Dies ist der Fall, wenn die an sich nicht versicherungspflichtige Person mit Wissen oder fahrlässiger Unkenntnis der Organe der Unfallversicherungsträger in den Lohnnachweisen mit aufgezählt und die Unfallversicherungsträger über längere Zeit Beiträge nach Maßgabe dieser Lohnnachweise erhoben haben, ohne ihrerseits irgendwelche Erhebungen und Feststellungen zu veranlassen (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 1999 – B 2 U 3 98 R – juris; HLSG, Beschluss vom 5. Dezember 2011 – L 3 U 174/10 –, Rn. 35, juris).
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Insbesondere ist bereits nicht nachgewiesen, dass die Arbeitgeberin Beiträge für den Kläger zur gesetzlichen Unfallversicherung entrichtet hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG. Insbesondere liegt kein Revisionsgrund im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG vor. Auf die Frage, ob eine innerstaatliche Bindungswirkung der von der Krankenkasse ausgestellten Entsendebescheinigung für den Unfallversicherungsträger besteht, kommt es im vorliegenden Fall aus tatsächlichen Gründen im Ergebnis nicht an, da die Entsendebescheinigung aufgrund ihrer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit ohnehin keine Bindungswirkung entfalten konnte.