I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 4. Dezember 2019 aufgehoben.
Die Beigeladene wird verurteilt, der Klägerin im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Dezember 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe und im Zeitraum 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beigeladene trägt 9/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017, insbesondere um das Bestehen eines Leistungsausschlusses für die Klägerin als EU-Ausländerin.
Die im Jahr 1993 geborene Klägerin ist lettischer Staatsangehörigkeit. Sie hatte nach ihren Angaben in Lettland zuletzt als Verkäuferin gearbeitet und dabei einen Monatslohn in Höhe von 360,- Euro erzielt. Sie reiste am 20. Oktober 2015 ins Bundesgebiet ein. Sie war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Nach eigenen Angaben war es ihr ohne ihre Eltern, die bereits seit dem Jahr 2010 in Deutschland wohnen, in Lettland langweilig geworden. Sie sei zum Studium nach Deutschland gekommen und habe zunächst bei ihren Eltern wohnend Deutsch lernen wollen. Von ihrer Schwangerschaft habe sie erst in Deutschland erfahren. Ihr Sohn C. wurde 2016 geboren.
Die Eltern der Klägerin standen im Jahr 2015 im aufstockenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin wurde von der Beklagten zunächst in den Bewilligungsbescheiden der Bedarfsgemeinschaft zugerechnet. Die Eltern verfügten seinerzeit über ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosengeld nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) in Höhe von insgesamt ca. 1.300 - 1.800 Euro monatlich. Den drei Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft wurden mit Bescheid vom 4. Januar 2016 ergänzende Leistungen für den Zeitraum Dezember 2015 bis Mai 2016 gewährt in Höhe zwischen 55,51 Euro bis 403,94 Euro.
Am 7. März 2016 stellte die Klägerin dann bei der Beklagten einen „Neuantrag“ auf Leistungen mit der Begründung, sie habe ab dem 1. April 2016 eine eigene Wohnung angemietet, werde also aus dem gemeinsamen Haushalt mit den Eltern ausziehen. Daraufhin erließ die Beklagte noch am 7. März 2016 einen Änderungsbescheid, mit dem die Klägerin ab April 2016 nicht mehr in der Bedarfsgemeinschaft der Eltern berücksichtigt wurde. Mit Bescheid vom 17. März 2016 wurde der Leistungsantrag der Klägerin abgelehnt, weil die Klägerin dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (Leistungsakte [LA] S. 39).
Mit Widerspruch vom 29. März 2016 machte die Klägerin geltend, der genannte Leistungsausschluss greife bei ihr nicht ein. Sie könne von ihren Eltern ein Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) ableiten, da diese ihr Unterhalt gewährten. Bislang habe sie bei den Eltern kostenfrei gelebt, diese unterstützten sie auch nach dem Auszug mit monatlich 100,- Euro. Sie sei zudem auch schon in Lettland von den Eltern durch Überweisungen auf ihr dortiges Konto unterstützt worden. Sie legte Belege für diverse Überweisungen der Eltern auf ihr Konto nach Lettland im Zeitraum Januar bis September 2015 vor. Diese schwanken stark in der Höhe, erreichen aber einen monatlichen Durchschnittsbetrag i.H.v. ca. 43,- Euro. Zudem reichte sie auch Belege für entsprechende Überweisungen in der Zeit nach ihrer Einreise ein, woraus sich ein durchschnittlicher Monatsbetrag i.H.v. ca. 80 Euro ergibt.
In einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt (Az. S 21 AS 411/16 ER) hat die Klägerin erstritten, dass der Beklagte (dortige Antragsgegner) ihr vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 20. April 2016 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens aber bis zum 31. August 2016, zu gewähren hat. Im Übrigen ist ihr Antrag abgelehnt worden. Hierauf hat der Beklagte in Ausführung des sozialgerichtlichen Beschlusses vom 15. Juni 2016 mit Bescheid vom 27. Juni 2016 (LA S. 200) der Klägerin und ihrem im Mai geborenen Sohn Grundsicherungsleistungen vorläufig bewilligt und die für die Aufwendungen für Unterkunft bestimmten Beträge direkt an den Vermieter ausgezahlt. Bei der Bewilligung wurden Unterhaltszahlungen der Mutter der Klägerin in Höhe von 100,- Euro, ab Geburt des Sohnes Einkommen aus Elterngeld in Höhe von 60,- Euro und Kindergeld in Höhe von 190,- Euro berücksichtigt.
Am 4. August 2016 stellte die Klägerin einen Weiterbewilligungsantrag ab 1. September 2016 für sich und eine weitere Person (LA S. 250) und wurde mit Schreiben des Beklagten aufgefordert, Nachweise über alle Unterhaltszahlungen ihrer Eltern ab 20. April 2016 bis zum heutigen Zeitpunkt vorzulegen (LA S. 257).
In einem weiteren einstweiligen Rechtsschutzverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt wurde der Beklagte (dortige Antragsgegner) im Wege der einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 17. Oktober 2016 verpflichtet, der Klägerin (dortigen Antragstellerin) vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 4. Oktober 2016 bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens aber bis zum 28. Februar 2017 zu gewähren.
Der Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 17. März 2016 wurde durch den Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 6. September 2016 zurückgewiesen (LA S. 362). Es bestehe kein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige der Eltern, da durch die sehr geringen Überweisungen der Eltern nach Lettland dort kein Abhängigkeitsverhältnis bestanden habe. Dies setze der Tatbestand des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU aber gerade voraus. Dieser Widerspruchsbescheid befasst sich auch mit dem Antrag vom 4. August 2016, ohne dass zu diesem Antrag zuvor ein Bescheid ergangen wäre. In dem Widerspruchsbescheid heißt es (S.6): „Auch mit dem Antrag vom 04.08.2016 (Weiterbewilligungsantrag“ (ab 09/16)) haben sich keine Änderungen derart ergeben, dass nunmehr Leistungen zu bewilligen wären. Es liegt keine Änderung des Sachverhalts vor, da es vorliegend lediglich auf den Zeitpunkt der Einreise ankommt.“
Die Klägerin hat am 4. Oktober 2016 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben. Sie hat vorgetragen, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife bei ihr nicht ein, da sie von den Eltern über § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige ableiten könne. Sie sei in Lettland auch über die bereits nachgewiesenen Überweisungen hinaus von den Eltern unterstützt worden. So hätten sie die Eltern dort mehrmals jährlich besucht und bei der Gelegenheit Lebensmittel für sie eingekauft und andere Anschaffungen finanziert. Des Weiteren sei die Miete für ihre Wohnung in Lettland von den Eltern getragen worden. Das diesbezügliche Geld hätten die Eltern dem zeitweilig in derselben Wohnung lebenden Bruder zugewandt, der dann die Miete für beide Geschwister hiervon beglichen habe. Auch nach ihrer Einreise nach Deutschland hätten die Eltern sie weiterhin in erheblichem Umfang unterstützt. Neben den Überweisungen hätten sie ihr und dem neugeborenen Kind Sachzuwendungen zukommen lassen.
Sie hat beantragt, den Bescheid vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2016 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017 zu gewähren.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat vorgetragen, die nachgewiesene Unterstützung in Lettland sei nicht ausreichend, um ein Abhängigkeitsverhältnis der Klägerin zu den Eltern darzutun. Hierzu seien die überwiesenen Beträge zu gering. Die angeblich über den Bruder geflossenen Mietzahlungen seien erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen und nicht weiter unter Beweis gestellt worden.
Am 17. Februar 2017 hat die Klägerin erneut einen Weiterbwilligungsantrag gestellt (LA S. 876). Dieser ist mit Bescheid vom 9. März 2017 für sie und alle Familienangehörigen ab 1. März 2017 abgelehnt worden (LA S. 702), der vorausgehende Zeitraum wurde nicht beschieden. Hiergegen legte die Kläger Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 7. April 2017 (LA S. 723) wurde der Antrag vom 17. Februar auch für die Zeit ab 1. Februar 2017 abgelehnt und der Widerspruch zurückgewiesen. Hiergegen ist ein Verfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt (S 21 AS 412/17) anhängig, in dem die Klägerin Leistungen ab März 2017 begehrt. Das Verfahren ist ruhend gestellt bis zum Abschluss des vorliegenden Verfahrens (Gerichtsakte [GA] S. 212).
Das Sozialgericht hat in der mündlichen Verhandlung am 2. Oktober 2019 Beweis erhoben durch Vernehmung der Mutter der Klägerin, D. A., als Zeugin. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen. Der in der Verhandlung geschlossene Vergleich ist durch den Beklagten widerrufen worden.
Das Sozialgericht hat nach erteiltem Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne (weitere) mündliche Verhandlung der Klage mit Urteil vom 4. Dezember 2019 stattgegeben. Es hat den Bescheid vom 17. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2016 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017 zu gewähren.
Zur Begründung hat es ausgeführt, die zulässige Klage sei begründet. Der Bescheid vom 17. März 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2016 sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten. Sie habe Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017.
Streitgegenständlich seien allein die Leistungen im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017, da für die Zeit ab dem 1. März 2017 neue Bescheide ergangen seien.
Leistungen nach dem SGB II erhielten Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht hätten, 2. erwerbsfähig seien, 3. hilfebedürftig seien und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hätten (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).
Die Klägerin habe im streitgegenständlichen Zeitraum diese Voraussetzungen erfüllt. Insbesondere sei sie hilfebedürftig gewesen. Sie habe ihren Lebensunterhalt in dieser Zeit überwiegend durch vorläufige Leistungen, die ihr gerichtlich im Rahmen einstweiliger Anordnungen zugesprochen worden seien, finanziert. Durch Beschluss vom 15. Juni 2016 (S 21 AS 411/16 ER) seien ihr vorläufige Leistungen für den Zeitraum 20. April bis 31. August 2016, durch Beschluss vom 17. Oktober 2016 (S 21 AS 1017/16 ER) für den Zeitraum 4. Oktober 2016 bis 28. Februar 2017 zugesprochen worden. Ergänzend habe sie Geld- und Sachzuwendungen ihrer Eltern erhalten. Diese hätten jedoch selbst im ergänzenden SGB II – Leistungsbezug gestanden und seien daher nicht in der Lage gewesen, der Klägerin Zuwendungen in einer Höhe zukommen zu lassen, die ihren grundsicherungsrechtlichen Bedarf hätte decken können.
Die Klägerin sei auch nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in der damaligen Fassung vom Leistungsbezug ausgeschlossen gewesen. Denn die Klägerin habe nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche gehabt, sondern darüber hinaus ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU genossen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU seien unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt solche Familienangehörige, die den in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürgern nachziehen. Die Mutter der Klägerin sei im o.g. Zeitraum freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmerin gemäß § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU gewesen. Die Klägerin sei ins Bundesgebiet zugezogen. Eine gemeinsame Wohnung sei nicht zwingende Voraussetzung des abgeleiteten Freizügigkeitsrechts, so dass der spätere Auszug aus der elterlichen Wohnung hier unerheblich sei.
In gerader aufsteigender oder absteigender Linie Verwandte der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen seien gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, wenn ihnen von diesen Personen Unterhalt gewährt werde.
Die Klägerin erfülle auch diese Voraussetzung. Sie habe insbesondere für den o.g. Zeitraum nach der Einreise die fortlaufende Unterstützung durch ihre Mutter bzw. Eltern nachgewiesen. Nachdem sie nach Deutschland gekommen gewesen sei, sei sie umgehend bei ihren Eltern in den Haushalt aufgenommen und durch die Übernahme von Kosten für einen Deutschkurs unterstützt worden. Auch nachdem die Beklagte die laufenden Leistungen für sie eingestellt habe, seien zunächst die Eltern (also insbesondere die erwerbstätige Mutter) für den existenziellen Lebensunterhalt der Klägerin aufgekommen. Nach vorläufiger Wiederaufnahme der Leistungsgewährung sei sie weiterhin fortlaufend mit einem Betrag i.H.v. 100,- Euro monatlich und Sachzuwendungen, beispielsweise durch Übernahme der Mietkaution für die eigene Wohnung, unterstützt worden. Aus alldem folge die grundsätzliche Bereitschaft der Eltern zur Beteiligung am Unterhalt der Klägerin. Dass die Mutter hierzu trotz eigenen ergänzenden SGB II-Bezuges auch in beschränktem Umfang in der Lage gewesen sei, erkläre sich daraus, dass ihr aufgrund der Freibetragsregelungen ein nicht unerheblicher Teil ihres Erwerbseinkommens verblieben sei.
Dass die Mutter der Klägerin keinen Unterhalt in einer Höhe gewährt habe, der deren grundsicherungsrechtlichen Bedarf abdeckte, stehe der abgeleiteten Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin nicht entgegen. Das Gesetz fordere im Lichte des in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Schutzes der Familie keine ausreichende Unterhaltsgewährung. Vielmehr genüge auch eine nicht bedarfsdeckende Unterhaltszahlung (vgl. LSG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 15. April 2015 - L 7 AS 428/15 B ER; Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl, 3 FreizügG Rn. 40). Der Wortlaut der Norm enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Unterhaltsgewährung nur relevant sei, wenn es sich um einen bedarfsdeckenden Unterhalt handele. Anders als im Falle des § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, der für Familienangehörige nicht erwerbstätiger Unionsbürger im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU gelte, sei eine Bedarfsdeckung danach gerade nicht Voraussetzung für das Freizügigkeitsrecht (in diesem Sinne auch BVerwG vom 20. Oktober 1993 - 11 C 1/93; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Mai 2015 – L 7 AS 372/15 B ER, L 7 AS 373/15 B –, Rn. 13, juris).
In der bisherigen bundesdeutschen Rechtsprechung letztlich ungeklärt sei die Frage, ob für ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis des Familienangehörigen zu den in § 2 Abs. 2 Nr.1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen auch bereits vor der Einreise ins Bundesgebiet bestanden haben müsse. Allerdings deuteten die Vorgaben des EuGH in diese Richtung, da dort im Hinblick auf die dem Freizügigkeitsgesetz/EU zugrundeliegenden Richtlinien bereits entschieden worden sei, dass unter „Unterhalt [gewährt]” zu verstehen sei, dass das Familienmitglied eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Gemeinschaftsangehörigen bzw. Arbeitnehmers der materiellen Unterstützung dieses Gemeinschaftsangehörigen oder dessen Ehegatten bedürfe, um seine Grundbedürfnisse in seinem Herkunftsstaat in dem Zeitpunkt zu decken, in dem er beantrage, dem Gemeinschaftsangehörigen zu folgen (EuGH (Große Kammer), Urteil vom 9. Januar 2007 - C-1/05 Yunying Jia/Migrationsverk).
Nach Auffassung der Kammer könne diese Rechtsfrage aber vorliegend offenbleiben. Denn zum Zeitpunkt der Einreise der Klägerin habe ein materieller Unterstützungsbedarf durch die Eltern im Heimatland bestanden. Sie sei zwar nach eigenen Angaben bis dahin in Lettland als Verkäuferin beschäftigt gewesen und habe hieraus einen Monatsverdienst i.H.v. 360,- Euro erzielt. Zusätzlich habe sie jedoch regelmäßig der Unterstützung durch Überweisungen ihrer Eltern aus Deutschland bedurft. Diesbezüglich ergebe sich aus den vorgelegten Kontoauszügen für den Zeitraum vor der Einreise ein monatlicher durchschnittlicher Überweisungsbetrag i.H.v. ca. 43,- Euro. Auch wenn man dies trotz der geringeren Lebenshaltungskosten in Lettland noch als unerheblich ansehen wollte, so unterstützten die Eltern die Klägerin jedenfalls zusätzlich im Rahmen ihrer Besuche dort durch die Anschaffung von Lebensmitteln und sonstiger alltäglicher Gebrauchsgüter in nicht geringem Umfang. Dies hätten sowohl die Klägerin als auch ihre Mutter in der mündlichen Verhandlung vom 2. Oktober 2019 glaubhaft erklärt. Darüber hinaus könne hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Klägerin bei ihrem Zuzug bereits schwanger gewesen sei. Es sei also absehbar gewesen, dass sie ihren Lebensunterhalt in Lettland in naher Zukunft nicht mehr in vergleichbarem Umfang durch eigene Erwerbsarbeit würde sicherstellen können. Von der Klägerin zu erwarten, vor Klärung ihrer Situation zunächst den weiteren Fortgang der Schwangerschaft abzuwarten und erst eine akute weitere Unterstützungsbedürftigkeit eintreten zu lassen, würde aus Sicht der Kammer die Verwirklichung des abgeleiteten Freizügigkeitsrechts als Familienangehörige unzumutbar erschweren. An der zukünftig absehbar gesteigerten Unterstützungsbedürftigkeit der Klägerin änderte sich auch nichts dadurch, dass sie ggf. bei der Einreise noch keine Kenntnis von der Schwangerschaft gehabt habe.
Nicht mehr entscheidungserheblich sei hier daher im Ergebnis, ob die Mutter darüber hinaus die Miete für die Wohnung der Klägerin in Lettland ganz oder teilweise übernommen habe. Allerdings habe die Mutter nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, die Miete über den Umweg des weiteren Sohns in Lettland gezahlt zu haben.
Der Klägerin hätten daher hier im o.g. Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dem Grunde nach zugestanden. Die Beklagte werde hinsichtlich der Höhe nunmehr nach entsprechenden Ermittlungen einen endgültigen Bescheid zu erlassen haben.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 17. Dezember 2019 zugestellte Urteil am 2. Januar 2020 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.
Er hält an seiner Rechtauffassung fest, wonach sich die Klägerin auf § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FreizügG/EU nur berufen könne, wenn ihr bereits in dem Zeitpunkt, in dem sie Lettland verlassen habe, ein Abhängigkeitsverhältnis zu der freizügigkeitsberechtigten Person, ihrer Mutter, bestanden habe. Dies sei nicht nachgewiesen. Es sei erstmals im Gerichtstermin vor dem Sozialgericht vorgetragen worden, dass die Mutter der Klägerin schon in Lettland Unterhalt gewährt habe. Von den behaupteten Mietzahlungen der Mutter sei in vier zuvor geführten Eilverfahren nicht die Rede gewesen, obwohl auch aus den hierzu ergangenen Beschlüssen ersichtlich sei, dass es für den Leistungsanspruch auf etwaige Unterhaltszahlungen aus Deutschland ankomme. Für die Angabe, die Klägerin habe in Lettland einen Monatsverdienst von 360,- Euro gehabt, liege kein Nachweis vor. Eine wirtschaftliche Abhängigkeit von der Mutter vor der Einreise nach Deutschland sei nicht nachgewiesen. Mangels Freizügigkeitsrecht greife der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 4. Dezember 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die – anwaltlich vertretene – Klägerin hat sich zum Verfahren in der Berufung in keiner Weise eingelassen und keinen Antrag gestellt.
Auf die Aufforderung des Gerichts vom 22. Dezember 2020 und 3. November 2021 (GA Bl. 144, 205), Nachweise zum Monatsverdienst der Klägerin aus ihrer Tätigkeit als Verkäuferin in Lettland vorzulegen (vorgetragen ist ein Verdienst Höhe von 360,- Euro), zu der Wohnsituation in Lettland in den Jahren 2014/2015, als der Bruder nach dem Vortrag der Klägerin aus der Wohnung schon ausgezogen war, vorzutragen, insbesondere dazu, ob die Klägerin in dieser Wohnung allein oder mit einem Partner bzw. dem Vater des in Deutschland geborenen Kindes zusammenlebte, zum Einkommen der Klägerin in Lettland in den Jahren 2014/2015, bei einem Zusammenleben mit einem Partner bzw. dem Vater des in Deutschland geborenen Kindes auch zu dessen Einkommen substantiiert vorzutragen, Nachweise zu den Mietzahlungen durch die Mutter vor Einreise der Klägerin nach Deutschland vorzulegen (Überweisungsbelege), hat die anwaltlich vertretene Klägerin trotz des Hinweises auf § 106a SGG und zweimalige Fristsetzung nicht geantwortet und keinerlei Nachweise vorgelegt.
Das Gericht hat die Stadt Offenbach als zuständigen Leistungsträger nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) mit Beschluss vom 17. August 2021 beigeladen, weil sie als leistungspflichtig in Betracht kommt (GA Bl.148).
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Sie hat vorgetragen, auch bei Verneinung eines Anspruchs der Klägerin nach dem SGB II ergebe sich auch bei ermessensfehlerfreier Entscheidung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII kein Anspruch der Klägerin. Eine Ermessensreduktion auf Null liege im Fall der Klägerin erkennbar nicht vor, da sie erst kurz vor dem streitgegenständlichen Zeitraum nach Deutschland eingereist sei. Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII dürften ebenfalls nicht in Betracht kommen, da bei der Klägerin kein Ausreisewille gegeben gewesen und sie in Deutschland verblieben sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der dem Gericht in elektronischer Form vorliegende Leistungsakte ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und auch nach § 144 SGG statthafte Berufung des Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, wohl aber einen Anspruch gegen die Beigeladene.
I. Streitgegenständlich ist der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 6. September 2016, gegen den die Klägerin vor dem Sozialgericht Klage erhoben hat mit dem Begehren, ihr Leistungen im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Februar 2017 zu gewähren. Da die – schon bei Klageerhebung anwaltlich vertretene – Klägerin keine Leistungen für den mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Sohn eingeklagt hat, ist dieser nicht Beteiligter dieses Verfahrens.
Der Widerspruchsbescheid vom 6. September 2016 betrifft zum einen den Antrag der Klägerin vom 7. März 2016, der mit Bescheid des Beklagten vom 17. März 2016 abgelehnt wurde. Zum anderen befasst sich der Widerspruchsbescheid aber auch mit dem Antrag der Klägerin vom 4. August 2016, der von dem Beklagten dahingehend ausgelegt wurde, dass die Klägerin Leistungen ab September 2016 beantrage. Auf diesen Antrag ist kein Bescheid ergangen. Es erscheint nach über fünf Jahren des gerichtlichen Verfahrens allerdings nicht tunlich, den Beklagten dazu zu verurteilen, den Antrag vom 4. August 2016 noch förmlich zu bescheiden. Dies wäre reine Förmelei, weil in dem Widerspruchsbescheid vom 6. September 2016 klar zum Ausdruck kommt, dass auch der Antrag vom 4. August 2016 für den Zeitraum September 2016 abgelehnt werde.
Dass der Widerspruchsbescheid vom 6. September 2016 entgegen § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II über den Antrag vom 4. August 2016 nur für den Zeitraum ab September 2016 entschieden hat, führt vorliegend nicht dazu, dass über den Zeitraum August 2016 noch zu entscheiden wäre. Ein Weiterbewilligungsantrag bildet eine zeitliche Zäsur, die den streitigen Zeitraum begrenzt (zuletzt BSG, Urteil vom 26. November 2020 – B 14 AS 13/19 R –, juris Rn. 9). Da hier über einen Monat (August 2016), der vom Antrag erfasst wurde, kein neuer Bescheid vorliegt, ist davon auszugehen, dass dieser Monat mangels Zäsurwirkung von nachfolgendem Antrag und Bescheid vorliegend noch vom Ablehnungsbescheid vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. September 2016 erfasst wird.
Da auf den weiteren Antrag der Klägerin vom 17. Februar 2017 zunächst ein ablehnender Bescheid vom 9. März 2017 ergangen ist, der nur den Zeitraum ab 1. März 2017 behandelte, im hier nicht streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid vom 7. April 2017 aber dann eine Ablehnung schon ab 1. Februar 2017 ausgesprochen wurde, ist streitgegenständlich hier nur der Zeitraum 1. April 2016 bis 31. Januar 2017. Nach der soeben erläuterten Bescheidlage geht es im vorliegenden Verfahren somit um die durchgehende Ablehnung von Leistungen durch den Beklagten im Zeitraum April 2016 bis Januar 2017.
II. Die gegen den Beklagten als Leistungsträger nach dem SGB II gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.
Die Klägerin ist nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II im streitgegenständlichen Zeitraum von Leistungen ausgeschlossen gewesen, denn sie hätte ein Aufenthaltsrecht allenfalls auf den Tatbestand der Arbeitsuche stützen können, hat aber selbst nicht vorgetragen in Deutschland auf Arbeitsuche gewesen zu sein.
Insbesondere verfügte die Klägerin über kein Aufenthaltsrecht gestützt auf § 3 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU.
§ 3 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU in der vom 9. Dezember 2014 bis zum 23. November 2020 geltenden Fassung bestimmte:
„(1) Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger haben das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 genannten Unionsbürger gilt dies nach Maßgabe des § 4.
(2) Familienangehörige sind
1. der Ehegatte, der Lebenspartner und die Verwandten in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, die noch nicht 21 Jahre alt sind,
2. die Verwandten in gerader aufsteigender und in gerader absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren.“
Durch die Neufassung der Bestimmung zum 24. November 2020 ist § 3 Abs. 2 FreizügG/EU entfallen.
Das Sozialgericht hat die Frage offengelassen, ob für ein – im Fall der im streitigen Zeitraum schon über 21-jährigen Klägerin allein in Betracht kommendes – abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis bereits vor der Einreise nach Deutschland bestanden haben muss.
Der Senat bejaht diese Rechtsfrage. Es ist ständige Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil vom 18. November 2020, L 6 AS 611/18, juris Rn. 74), dass Verwandten in gerader absteigender Linie „Unterhalt gewährt“ wird, wenn bereits in dem Zeitpunkt, in dem die Verwandte ihr Herkunftsland verlässt oder den Nachzug beantragt, ein Abhängigkeitsverhältnis zu der freizügigkeitsberechtigten Person besteht. Diese Abhängigkeit muss sich aus einer tatsächlichen Situation ergeben, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle - erforderliche - Unterhalt des Verwandten durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten mittels Geldleistungen sichergestellt wird. Der Unterhaltsbedarf muss im Herkunfts- oder Heimatland des Verwandten bestehen. Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, muss der Aufnahmemitgliedstaat prüfen, ob der Verwandte in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt, wobei die Gründe für die Abhängigkeit unbeachtlich sind (s. EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014, C-423/12, Rn. 19 ff, unter Bezug auf das Urteil vom 9. Januar 2007, C-1/05 – Jia –, Rn. 35ff; daran anschließend Nr. 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums des Innern zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 11. Juli 2019, L 15 SO 181/18, juris Rn. 47).
Die Klägerin ist zwar Verwandte in gerade absteigender Linie. Anders als das Sozialgericht sieht der Senat eine wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerin von ihrer Mutter und die Gewährung von Unterhalt durch diese während ihres Lebens in Lettland nicht als nachgewiesen an. Dass die Mutter, so die Angaben der Klägerin und ihrer Mutter in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (GA Bl. 93, 97), bei den zweimal jährlichen Besuchen in Lettland der Tochter Geschenke machte, ist zwar glaubhaft, stellt aber keine laufende Unterhaltsgewährung dar. Belegt ist lediglich, dass die Mutter die Klägerin mit kleineren Geldzuwendungen in Lettland laufend unterstützt hat. Belegt sind für das Jahr 2015 vor der Einreise der Klägerin nach Deutschland am 20.Oktober 2015:
Januar 2015: 25,- Euro, Februar 2015: 40,- Euro, März 2015: 95,- Euro, April 2015: 75,- Euro, Mai 2015: 20,- Euro, Juni 2015: 40,- Euro, Juli 2015: 40,- Euro, August 2015: 40,- Euro, September 2015: 20,- Euro und Oktober: 35,- Euro (GA Bl. 11-49), sowie Dezember 2014: 10,- Euro, November 2013: 60,- Euro, Dezember 2012: 15,- Euro und November 2011: 450,- Euro (GA Bl. 50 -53).
Die nachgewiesenen monatlichen Zahlungen der Mutter im Jahr 2015 in Höhe von 10,- Euro bis 95,- Euro stellen sich schon wegen ihrer wechselnden Höhe nicht als eine Abhängigkeit begründende Unterhaltsgewährung dar. Mit diesen wechselnden und (abgesehen vom weit zurückliegenden November 2011) geringen Beträgen, ist kein Abhängigkeitsverhältnis nachgewiesen. Es fehlt an Nachweisen, dass die Mutter der Klägerin deren Unterhalt in Lettland mittels weiterer Geldleistungen laufend und in verlässlicher Weise sichergestellt hat. Zwar hat die Klägerin angegeben (aber nicht belegt), einen Arbeitsverdienst von nur 360,- Euro gehabt zu haben. Dies als zutreffend unterstellt, liegt es nahe, dass die Klägerin trotz wesentlich günstigerer Lebenshaltungs- und Wohnkosten nicht in der Lage war, Wohnung und Lebensunterhalt in Lettland aus ihrem Arbeitsverdienst und den genannten Zahlungen der Mutter zu bestreiten, es also weitere Einkommensquellen gegeben haben muss. Die Mutter der Klägerin hat als Zeugin in erster Instanz ausgesagt, sie habe an den älteren Bruder Geld überwiesen, der dieses an die Klägerin weitergeleitet bzw. für sie Sachen gekauft habe (GA Bl. 97). Belege für diese Überweisungen an den Bruder wurden jedoch trotz Anforderung und Fristsetzung nicht vorgelegt. Die Aussage der Mutter erscheint auch wenig plausibel, da nach den eigenen Angaben der Klägerin diese in den letzten drei Jahren in Lettland schon nicht mehr mit dem Bruder zusammenwohnte, so dass nicht recht einleuchtet, warum eine Unterhaltsgewährung durch die Mutter in nicht dargelegter Höhe über den Bruder hätte laufen sollen.
Die Klägerin lebte in einer Wohnung, aus der der Bruder nach ihren Angaben bereits drei Jahre zuvor ausgezogen war, weil er schon eine eigene Familie hatte (GA Bl. 93, 97). Insoweit hat die Klägerin selbst die Angaben ihrer als Zeugin in erster Instanz vernommenen Mutter korrigiert, die ausgesagt hatte, dass Sohn und Tochter noch direkt vor der Einreise der Tochter nach Deutschland in einer gemeinsamen Wohnung gewohnt hätten (GA Bl. 96), die sie mitfinanziert habe. Nachweise zur behaupteten Finanzierung dieser Wohnung durch die Mutter wurden nicht vorgelegt. Die Klägerin hat Fragen des Gerichts dazu, ob sie mit einem Partner, dem Vater ihres dann in Deutschland geborenen Kindes, in dieser Wohnung zusammenlebte und wie dessen Einkommenssituation war, nicht beantwortet (GA Bl. 205), sich überhaupt nicht zur Berufung eingelassen.
Bei dieser Sachlage sieht der Senat eine laufende Unterhaltsgewährung durch die Mutter im Jahr 2015, bevor die seinerzeit schwangere Klägerin am 20. Oktober 2015 nach Deutschland einreiste, nicht als belegt an. Der Unterhaltsleistung durch die Mutter, die ihrerseits in Deutschland auf aufstockende Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II angewiesen war, waren im Übrigen schon rein faktisch enge Grenzen gesetzt.
Somit kann sich die Klägerin nicht auf ein Aufenthaltsrecht aus einem „anderen" Grund als „allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II a.F. berufen. Dass die Einreise nach Deutschland es der Klägerin ermöglichte, ihre Eltern wiederzusehen und bei ihnen bis zur Geburt des Kindes zu wohnen, führt aufenthaltsrechtlich zu keiner anderen Beurteilung.
Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 EFA steht diesem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II a.F. schon deshalb nicht entgegen, weil Lettland kein Signatarstaat dieses Abkommens ist.
Der Leistungsausschluss der Kläger nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ist auch mit EU-Recht vereinbar (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 27).
III. Die Klägerin hat allerdings einen Zahlungsanspruch gegen die Beigeladene auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XI.
Auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Rechtslage bis zur Änderung des § 23 Abs. 3 SGB XII durch das Gesetz zur Regelung der Ansprüche ausländischer Personen im Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 2016, 3155) steht der Anwendbarkeit des SGB XII auf die Kläger § 21 Satz 1 SGB XII nicht entgegen.
Nach dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung war die erwerbsfähige Klägerin nicht von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen, weil die "Systemabgrenzung" zwischen SGB II und SGB XII zwar grundsätzlich an das Kriterium der Erwerbsfähigkeit anknüpft, jedoch hierauf nicht reduziert werden kann, sondern differenzierter ist. Im Sinne der Abgrenzungsregelung des § 21 Satz 1 SGB XII, die nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern mit § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II korrespondiert, sind nach dem SGB II "als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt" grundsätzlich die Personen nicht, die auch bei Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind. Diese Personen können Leistungen nach dem SGB XII erhalten, ohne dass es hierfür darauf ankommt, ob sie erwerbsfähig nach § 8 SGB II sind, wenn sie nicht auch durch das SGB XII von Leistungen ausgeschlossen sind (zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 24 ff. m.w.N.).
Ein Anspruch nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist jedoch ausgeschlossen, weil die Klägerin im SGB XII dem Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII a.F. unterlag. Danach haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Für die von der Klägerin für den Zeitraum vom April 2016 bis 28. Dezember 2016 geltend gemachten Ansprüche ist § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII noch in dieser, im streitigen Zeitraum geltenden Fassung anzuwenden, weil es an einer hiervon abweichenden Regelung fehlt (Geltungszeitraumprinzip). Dem Gesetz vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I 3155) lässt sich insoweit nicht entnehmen, dass es sich Geltung für die Zeit vor seinem Inkrafttreten am 29. Dezember 2016 beimisst (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 28 m.w.N.).
Es konnte nach dem Gesamtzusammenhang nicht sicher festgestellt werden, dass die Klägerin eingereist ist, um i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII a.F. Sozialhilfe zu erlangen. Hierfür wäre Voraussetzung, dass der Zweck, Sozialhilfe zu erlangen, den Einreiseentschluss geprägt hat (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, Rn. 29 m.w.N.), auch wenn der Umstand, dass die Klägerin schon schwanger war, als sie einreiste, hierfür ein Indiz sein könnte.
Da nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts der Antrag beim SGB II-Träger auch für die erwerbsfähige Klägerin einen Anspruch nach dem SGB XII ab Kenntnis auslösen kann, ist § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII dahin auszulegen, dass ein Anspruch nach dem SGB XII auch dann ausgeschlossen wäre, wenn die Klägerin eingereist wäre, um Leistungen nach dem SGB II zu erlangen. Es kommt somit maßgeblich darauf an, ob sie eingereist sind, um existenzsichernde Leistungen, gleich aus welchem System zu erlangen.
Die Klägerin selbst hat angegeben, ihr sei es ohne ihre Eltern in Lettland langweilig gewesen, sie sei zum Studium nach Deutschland gekommen und habe zunächst bei ihren Eltern wohnend Deutsch lernen wollen. Erst in Deutschland habe sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Damit kann sich die Klägerin nicht auf den Zweck der Arbeitsuche berufen. Da sie auch kein Studium aufgenommen hat, folgt auch aus einer solchen nur vage ins Auge gefassten Ausbildung gleichfalls kein Aufenthaltsrecht.
Da die Klägerin ihr Aufenthaltsrecht nicht einmal aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten könnte (§ 3 FreizügG/EU), ist die Klägerin ebenso wie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II a.F. auch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII a.F. vom Anspruch auf Sozialhilfe ausgeschlossen. Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII a.F. erfasst nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erst recht EU-Ausländer, die weder über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU, die nicht von diesem Leistungsausschluss umfasst ist, noch ein Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen (zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 29 m.w.N.).
Dies gilt in Parallele zum SGB II auch für die ersten drei Monate des Aufenthalts nach der Einreise, worauf es vorliegend indessen nicht ankommt, da die Klägerin sich im streitgegenständlichen Zeitraum schon mehr als drei Monate lang in Deutschland aufhielt.
Verfassungsrecht steht dieser parallelisierenden Auslegung von SGB II und SGB XII nicht entgegen, weil der Leistungsausschluss vom SGB XII auch in den ersten drei Monaten des Aufenthalts nach der Einreise keinen Totalausschluss trotz Hilfebedürftigkeit bewirkt und einen Zugang zu existenzsichernden Leistungen nach dem SGB XII gemäß der Auslegung des Bundessozialgerichts zu § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII - dazu sogleich - nicht schlechterdings versperrt.
Dieser Ausschluss vom Anspruch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII ist mit EU-Recht vereinbar; hier gilt nichts anderes als zum Leistungsausschluss im SGB II (zur Europarechtskonformität des Ausschlusses von "Sozialhilfe" in den ersten drei Monaten des Aufenthalts vgl. insbesondere EuGH vom 25.2.2016 - C-299/14 - Garcia-Nieto, NJW 2016, 1145).
Auch das EFA steht der Anwendung des Leistungsausschlusses nicht entgegen, weil Lettland nicht Signatarstaat dieses Abkommens ist.
Der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII a.F. führt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts indessen nicht zum Ausschluss auch von Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. Demzufolge beinhaltet § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII a.F. nur einen Ausschluss von einem Anspruch auf Sozialhilfe i.S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, nicht aber von im Wege des Ermessens zu leistender Sozialhilfe, wie sie § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII vorsieht. Aufgrund dieser Ermessensregelung in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII kommen für vom Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII a.F. erfasste Personen auch die Leistungen nach dem SGB XII in Betracht, auf die für nicht vom Leistungsausschluss erfasste Personen ein Anspruch nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII besteht. Dieses Verständnis des systematischen Verhältnisses von § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII a.F. zu § 23 Abs.1 Satz 1 und 3 SGB XII, das den Zugang zu den Leistungen nach dem SGB XII, insbesondere der Hilfe zum Lebensunterhalt, eröffnet, wird nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts getragen und ist angezeigt in einer verfassungsrechtlichen Perspektive durch das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG bei einem tatsächlichen Aufenthalt eines Ausländers in Deutschland, gegen den ausländerbehördliche Maßnahmen nicht ergriffen werden, sondern dessen Aufenthalt faktisch geduldet wird, ohne dass es auf eine Möglichkeit der Heimkehr in das Herkunftsland ankommt (vgl. dazu zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 37).
Vorliegend ist die Beigeladene auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu verpflichten, der Klägerin existenzsichernden Leistungen zu gewähren.
Im Bereich der Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII gilt der Kenntnisgrundsatz (§ 18 Abs. 1 SGB XII). Die Kenntnis des beklagten Jobcenters ist dem beigeladenen Sozialhilfeträger zuzurechnen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 40.) Vorliegend bedarf es indessen dieser Zurechnung nicht, weil die Kenntnis des Beklagten als Jobcenter zusammenfällt mit der Kenntnis der Beigeladenen, weil der dahinterstehende kommunale Träger, die Stadt Offenbach, identisch ist.
Das Bundessozialgericht geht davon aus, dass das Ermessen dem Grunde und der Höhe nach auf Null reduziert ist, wenn sich der Aufenthalt eines Klägers nach sechs Monaten tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland verfestigt hat. Eine Ermessensreduktion kommt in Betracht, wenn und weil sich der Aufenthalt von EU-Ausländern nach Ablauf von sechs Monaten tatsächlichem Aufenthalt in Deutschland, der von der Ausländerbehörde faktisch geduldet wird, so verfestigt hat, dass die Erbringung existenzsichernder Leistungen nur im Einzelfall nach Ermessen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr genügt (zuletzt BSG, Urteil vom 9. August 2018, B 14 AS 32/17 R, juris Rn. 42 m.w.N.).
Vorliegend hielt sich die am 20. Oktober 2015 ins Bundesgebiet eingereiste Klägerin zu Beginn des hier streitigen Zeitraums ab 1. April 2016 bereits fünf Monate und elf Tage in Deutschland auf. Damit kann auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts jedenfalls ab 20. April 2016 (Ende des Sechsmonatszeitraums) regelhaft eine Ermessensreduzierung auf Null angenommen werden. Der Senat geht vorliegend allerdings auch schon für die ersten drei Aprilwochen 2016 von einer hinreichenden Aufenthaltsverfestigung der Klägerin, die Anfang April 2016 hochschwanger war (Geburt des Sohnes Mai 2016), aus. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass trotz der Anmietung einer Wohnung ab 1. April 2016, deren Größe auf zwei Personen zugeschnitten ist (60,53 qm, LA S. 17), und der bevorstehenden Geburt des Kindes noch keine hinreichende Aufenthaltsverfestigung bei der Klägerin eingetreten war. Damit bestand im streitigen Zeitraum 1. April bis 28. Dezember 2016 Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII im Wege der Ermessensreduzierung auf Null.
Nach allem ist die Beigeladene zu verpflichten, Klägerin Leistungen nach dem SGB XII im Zeitraum 1. April 2016 bis 28. Dezember 2016 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
III. Für den Zeitraum ab 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 steht der Klägerin lediglich ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII gegen die Beigeladene zu; ab 29. bis 31. Januar 2017 dagegen hat die Klägerin keinen Anspruch gegen die Beigeladene.
Zum 29. Dezember 2016 hat sich die Rechtslage im Sozialhilferecht geändert. § 23 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XII in der ab 29. Dezember 2019 geltenden Fassung bestimmt:
Ausländer und ihre Familienangehörigen erhalten keine Leistungen nach Absatz 1 oder nach dem Vierten Kapitel, wenn
1. sie weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch auf Grund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
2. sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt,
3. sie ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Nummer 2 aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten oder
4. sie eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen.
Satz 1 Nummer 1 und 4 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten.
Die Klägerin verfügt über kein Aufenthaltsrecht im Sinne einer der genannten Bestimmungen.
Für diesen Personenkreis bestimmt § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 6 SGB XII: Hilfebedürftigen Ausländern, die Satz 1 unterfallen, werden bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Hierüber und über die Möglichkeit der Leistungen nach Absatz 3a sind die Leistungsberechtigten zu unterrichten. 5Die Überbrückungsleistungen umfassen:
1. Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege,
2. Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Absatz 4 und § 30 Absatz 7,
3. die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und
4. Leistungen nach § 50 Nummer 1 bis 3.
Soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, werden Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.
Der Senat geht – insoweit in Übereinstimmung mit dem für das Sozialhilferecht zuständigen 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts – davon aus, dass vom Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch Überbrückungsleistungen umfasst werden (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 1. Juli 2020 – L 4 SO 120/18 –, juris Rn. 58). Denn jedenfalls handelt es sich bei den Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII um gegenüber den in die Berechnung des Regelbedarfs einfließenden Bedarfen auf nur einzelne Bedarfe zugeschnittene Leistungen. Der Senat folgt damit nicht der Auffassung, dass es sich bei diesen Überbrückungsleistungen um ein Aliud zu den laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt handelt (so aber Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII, Stand: 22.12.2020, Rn. 115 m.w.N.). Es bedurfte daher keines eigenen auf die Gewährung von Überbrückungsleistungen gerichteten Antrags der Klägerin.
Der Senat folgt auch insoweit der Rechtsprechung des 4. Senats des Hessischen Landessozialgerichts, als er kein ungeschriebenes anspruchsbegründendes subjektives Tatbestandsmerkmal eines Ausreisewillens für erforderlich hält (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 01. Juli 2020 – L 4 SO 120/18 –, juris 65). Er folgt damit ausdrücklich nicht der Rechtauffassung der Beigeladenen, wonach ein Anspruch ausgeschlossen sei, weil es für die Gewährung von Überbrückungsleistungen am Ausreisewillen der Klägerin fehle. Letzteres ist zwar zutreffend. An dieser Ausreisebereitschaft dem Grunde nach fehlt es hier offensichtlich. Auf die Ausführungen zur Aufenthaltsverfestigung der Klägerin wird verwiesen. Nichts deutet darauf hin, dass die Klägerin im hier streitgegenständlichen Zeitraum (oder auch danach) bereit gewesen sein könnte, auszureisen. Allerdings findet der Ausreisewille als subjektive Tatbestandsvoraussetzung keinen hinreichenden Niederschlag im Gesetzeswortlaut. Zwar ergibt sich aus der Formulierung „um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken“, dass die Leistung nach § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 6 SGB XII n.F. nicht als stetig weiterlaufende Leistung zum Lebensunterhalt gedacht ist. Indessen wird schon aus der zeitlichen Begrenzung auf einen Monat hinreichend deutlich, dass es sich um eine befristete Leistung handelt. Auch wird das Auslaufen der Leistung in manchen Fällen, weil der Lebensunterhalt in Deutschland nicht mehr über Sozialleistungen sichergestellt werden kann, einen Ausreisewillen der betroffenen Person hervorbringen. Dass dieser aber schon zu Beginn der befristeten Überbrückungsleistungen und während deren Zahlung durchgehend vorliegen muss, ist dem Gesetz nicht klar zu entnehmen (a.A. Siefert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 23 SGB XII (Stand: 22.12.2020) Rn. 100 m.w.N., die eine Ausreisebereitschaft dem Grunde nach und den erkennbaren Willen, jedenfalls auch diese Leistungen zu erhalten, verlangt).
Nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII werden Überbrückungsleistungen längstens für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren gewährt. Damit stehen der Klägerin lediglich Überbrückungsleistungen für den Zeitraum 29. Dezember 2016 bis 28. Januar 2017 zu. Für den Zeitraum 29. bis 31. Januar 2021 stehen ihr keine Leistungen gegen die Beigeladene zu.
Die – anwaltlich vertretene – Klägerin, die sich im Berufungsverfahren in keiner Weise zur Sache eingelassen hat, hat nichts zu bei ihr im Einzelfall vorliegenden besonderen Umständen, die eine besondere Härte i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII begründen könnten, vorgetragen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es geboten wäre, andere Leistungen im Sinne von § 23 Abs. 1 SGB XII über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, weil dies vorliegend auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten wäre.
Damit stellt sich vorliegend auch nicht die Frage, ob die Härtefallregelung und die Rechtsfolge hinsichtlich der Leistungsdauer und Leistungshöhe in § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII verfassungskonform erweiternd ausgelegt werden müssen (hierzu vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 1. Juli 2020 – L 4 SO 120/18 –, juris Rn. 66 ff.).
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Bei der hier zu treffenden Ermessensentscheidung wird berücksichtigt, dass die Klägerin zunächst einen Zeitraum bis einschließlich Februar 2017 eingeklagt hat, gegenüber dem Beklagten unterliegt und von der Beigeladenen nur bis 28. Januar 2017 Leistungen nach dem SGB XII, im letzten Monat lediglich Überbrückungsleistungen, beanspruchen kann.
V. Die Revision wird zugelassen.
Die Frage, ob für ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis bereits vor der Einreise nach Deutschland bestanden haben muss, ist soweit ersichtlich höchstrichterlich noch nicht entschieden. Da der Senat entscheidungserheblich hierauf abstellt und diese Frage Breitenwirkung hat, ist der Revisionszulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG gegeben.
Auch für die beiden Rechtsfragen, ob es sich bei den Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII um ein Aliud gegenüber den laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt handelt und ob es für deren Gewährung auf einen Ausreisewillen der leistungsberechtigten Person ankommt, sieht der Senat die grundsätzliche Bedeutung gegeben. Beide Fragen, sind soweit ersichtlich, höchstrichterlich noch nicht entschieden. Sie sind vorliegend auch entscheidungserheblich. Denn die Klägerin hat zum einen in der Berufungsinstanz keinen Antrag auf Überbrückungsleistungen gestellt hat, so dass die Beigeladene, wenn es sich bei diesen Leistungen nicht um ein Minus, sondern um ein Aliud handeln würde, nicht hätte verurteilt werden dürfen. Zum anderen hätte die Beigeladene, wenn es auf einen Ausreisewillen der Klägerin ankäme, gleichfalls nicht verurteilt werden dürfen.