S 21 AS 1018/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 21 AS 1018/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 1/20
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 4/22 R
Datum
-
Kategorie
Urteil

1.    Der Bescheid v. 17.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 06.09.2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 01.04.2016 – 28.02.2017 zu gewähren.

2.    Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten im notwendigen Umfang zu erstatten.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – (SGB II), insbesondere um das Bestehen eines Leistungsausschlusses für die Klägerin als EU-Ausländerin.

Die im Jahr 1993 geborene Klägerin ist lettischer Staatsangehörigkeit. Sie reiste am 20.10.2015 ins Bundesgebiet ein. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwanger. Sie zog in den Haushalt ihrer Eltern zu, die bereits seit dem Jahr 2010 in Deutschland wohnten. Die Eltern standen damals selbst im aufstockenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin wurde von der Beklagten zunächst mit in die Bedarfsgemeinschaft aufgenommen. Die Eltern verfügten seinerzeit über ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosengeld I i.H.v. insgesamt ca. 1.300 - 1.800 € monatlich.

Am 07.03.2016 stellte die Klägerin dann bei der Beklagten einen „Neuantrag“ auf Leistungen mit der Begründung, sie habe ab dem 01.04. eine eigene Wohnung angemietet, werde also aus dem gemeinsamen Haushalt mit den Eltern ausziehen. Daraufhin erließ die Beklagte zunächst noch am 07.03.2016 einen Änderungsbescheid, mit dem die Klägerin ab April 2016 nicht mehr in der Bedarfsgemeinschaft der Eltern berücksichtigt wurde. Am 17.03.2016 wurde dann ein weiterer Bescheid erlassen, mit dem der Leistungsantrag der Klägerin abgelehnt wurde. Dies begründete man damit, dass die Klägerin dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche.

Mit Widerspruch v. 29.03.2016 machte die Klägerin geltend, der genannte Leistungsausschluss greife bei ihr nicht ein. Sie könne von ihren Eltern ein Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ableiten, da diese ihr Unterhalt gewährten. Bislang habe sie bei den Eltern kostenfrei gelebt, diese unterstützten sie auch nach dem Auszug mit monatlich 100 €. Sie sei zudem auch schon in Lettland von den Eltern durch Überweisungen auf ihr dortiges Konto unterstützt worden. Sie legte Belege für diverse Überweisungen der Eltern auf ihr Konto nach Lettland im Zeitraum Januar bis September 2015 vor. Diese schwanken stark in der Höhe, erreichen aber einen monatlichen Durchschnittsbetrag i.H.v. ca. 43 €. Zudem reichte sie auch Belege für entsprechende Überweisungen in der Zeit nach ihrer Einreise ein, woraus sich ein durchschnittlicher Monatsbetrag i.H.v. ca. 80 € ergibt.

Der Widerspruch wurde durch die Beklagte am 06.09.2016 zurückgewiesen. Es bestehe kein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige der Eltern, da durch die sehr geringen Überweisungen der Eltern nach Lettland dort kein Abhängigkeitsverhältnis bestanden habe. Dies setze der Tatbestand des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU aber gerade voraus.

Die Klägerin hat am 04.10.2016 Klage beim Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Sie trägt vor, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife bei ihr nicht ein, da sie von den Eltern über § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige ableiten könne. Sie sei in Lettland auch über die bereits nachgewiesenen Überweisungen hinaus von den Eltern unterstützt worden. So hätten sie die Eltern dort mehrmals jährlich besucht und bei der Gelegenheit Lebensmittel für sie eingekauft und andere Anschaffungen finanziert. Desweiteren sei die Miete für ihre Wohnung in Lettland von den Eltern getragen worden. Das diesbezügliche Geld hätten die Eltern dem zeitweilig in derselben Wohnung lebenden Bruder zugewandt, der dann die Miete für beide Geschwister hiervon beglichen habe. Auch nach ihrer Einreise hätten die Eltern sie weiterhin in erheblichem Umfang unterstützt. Neben den Überweisungen hätten sie ihr und dem neugeborenen Kind Sachzuwendungen zukommen lassen. 

Sie beantragt,

den Bescheid v. 17.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 06.09.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 01.04.2016 – 28.02.2017 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend, die nachgewiesene Unterstützung in Lettland sei nicht ausreichend, um ein Abhängigkeitsverhältnis der Klägerin zu den Eltern darzutun. Hierzu seien die überwiesenen Beträge zu gering. Die angeblich über den Bruder geflossenen Mietzahlungen seien erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen und nicht weiter unter Beweis gestellt worden.

Am 17.02.2017 hat die Klägerin einen Weiterbewilligungsantrag für die Zeit ab dem 01.03.2017 gestellt, der durch Bescheid v. 09.03.2017 abgelehnt worden ist.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung am 02.10.2019 Beweis erhoben durch Vernehmung der Mutter der Klägerin, C. A., als Zeugin. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen. Der in der Verhandlung geschlossene Vergleich wurde durch die Beklagte widerrufen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte ergänzend Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Das Gericht kann hier nach erteilten Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne (weitere) mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid v. 17.03.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides v. 06.09.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im Zeitraum 01.04.2016 – 28.02.2017.

Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens sind allein die Leistungen im o.g. Zeitraum, da für die Zeit ab dem 01.03.2017 neue Bescheide ergangen sind, hinsichtlich derer mittlerweile auch weitere Klageverfahren anhängig sind.

Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

Die Klägerin erfüllte im o.g. Zeitraum diese Voraussetzungen. Insbesondere war sie hilfebedürftig. Sie finanzierte ihren Lebensunterhalt in dieser Zeit überwiegend durch vorläufige Leistungen, die ihr gerichtlich im Rahmen einstweiliger Anordnungen zugesprochen worden waren. Durch Beschluss v. 15.06.2016 (S 21 AS 411/16 ER) wurden ihr vorläufige Leistungen für den Zeitraum 20.04. – 31.08.2016, durch Beschluss v. 17.10.2016 (S 21 AS 1017/16 ER) für den Zeitraum 04.10.2016 – 28.02.2017 zugesprochen. Ergänzend erhielt sie Geld- und Sachzuwendungen ihrer Eltern. Die Eltern standen jedoch selbst im ergänzenden SGB II – Leistungsbezug und waren daher nicht in der Lage, der Klägerin Zuwendungen in einer Höhe zukommen zu lassen, die ihren grundsicherungsrechtlichen Bedarf hätte decken können. 

Die Klägerin war auch nicht nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in der damaligen Fassung vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Danach hatten Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab, und ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin hatte hier aber nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, sondern genoss darüber hinaus ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt solche Familienangehörige, die den in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürgern nachziehen. Die Mutter der Klägerin war im o.g. Zeitraum freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmerin gemäß § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Die Klägerin zog ins Bundesgebiet zu. Eine gemeinsame Wohnung ist nicht zwingende Voraussetzung des abgeleiteten Freizügigkeitsrechts, so dass der spätere Auszug aus der elterlichen Wohnung hier unerheblich ist.

In gerader aufsteigender oder absteigender Linie Verwandte der in § 2 Abs. 2 Nr. bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen sind gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, wenn ihnen von diesen Personen Unterhalt gewährt wird. 

Die Klägerin erfüllt hier auch diese Voraussetzung. Sie hat insbesondere für den o.g. Zeitraum nach der Einreise die fortlaufende Unterstützung durch ihre Mutter bzw. Eltern nachgewiesen. Nachdem sie nach Deutschland gekommen war, wurde sie umgehend bei ihren Eltern in den Haushalt aufgenommen und durch die Übernahme von Kosten für einen Deutschkurs unterstützt. Auch nachdem die Beklagte die laufenden Leistungen für sie einstellte, kamen zunächst die Eltern (also insbesondere die erwerbstätige Mutter) für den existenziellen Lebensunterhalt der Klägerin auf. Nach vorläufiger Wiederaufnahme der Leistungsgewährung wurde sie weiterhin fortlaufend mit einem Betrag i.H.v. 100 € monatlich zusätzlich zu den Leistungen der Beklagten unterstützt. Darüber hinaus unterstützten sie die Klägerin durch Sachzuwendungen und beispielsweise durch Übernahme der Mietkaution für die eigene Wohnung. Aus alldem folgt die grundsätzliche Bereitschaft der Eltern zur Beteiligung am Unterhalt der Klägerin. Dass die Mutter hierzu trotz eigenen ergänzenden SGB II – Bezuges auch in beschränktem Umfang in der Lage war, erklärt sich daraus, dass ihr aufgrund der Freibetragsregelungen ein nicht unerheblicher Teil ihres Erwerbseinkommens verblieb.

Dass die Mutter der Klägerin keinen Unterhalt in einer Höhe gewährte, der deren grundsicherungsrechtlichen Bedarf abdeckte, steht der abgeleiteten Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin nicht entgegen. Das Gesetz fordert im Lichte des in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Schutzes der Familie keine ausreichende Unterhaltsgewährung. Vielmehr genügt auch eine nicht bedarfsdeckende Unterhaltszahlung (vgl. LSG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 15.04.2015 - L 7 AS 428/15 B ER; Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl, 3 FreizügG Rn. 40). Der Wortlaut der Norm enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Unterhaltsgewährung nur relevant ist, wenn es sich um einen bedarfsdeckenden Unterhalt handelt. Anders als im Falle des § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, der für Familienangehörige nicht erwerbstätiger Unionsbürger im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU gilt, ist eine Bedarfsdeckung danach gerade nicht Voraussetzung für das Freizügigkeitsrecht (in diesem Sinne auch BVerwG vom 20.10.1993 - 11 C 1/93; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Mai 2015 – L 7 AS 372/15 B ER, L 7 AS 373/15 B –, Rn. 13, juris).

In der bisherigen bundesdeutschen Rechtsprechung letztlich ungeklärt ist die Frage, ob für ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis des Familienangehörigen zu den in § 2 Abs. 2 Nr.1 bis 5 und 7 FreizügG/EU genannten Personen auch bereits vor der Einreise ins Bundesgebiet bestanden haben muss. Allerdings deuten Vorgaben des EuGH in diese Richtung, da dort im Hinblick auf die dem Freizügigkeitsgesetz/EU zugrundeliegenden Richtlinien bereits entschieden wurde, dass unter „Unterhalt [gewährt]” zu verstehen sei, dass das Familienmitglied eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Gemeinschaftsangehörigen bzw. Arbeitnehmers der materiellen Unterstützung dieses Gemeinschaftsangehörigen oder dessen Ehegatten bedarf, um seine Grundbedürfnisse in seinem Herkunftsstaat in dem Zeitpunkt zu decken, in dem er beantragt, dem Gemeinschaftsangehörigen zu folgen (EuGH (Große Kammer), Urteil vom 9. 1. 2007 - C-1/05 Yunying Jia/Migrationsverk).

Nach Auffassung der Kammer kann diese Rechtsfrage aber vorliegend offenbleiben. Denn zum Zeitpunkt der Einreise der Klägerin bestand ein materieller Unterstützungsbedarf durch die Eltern im Heimatland. Sie war zwar nach eigenen Angaben bis dahin in Lettland als Verkäuferin beschäftigt und hatte hieraus einen Monatsverdienst i.H.v. 360 € erzielt. Zusätzlich bedurfte sie jedoch regelmäßig der Unterstützung durch Überweisungen ihrer Eltern aus Deutschland. Diesbezüglich ergibt sich aus den vorgelegten Kontoauszügen für den Zeitraum vor der Einreise ein monatlicher durchschnittlicher Überweisungsbetrag i.H.v. ca. 43 €. Auch wenn man dies trotz der geringeren Lebenshaltungskosten in Lettland noch als unerheblich ansehen wollte, so unterstützten die Eltern die Klägerin jedenfalls zusätzlich im Rahmen ihrer Besuche dort durch die Anschaffung von Lebensmitteln und sonstiger alltäglicher Gebrauchsgüter in nicht geringem Umfang. Dies haben sowohl die Klägerin als auch ihre Mutter in der mündlichen Verhandlung v. 02.10.2019 glaubhaft erklärt. Darüber hinaus kann hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Klägerin bei ihrem Zuzug bereits schwanger war. Es war also absehbar, dass sie ihren Lebensunterhalt in Lettland in naher Zukunft nicht mehr in vergleichbarem Umfang durch eigene Erwerbsarbeit sicherstellen können würde. Von der Klägerin zu erwarten, vor Klärung ihrer Situation zunächst den weiteren Fortgang der Schwangerschaft abzuwarten und erst eine akute weitere Unterstützungsbedürftigkeit eintreten zu lassen, würde aus Sicht der Kammer die Verwirklichung des abgeleiteten Freizügigkeitsrechts als Familienangehörige unzumutbar erschweren. An der zukünftig absehbar gesteigerten Unterstützungsbedürftigkeit der Klägerin änderte sich auch nichts dadurch, dass sie ggf. bei der Einreise noch keine Kenntnis von der Schwangerschaft hatte.

Nicht mehr entscheidungserheblich ist hier daher im Ergebnis, ob die Mutter darüber hinaus die Miete für die Wohnung der Klägerin in Lettland ganz oder teilweise übernommen hat. Allerdings hat die Mutter nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, die Miete über den Umweg des weiteren Sohns in Lettland gezahlt zu haben.

Der Klägerin standen daher hier im o.g. Zeitraum Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dem Grunde nach zu. Die Beklagte wird hinsichtlich der Höhe nunmehr nach entsprechenden Ermittlungen einen endgültigen Bescheid zu erlassen haben.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG. Das zulässige Rechtsmittel der Berufung folgt aus § 143 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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