L 10 U 3002/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 13 U 2979/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 3002/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind weder die Unfallversicherungsträger noch die Gerichte an ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gebunden; diesen kommt lediglich die Bedeutung einer ärztlich-gutachtlichen Stellungnahme zu.

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.07.2020 (S 13 U 2979/17) und der Bescheid der Beklagten vom 30.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2017 abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, unter teilweiser Rücknahme des Bescheids vom 29.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 das Ereignis vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger für die Zeit vom 01.01.2013 bis einschließlich 08.01.2013 Verletztengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im ersten Rechtszug zu einem Fünftel und im zweiten Rechtszug zu einem Viertel zu erstatten.




Tatbestand


Der Kläger begehrt im Wege des sog. Zugunstenverfahrens die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall sowie die Gewährung von Verletztengeld.

Der 1958 geborene Kläger übte eine Tätigkeit als selbstständiger Handelsvertreter aus, vertrieb in dieser Eigenschaft Luftbildaufnahmen und besuchte dabei - im Sinne einer „Kaltakquise“ - täglich ca. 30 bis 40 potenzielle Kunden, die er mit dem Pkw aufsuchte. Bei entsprechendem Interesse der Kunden holte er aus seinem Pkw einen - seinen eigenen Angaben nach - mindestens 20 kg wiegenden Musterkoffer in dem sich verschiedene Bilder (ca. zehn Stück) in unterschiedlichen Größen (größtes Bild ca. 50 x 70 cm) sowie seine Auftragsmappe befanden. Zudem vermittelte er Solar-/Photovoltaikanlagen sowie Dach-/Fassadensanierungen und musste in diesem Zusammenhang - ebenfalls seinen eigenen Angaben nach - gelegentlich auf Leitern steigen, um zu prüfen, inwieweit die Dachziegel für eine entsprechende Sanierung geeignet waren. Ein Betreten des Daches war hierbei nicht erforderlich (s. Bl. 69 VA zum Unfall vom 22.06.2013). Von 1996 bis zur Beendigung der freiwilligen Versicherung durch die Beklagte zum 01.07.2013 (Bescheid vom 14.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.08.2013, welcher nach Rücknahme der Berufung im Verfahren L 9 U 2583/17 durch den Kläger bestandskräftig wurde, s. beigezogene LSG-Akte zum Verfahren L 9 U 2583/17) - und somit auch zum Zeitpunkt des vorliegend angeschuldigten Ereignisses - war er mit der Höchstversicherungssumme freiwillig bei der Beklagten versichert. In diesem Zeitraum meldete er bei der Beklagten 106 Arbeitsunfälle (s. Schriftsatz der Beklagten vom 25.03.2021 in dem Verfahren L 10 U 360/21) und bezog Verletztengeld in Höhe von über 390.000 €. Der Kläger ist im Übrigen bei der Techniker Krankenkasse mit Anspruch auf Krankengeld krankenversichert (s. Bl. 46 VA).

Am 27.12.2012 suchte der Kläger die - damals 84-jährige - Frau W in der Kstr.  in V auf und bot ihr Luftaufnahmen an. Nach eigenen Angaben in der Unfallanzeige (Bl. 17 VA) bzw. im entsprechenden Fragebogen (Bl. 39 VA) rutschte er gegen 14.00 Uhr nach Beendigung des Kundengespräches auf dem Weg zu seinem Auto im nassen Hof von Frau W mit dem rechten Bein weg und verspürte starke Schmerzen im Bereich der rechten Leiste und des rechten (Ober-)Schenkels, wegen derer er sich anschließend bei dem E in N vorstellte. Dieser beschrieb eine sehr druckschmerzhafte, verhärtete Muskulatur der Oberschenkelinnenseite rechts von der Leiste ausgehend bis zur Oberschenkelmitte (Adduktoren) ohne tastbare Delle, diagnostizierte eine Adduktorenzerrung rechts (Bl. 18 VA) und bescheinigte dem Kläger Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 07.01.2013 (Bl. 36 VA). Wegen noch bestehender Schmerzen stellte sich der Kläger am 29.12.2012 im C-Krankenhaus M (E1) vor (Bl. 19 VA). E1 beschrieb klinisch reizlose Hautverhältnisse und einen Druckschmerz entlang der Adduktoren. Eine Bewegungseinschränkung beschrieb er nicht (Extension/Flexion, Außen-/Innenrotation, Ab-/Adduktion gegen Widerstand möglich, pDMS intakt). Die durchgeführte Sonographie des rechten Oberschenkels ergab eine glatte Muskulatur ohne Hämatom und durch eine Röntgenaufnahme des Beckens konnte eine Fraktur und ein knöcherner Ausriss ausgeschlossen werden. Es zeigte sich lediglich eine Koxarthrose Stadium II beidseits. E1 diagnostizierte gleichfalls eine Adduktorenzerrung und bestätigte eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 07.01.2013. Am 29.12.2012 hatte der Kläger den Unfall bei der Beklagten angezeigt.

Am 04.01.2013 stellte er sich erneut bei E vor, der Arbeitsunfähigkeit auf Grund einer noch feststellbaren Muskelverhärtung bis einschließlich 15.01.2013 bescheinigte (Bl. 25 und 37 VA). Am 07.01.2013 stellte sich der Kläger wegen weiterhin bestehender Beschwerden erneut im C-Krankenhaus M vor (Bl. 41 f. VA). Es wurde noch ein leichter Druckschmerz entlang der Adduktoren rechts beschrieben und eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 15.01.2013 angenommen und davon ausgegangen, dass der Kläger ab dem 16.01.2013 wieder vollschichtig arbeitsfähig sein werde und dass keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in einem rentenberechtigenden Ausmaß verbleiben werde.

Nach entsprechender Aufforderung der Beklagten stellte sich der Kläger am 09.01.2013 erneut im C-Krankenhaus M vor (Bl. 42 VA). Die klinische Untersuchung erbrachte keinen wesentlich pathologischen Befund. Ein am 16.01.2013 durchgeführtes MRT beider Oberschenkel zeigte keinen Hinweis für eine strukturelle Läsion im Bereich der Adduktoren rechts (Bl. 45 VA). E1 diagnostizierte daraufhin eine stattgehabte „fragliche“ Adduktorenzerrung mit Restbeschwerden, hielt weitere Behandlungsmaßnahmen nicht für erforderlich und bestätigte Arbeitsfähigkeit ab 16.01.2013 (Bl. 50 VA). Nach eigener Angabe (Bl. 40 VA) nahm der Kläger an diesem Tag seine Tätigkeit wieder auf.

Mit Bescheid vom 29.01.2013 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall sowie die Gewährung von Verletztengeld ab. Zum einen lasse sich bereits nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass der Kläger den geklagten Gesundheitsschaden bei der Ausübung einer Tätigkeit erlitten habe, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe, da Frau W (richtig: deren Sohn, s. Bl. 34 VA) den von ihm geschilderten Geschehensablauf - Ausrutschen auf dem nassen Hof - gerade nicht bestätigt habe. Sie habe angegeben, dass der Kläger auf der unteren von drei Treppenstufen ausgerutscht und mit dem Gesäß auf dem oberen Teil der Treppe aufgekommen sei. Überdies sei auch der geklagte Körperschaden kritisch zu bewerten, da dieser weder sonographisch noch röntgenologisch nachweisbar sei, sondern lediglich subjektive Schmerzäußerungen dokumentiert worden seien. Die Tatbestandsmerkmale Unfallereignis und Gesundheitserstschaden müssten jedoch im Vollbeweis gesichert sein. Die Beweislast liege beim Kläger. Unabhängig vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls bestünden auch keine Entschädigungsansprüche. Namentlich seien etwaige Verletztengeldansprüche abzulehnen. Die seitens E ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen würden nicht akzeptiert, da nicht glaubhaft sei, dass der Kläger wegen der geklagten Adduktorenverletzung tatsächlich arbeitsunfähig gewesen sei. Da weder sonographisch noch röntgenologisch und auch nicht mittels MRT entsprechende Veränderungen im Bereich der Adduktoren hätten nachgewiesen werden können und er zudem bereits am 04.01.2013 wieder in der Lage gewesen sei, zur Ausstellung eines weiteren Arbeitsunfähigkeitsattests mit dem Pkw eine Strecke von 60 km (einfach) zurückzulegen und sich dies weitgehend mit der gewöhnlichen Verrichtung der täglichen, versicherten Tätigkeit als selbstständiger Handelsvertreter decke, sei die Arbeitsunfähigkeit nicht objektivierbar. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er namentlich die Gewährung von Verletztengeld für die Zeit vom 27.12.2012 bis zum 16.01.2013 begehrte und (u.a.) geltend machte, seine Tochter habe ihn 04.01.2013 gefahren (Bl. 54 f. VA), wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2013 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie ergänzend zum Ausgangsbescheid an, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen des E nicht zu akzeptieren seien, sondern nur solche des C-Krankenhauses M bzw. der BG-Uklinik L.

Die hiergegen - in der Hauptsache allein - auf Gewährung von Verletztengeld für die Zeit vom 27.12.2012 bis einschließlich 15.01.2013 gerichtete Klage wies das Sozialgericht Heilbronn (SG) mit Gerichtsbescheid vom 29.06.2016 (S 13 U 1896/13) ab. Sie sei bereits unzulässig, da die Beklagte keine Entscheidung über die (Nicht-)Gewährung von Verletztengeld getroffen habe. Im anschließenden Berufungsverfahren beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (L 6 U 3101/16) schlossen die Beteiligten am 26.04.2017 zur Erledigung (u.a.) des Rechtsstreits L 6 U 3101/16 einen gerichtlichen Vergleich, mit dem sich die Beklagte verpflichtete („wird“), auf den (am selben Tag gestellten) Überprüfungsantrag des Klägers ihre Entscheidung über den Arbeitsunfall (u.a.) am 27.12.2012 nochmals zu überprüfen und hierüber eine rechtsmittelfähige Entscheidung im Rahmen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu treffen, wobei sich die Beteiligten darüber einig waren, „dass Leistungsansprüche auch seit 2013 weiterhin Gegenstand der Überprüfungsbescheide sein können“.

Mit Bescheid vom 30.05.2017 lehnte die Beklagte sodann die Rücknahme des Bescheides vom 29.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ab. Eine Überprüfung des Sachverhaltes habe ergeben, dass bei Erlass des Bescheides vom 29.01.2013 das Recht nicht unrichtig angewandt worden und namentlich die Gewährung von Verletztengeld weiter abzulehnen sei. Im Rahmen der ärztlichen Untersuchungen hätten sich weder sonographisch noch röntgenologisch Veränderungen im Bereich der Adduktoren objektivieren lassen, noch habe Frau W den Geschehensablauf bestätigt, sodass ein für eine Adduktorenverletzung adäquater Unfallhergang nicht nachzuweisen sei. Auch hätten sich weiterhin keinerlei Hinweise ergeben, anhand derer sich eine Arbeitsunfähigkeit habe objektivieren lassen.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2017 als unbegründet zurück. Hierin wies sie (u.a.) darauf hin, dass der Kläger seit 27.02.1996 bei ihr als Handelsvertreter mit der Höchstversicherungssumme freiwillig versichert sei. Seit dem Beginn der freiwilligen Versicherung habe er bereits über 100 Unfälle als zu entschädigende Versicherungsfälle angezeigt, die sich - den Meldungen entsprechend - alle auf dem Weg von und zu Hausbesuchen im Rahmen seiner Tätigkeit als Handelsvertreter zugetragen haben sollen und als Unfallhergang stets ein Ausrutschen, ein Sturz oder ein Umknicken mit dem rechten oberen Sprunggelenk angegeben worden sei. Zur Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit wegen der gemeldeten Ereignisse habe er sich bei 43 verschiedenen Durchgangsärzten in einem Umkreis bis zu 100 km von seinem Wohnort vorgestellt. Die durchschnittliche Dauer der attestierten Arbeitsunfähigkeit habe 20 Tage betragen. Im Übrigen habe die Überprüfung des Bescheides vom 29.01.2013 nach § 44 SGB X ergeben, dass weder das Unfallereignis noch ein entsprechender Körperschaden bzw. eine objektivierbare Arbeitsunfähigkeit im erforderlichen Beweisgrad nachzuweisen seien, weshalb weder ein Arbeitsunfall anzuerkennen noch Verletztengeld zu zahlen sei.

Hiergegen hat der Kläger am 18.09.2017 Klage beim SG erhoben und geltend gemacht, dass er am 27.12.2012 einen Arbeitsunfall erlitten habe und seitens der Ärzte des C-Krankenhauses M bis einschließlich 15.01.2013 Arbeitsunfähigkeit angenommen worden sei. Die Beklagte hat auf ihren bisherigen Vortrag und auf einen Eilbeschluss des 2. Senats des LSG Baden-Württemberg vom 18.12.2012 (L 2 U 4462/12 ER-B), in dem die Auszahlung von Verletztengeld nach einem vom Kläger geltend gemachten (anderen) Arbeitsunfall streitig war, verwiesen. Der 2. Senat führte im genannten Beschluss u.a. aus, dass er „angesichts der - im echten Wortsinne - unglaublichen Anzahl von Arbeitsunfällen des Antragstellers ganz grundsätzlich davon überzeugt sei, dass hier schlicht etwas nicht stimmen könne.“ Angesichts der großen Zahl von Arbeitsunfällen liege die Vermutung auf der Hand, dass es sich um ein „Geschäftsmodell der besonderen Art“ handele, in welchem regelmäßig über Jahre Einnahmen aus Verletztengeld erzielt werden sollen. 

Mit Urteil vom 27.07.2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Ob der Kläger im Hof der Frau W oder auf der Treppe ausgerutscht sei, könne letztlich offenbleiben, da es bereits am Vollbeweis für einen Gesundheitserstschaden fehle. Abgesehen davon, dass es verwundere, dass der Kläger nach dem geltend gemachten Unfallereignis in V nicht einen örtlich näheren D-Arzt aufgesucht habe, habe E zwar eine Adduktorenzerrung rechts diagnostiziert, sich dabei aber im Wesentlichen nur auf die Schmerzangaben des Klägers gestützt. Eine verhärtete Muskulatur sei sehr unspezifisch und außerdem beeinflussbar. Eine apparative Untersuchung sei nicht durchgeführt worden. Im dann am 29.12.2012 aufgesuchten C-Krankenhaus M sei die Diagnose des E lediglich übernommen worden. Außerdem hätten die dort durchgeführten Untersuchungen letztlich erneut wieder nur eine (subjektive) Druckschmerzhaftigkeit entlang der Adduktoren ergeben. Die durchgeführte Sonographie des rechten Oberschenkels und die Röntgenuntersuchung des Beckens hätten keine Gesundheitsstörungen ergeben, die mit dem Ereignis vom 27.12.2012 in Zusammenhang stehen könnten. Auch die am 16.01.2013 durchgeführte MRT-Untersuchung sei unauffällig gewesen. Letztlich sei in dem Befundbericht der Ärzte des C-Krankenhauses M vom 23.01.2013 (nach Untersuchung am 16.03.2013) nur noch eine „fragliche“ Adduktorenzerrung diagnostiziert worden. Der erforderliche Vollbeweis für die Adduktorenzerrung fehle daher. Der immer wieder angegebene Druckschmerz stelle, selbst wenn er vorgelegen haben sollte, keinen Gesundheitserstschaden dar (Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.01.2013, L 6 U 2874/12, in juris). Hinsichtlich des geltend gemacht Zinsanspruchs könne offenbleiben, ob die Klage insoweit schon unzulässig sei, denn jedenfalls bestehe ein derartiger Anspruch mangels Arbeitsunfalls und entsprechendem Verletztengeldanspruch nicht.

Gegen das - seinem Prozessbevollmächtigten am 24.08.2020 zugestellte - Urteil hat der Kläger am 23.09.2020 Berufung eingelegt und geltend gemacht, dass das SG zu Unrecht einen berufsbedingten Gesundheitsschaden verneint habe. Dieser sei vielmehr im Vollbeweis gesichert. Er habe zunächst seinen „Hausarzt“ E - dieser sei gleichzeitig auch D-Arzt - aufgesucht, der eine Adduktorenzerrung rechts diagnostiziert habe, die am 29.12.2012 auch von den Ärzten des C-Krankenhauses M bestätigt worden sei. Die Vorlage der ärztlichen Unterlagen genüge bereits, um den Vollbeweis eines Gesundheitsschadens zu führen. Auch habe die Zeugin W das Unfallereignis bestätigt. Das SG habe fehlerhaft damit argumentiert, dass deshalb nicht unerhebliche Zweifel an der durchgangsärztlich festgestellten Diagnose einer Adduktorenzerrung bestünden, weil die später am 16.01.2013 durchgeführte MRT-Untersuchung keinen Hinweis auf eine strukturelle Läsion im Bereich der Adduktoren rechts ergeben habe und auch schon die zuvor durchgeführte Sonographie des rechten Oberschenkels und die Röntgenuntersuchung des Beckens keine Gesundheitsstörungen ergeben habe. Das SG habe verkannt, dass sonographisch und röntgenologisch lediglich ein Muskelfaserabriss diagnostiziert werden könne, nicht jedoch eine Zerrung der Adduktoren. Es habe rechtsfehlerhaft seine laienhafte Wertung zugrunde gelegt, ohne den Sachverhalt durch einen medizinischen Sachverständigen aufklären zu lassen. Am 16.01.2013 sei dann bei der MRT-Untersuchung des Oberschenkels nichts mehr zu erkennen gewesen, da die Zerrung bis dahin schon wieder verheilt gewesen sei. Auch nicht richtig und rechtsfehlerhaft sei die Annahme des SG, dass ein dauerhafter Druckschmerz, wie er ihn damals gehabt habe, für sich keinen Gesundheitsschaden darstelle.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27.07.2020 abzuändern und den Bescheid vom 30.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2017 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 29.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 zurückzunehmen und das Ereignis vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall anzuerkennen sowie ihm für die Zeit vom 27.12.2012 bis einschließlich 15.01.2013 Verletztengeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend. Zwar lasse sich nicht automatisch wegen der Anzahl der zuvor vom Kläger angezeigten Ereignisse ein Arbeitsunfall ausschließen. Dies bedeute jedoch nicht, dass die außerordentliche Anzahl der zuvor gemeldeten Sturzereignisse und Verletzungsmuster für die Beurteilung des Beweiswertes der Beschwerdeschilderungen des Klägers anlässlich seiner beiden ambulanten Vorstellungen am 27.12.2012 und 29.12.2012 völlig außer Betracht zu bleiben hätten. Im Zusammenspiel mit dem fehlenden Nachweis eines strukturellen Schadens an den Adduktoren des rechten Oberschenkels ergäben sich deutliche Zweifel am Eintritt eines Gesundheitserstschadens.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Prozessakten der Verfahren S 13 U 1896/13, L 6 U 3101/16 und L 9 U 2583/17 verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und teilweise begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 30.05.2017 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2017, mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers vom 26.04.2017 - entsprechend dem gerichtlichen Vergleich vom selben Tage im Verfahren L 6 U 3101/16 - auf Überprüfung des Bescheids vom 29.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 nach § 44 SGB X hinsichtlich der dort abgelehnten Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall sowie der dortigen Ablehnung der Gewährung von Verletztengeld, ablehnte. Beides, namentlich auch die Ablehnung von Verletztengeld (bereits dem Grunde nach) war Regelungsgegenstand des Ursprungsbescheids vom 29.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013, wovon die Beteiligten zu Recht im Rahmen ihres im Verfahren L 6 U 3101/16 geschlossenen Vergleichs ausgingen. Denn die Beklagte lehnte - entgegen der Auffassung des SG im Gerichtsbescheid vom 29.06.2016 (S 13 U 1896/13) - im Bescheid vom 29.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 konkret die Gewährung von Verletztengeld und nicht nur pauschal Entschädigungsleistungen ab. Zwar geschah dies nicht bereits ausdrücklich im Verfügungssatz des Bescheides vom 29.01.2013, da sie darin lediglich die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall ausdrücklich ablehnte und im Übrigen allgemein und pauschal einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneinte. Im Rahmen der Begründung des Bescheids prüfte sie jedoch die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Verletztengeld, lehnte diesen ausdrücklich ab und konkretisierte damit auch die im Verfügungssatz ausgesprochene allgemeine Leistungsablehnung i.S. einer entsprechenden regelnden Entscheidung.

Unter Zugrundelegung dessen hätte das SG die zulässige und als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 i.V.m. § 56 SGG) statthafte (vgl. dazu Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 20.01.2021, B 13 R 13/19 R, zitiert - wie alle nachfolgenden höchstrichterlichen Entscheidungen - nach juris), auf die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall (s. dazu BSG, Urteil vom 15.05.2012, B 2 U 8/11 R) und die Gewährung von Verletztengeld für die Zeit vom 27.12.2012 bis einschließlich 15.01.2013 unter Rücknahme des bestandskräftig gewordenen Bescheids vom 29.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 gerichtete Klage nicht in vollem Umfang abweisen dürfen. Denn es ist zu beanstanden, dass es die Beklagte mit Bescheid vom 30.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2017 ablehnte, aus Anlass des Überprüfungsantrags des Klägers ihren Bescheid vom 29.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 zu ändern. Denn der Kläger hat darauf und auf die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall sowie die Gewährung von Verletztengeld für die Zeit vom 01.01.2013 bis einschließlich 08.01.2013 Anspruch. Insoweit ist der Bescheid vom 29.01.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, sodass das angefochtene Urteil in diesem Umfang im Rahmen des Berufungsantrags des Klägers abzuändern ist. Soweit der Kläger darüber hinausgehend mit seinem Rechtsmittel die Gewährung von Verletztengeld bereits für die Zeit ab dem 27.12.2012 und über den 08.01.2013 hinaus begehrt hat, hat das SG die Klage insoweit indes im Ergebnis zu Recht abgewiesen, sodass die diesbezügliche Berufung in der Sache keinen Erfolg hat. Soweit der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren noch erfolglos die Zahlung von „Verzugszinsen“ auf das von ihm bezifferte Verletztengeld begehrt und worüber das SG klageabweisend entschieden hat, hat er daran im Rechtsmittelverfahren zuletzt (zu Recht) nicht mehr festgehalten, sodass der Senat darüber nicht (mehr) zu entscheiden hat.

Rechtsgrundlage des klägerischen Begehrens auf Rücknahme des Bescheides vom 29.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 ist § 44 SGB X. Nach Abs. 1 Satz 1 der Regelung ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Im Übrigen - so Abs. 2 Satz 1 - ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Abs. 2 Satz 2), wobei eine solche Entscheidung im Ermessen der Verwaltung steht. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist (Satz 1). Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (Satz 2). Erfolgt die Rücknahme - wie vorliegend - auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (Satz 3).

Im vorliegenden Fall findet insgesamt § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X Anwendung. Zwar wendet sich der Kläger nicht nur gegen die Versagung von Sozialleistungen - hier die Zahlung von Verletztengeld -, sondern auch gegen die Ablehnung der Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall, was keine Sozialleistung darstellt. Allerdings ist zum einen das Vorliegen eines Arbeitsunfalls Voraussetzung für die Gewährung von Verletztengeld. Zum anderen geht es auch bei der Anerkennung eines Arbeitsunfalls letztendlich in der Regel doch (mittelbar) - und vorliegend sogar ausdrücklich - um Leistungsansprüche. Dabei ist im Anwendungsbereich des Abs. 1 eine gebundene Entscheidung über die Korrektur mit Wirkung für die Vergangenheit zu treffen, während der Behörde im Anwendungsbereich des Abs. 2 insoweit, was die Vergangenheit anbelangt, ein Ermessensspielraum zusteht. Dadurch würde der die Anerkennung eines Arbeitsunfalls begehrende potentielle Leistungsempfänger - was die Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides für die Vergangenheit anbelangt - schlechter gestellt, als wenn es unmittelbar um konkrete Leistungsansprüche ginge. Ein Grund für diese unterschiedliche Behandlung von schlussendlich doch sozialleistungsbezogenen Überprüfungsverfahren ist nicht ersichtlich und wäre gerade in der vorliegenden Fallkonstellation völlig sinnwidrig (siehe hierzu Senatsentscheidungen vom 17.12.2015, L 10 U 1502/14, und vom 21.06.2018, L 10 U 2893/16).

Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind auch teilweise erfüllt. Denn im nach der gesetzlichen Regelung allein maßgebenden Zeitpunkt des Erlasses des zur Überprüfung stehenden Bescheides - hier also des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2013 - lagen sowohl die Voraussetzungen für die Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall als auch für die Gewährung von Verletztengeld bis einschließlich 08.01.2013 vor, wobei indes eine rückwirkende Erbringung von Verletztengeld vorliegend für die Zeit vom 27.12. bis einschließlich 31.12.2012 wegen § 44 Abs. 4 SGB X materiell ausgeschlossen ist (wird noch ausgeführt).

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII (zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führt) ist erforderlich (hierzu und zum Nachfolgenden BSG, Urteil vom 12.04.2005, B 2 U 5/04 R), dass das Verhalten des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist. Es muss eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der innere bzw. sachliche Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Entscheidend für die Beurteilung, ob eine bestimmte Handlung in einem solchen rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang mit dem Kernbereich der versicherten Tätigkeit steht, ist die Gesamtheit aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls. Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund. Maßgeblich ist die Handlungstendenz des Versi­cherten.

Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Unfallversicherungsrecht die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung (Arbeitsunfall bzw. Berufskrankheit) und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84). Dies gilt auch für den inneren Zusammenhang und damit die Handlungstendenz (BSG, a.a.O.). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 24/84).

Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger am 27.12.2012 einen Arbeitsunfall erlitt, als er nach dem „Akquisegespräch“ bei Frau W, im Rahmen dessen er ihr Luftbildaufnahmen als Teil seiner bei der Beklagten versicherten Tätigkeit angeboten hatte, gegen 14.00 Uhr auf dem Weg vom Haus zu seinem Pkw auf nassem Grund - noch auf dem Grundstück - ausrutschte. Dies steht für den Senat fest, denn die entsprechenden Angaben des Klägers bestätigte der Sohn der Frau W in seiner Auskunft vom 11.11.2013 (Bl. 34 VA) - wenn auch „vom Hörensagen“ seitens seiner betagten, seinerzeit 84-jährigen Mutter mit Demenzanzeichen - im Kern. Der Umstand, dass der Sohn darüber hinaus den Geschehensablauf dahingehend konkretisierte, dass der Kläger auf dem Treppenabsatz ausrutschte und infolgedessen mit dem Gesäß auf dem oberen Teil der Treppe aufkam, macht die Angaben des Klägers nicht unglaubhaft; auch einen Widerspruch zu den Angaben des Klägers vermag der Senat nicht zu erkennen, nachdem der Kläger lediglich unspezifisch angab, „im Hof“ ausgerutscht zu sein. Inwiefern dem die Auskunft des Sohnes der Frau W entgegenstehen sollte, erschließt sich dem Senat nicht. Im Gegenteil, Herr W schilderte Ort (auf dem Grundstück), Zeit („zwischen 14 und 15 Uhr“) und Anlass des Ereignisses („Luftbilder zu sehr hohen Preisen verkaufen“) sowie das „Ausrutschen“ in Übereinstimmung mit dem Kläger. Irgendwelche Zweifel an diesen Angaben des Herrn W - die die Beklagte im Bescheid vom 29.01.2013 gar der Mutter zuschrieb - äußerte selbst die Beklagte nicht, sondern griff darauf vielmehr ausdrücklich zurück.

Demgemäß legt der Senat seiner Beurteilung auch diesen, die Angaben des Klägers konkretisierenden Geschehensablauf (Ausrutschen mit dem rechten Bein auf nassem Grund und infolgedessen Niedergehen auf das Gesäß) zu Grunde, der zur Überzeugung des Senats - entgegen dem SG - auch zu einem Gesundheitserstschaden führte. Dies stützt der Senat auf den D-Arzt-Bericht des E vom Unfalltag. Danach bestand beim Kläger eine sehr druckschmerzhafte, verhärtete Muskulatur der Oberschenkelinnenseite rechts von der Leiste ausgehend bis zur Oberschenkelmitte (Adduktoren) - wenn auch ohne tastbare Delle -, was E als Adduktorenzerrung (vgl. S76.2 ICD-10: „Verletzung von Muskeln und Sehnen der Adduktorengruppe des Oberschenkels“) rechts diagnostizierte. Auch E1 bestätigte im Übrigen am 29.12.2012 (Bl. 19 VA) - und auch noch bei der Untersuchung am 07.01.2013 (Bl. 41 VA) - diese Diagnose und verordnete eine Kühlung, Schonung und eine Novalgineinnahme. Dem Umstand, dass er die Diagnose später in seinem Befundbericht vom 23.01.2013 (Bl. 50 VA) - nachdem er die Zerrung im Anschluss an die Untersuchung vom 09.01.2013 noch als „stattgehabt“ bezeichnet hatte (s. Befundbericht vom 15.01.2013, Bl. 42 VA) - relativierte („fragliche“) und zwar nachdem ihm die Beklagte „ausführliche Unterlagen“ (s. Bl. 50 VA) hatte zukommen lassen und ihn um „kritische Prüfung“ bei „erheblichen Zweifeln“ (s. Bl. 32 VA) gebeten hatte, misst der Senat keine entscheidende Bedeutung bei, denn dies ändert nichts an dem zeitlich unmittelbar nach dem Ereignis erhobenen Befund (s.o.). Dass der Kläger zum Zeitpunkt der Untersuchung am 16.01.2013 keine relevanten Funktionsbeeinträchtigungen mehr hatte, steht außer Frage. Er nahm seine berufliche Tätigkeit an diesem Tag ja auch wieder auf.

Ob - wie vom SG und der Beklagten verneint - reine (subjektive) Schmerzangaben ausreichen, um einen Gesundheitserstschaden im Vollbeweis zu belegen, bedarf vorliegend keiner Erörterung. Denn ein solcher Fall steht hier gar nicht in Rede. E beschrieb nämlich nicht ausschließlich subjektive (Schmerz-)Angaben des Klägers, sondern dokumentierte einen auffälligen klinischen Befund in Gestalt einer (druckschmerzhaften) verhärteten Muskulatur der Oberschenkelinnenseite rechts von der Leiste ausgehend bis zur Oberschenkelmitte, was er - wie später (zumindest zunächst) auch E1 - als behandlungsbedürftige Adduktorenzerrung einordnete und was er auf Nachfrage der Beklagten am 07.01.2013 ausdrücklich bestätigte (s. Bl. 25 VA).

Eine derartige behandlungsbedürftige und regelwidrige Adduktorenzerrung rechts im Bereich der Oberschenkelinnenseite von der Leiste ausgehend bis zur Oberschenkelmitte mit (schmerzhafter) Muskelverhärtung stellt rechtlich einen Gesundheits(erst)schaden dar.

Soweit das SG lediglich spekuliert hat, eine Muskulaturverhärtung sei (allgemein) „leicht beeinflussbar“, kann offenbleiben, ob dies zutrifft, denn konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der namentlich von E erhobene objektiv-klinische Befund in Zweifel gezogen werden müsste, sind - was schon aus den obigen Ausführungen folgt - nicht ersichtlich.

Schließlich führt auch der Umstand, dass weder sonographisch noch röntgenologisch und auch nicht mittels der durchgeführten MRT-Untersuchung (weitere) krankhafte Befunde dokumentiert wurden, zu keiner anderen Bewertung. Ohnehin erachtete auch E1 die Verletzung am Tag der MRT der Sache nach für ausgeheilt.

Nachdem keiner der vorliegend mit der Angelegenheit befassten Ärzte eine naturwissenschaftliche Eignung des beschriebenen Unfallhergangs, eine derartige Störung hervorzurufen, in Zweifel zog und die Beklagte dem Entgegenstehendes auch nicht konkret anführte, geht der Senat auch davon aus, dass das Ausrutschen des Klägers mit der rechten unteren Extremität zu dem Primärschaden führte.

Das Ereignis vom 27.12.2012 stellt mithin einen Arbeitsunfall dar.

Allerdings liegen die unfallversicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Verletztengeld zur Überzeugung des Senats lediglich vom 27.12.2012 (Tag der erstmaligen ärztlichen Feststellung von Arbeitsunfähigkeit) bis einschließlich 08.01.2013 vor, wobei der Kläger wegen der Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X die Zahlung von Verletztengeld lediglich vom 01.01.2013 beginnend mit Erfolg beanspruchen kann.

Nach § 45 Abs. 1 SGB VII wird Verletztengeld insbesondere erbracht, wenn ein Versicherter infolge eines Versicherungsfalles arbeitsunfähig ist, unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Arbeitseinkommen hatte und kein Beendigungstatbestand im Sinne des § 46 Abs. 3 SGB VII vorliegt. Außerdem besteht nach § 45 Abs. 2 SGB VII unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf sogenanntes Übergangs-Verletztengeld, wenn Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich sind. Nach § 46 Abs. 1 Alt. 1 SGB VII wird Verletztengeld von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. Dabei erfordert auch eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit zum einen das Vorliegen eines Gesundheitsschadens sowie eines hierfür ursächlichen Unfallereignisses und zum anderen einen Kausalzusammenhang zwischen der durch den Unfall verursachten Gesundheitsstörung und einer eingetretenen Arbeitsunfähigkeit. Auch für diesen ursächlichen Zusammenhang gilt die - bereits oben dargestellte - Theorie der wesentlichen Bedingung mit der Prüfung des naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhangs im ersten Schritt und der Prüfung in einem zweiten, wertenden Schritt, ob das versicherte Unfallereignis für die Arbeitsunfähigkeit wesentlich war (s. Senatsurteil vom 23.04.2015, L 10 U 495/14).

Arbeitsunfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles liegt - nach ständiger Rechtsprechung (s. u.a. BSG, Urteil vom 30.10.2007, B 2 U 31/06 R, juris) - anknüpfend an die Rechtsprechung zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung vor, wenn ein Versicherter auf Grund der Folgen eines Versicherungsfalles nicht in der Lage ist, seiner zuletzt ausgeübten oder einer gleich oder ähnlich gearteten Tätigkeit nachzugehen (vgl. zur ständigen Rechtsprechung in der gesetzlichen Krankenversicherung nur BSG, Urteil vom 30.05.1967, 3 RK 15/65; BSG, Urteil vom 09.12.1986, 8 RK 12/85; BSG, Urteil vom 08.02.2000, B 1 KR 11/99). Arbeitsunfähigkeit ist danach gegeben, wenn der Versicherte seine zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles konkret ausgeübte Tätigkeit wegen Krankheit nicht (weiter) verrichten kann. Dass er möglicherweise eine andere Tätigkeit trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung noch ausüben kann, ist unerheblich. Bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind weder die Unfallversicherungsträger noch die Gerichte an ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gebunden. Diesen kommt lediglich die Bedeutung einer ärztlich-gutachtlichen Stellungnahme zu (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 1 KR 37/14 R; BSG, Urteil vom 10.05.2012, B 1 KR 20/11 R).

Der Kläger übte zum Zeitpunkt des Unfalls eine auf Gewinnerzielung ausgerichtete selbstständige Tätigkeit als Handelsvertreter aus - insoweit hatte er auch einen „Anspruch auf Arbeitseinkommen“ i.S.d. § 45 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII (vgl. dazu nur BSG, Urteil vom 30.06.2009, B 2 U 25/08 R) - und verrichtete dabei die oben im Tatbestand (darauf wird hier verwiesen) beschriebenen Verrichtungen. Seine Tätigkeit war demnach v.a. durch das Fahren mit einem Pkw, das sich mehrmals täglich wiederholende Ein- und Aussteigen aus dem Pkw sowie das Umhergehen zum Zurücklegen des restlichen Weges bis zu den potenziellen Kunden sowie das Holen des Musterkoffers mit einer immer wiederkehrenden Belastung der unteren Extremitäten verbunden und erforderte folglich auch den schmerzfreien Einsatz der unteren Extremitäten.

Zur Überzeugung des Senats war ihm ein derartiger Einsatz nach dem Unfallereignis am 27.12.2012 bis einschließlich 08.01.2013 nicht möglich. Dies stützt der Senat auf den D-Arztbericht des E vom 27.12.2012 (Bl. 18 VA) nebst Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 27.12.2012 (Bl. 36 VA), die Gesprächsnotiz über das zwischen der Beklagten und E geführten Telefongesprächs über die Vorstellung des Klägers am 04.01.2013 (Bl. 25 VA) sowie den Nachschaubericht des E1 vom 29.12.2012 (Bl. 19 VA) und dessen Befundbericht über die ambulante Behandlung am 07.01.2013 (Bl. 41 VA). Zwar lassen sich diesen Berichten über den oben bereits dargelegten klinischen Befund mit Schmerzangaben hinaus keine (weiteren) konkreten Funktionsbeeinträchtigungen entnehmen. Dies ändert indes nichts daran, dass die genannten Ärzte in den aufgeführten Berichten durchgehend Schmerzen im Bereich der Adduktoren dokumentierten, die gerade durch die von E klinisch beschriebene (schmerzhafte) Muskelverhärtung auch hinreichend objektiviert waren, sodass auch seitens der Ärzte kein Anlass bestand, am Vorhandensein der geklagten Schmerzen zu zweifeln - Entsprechendes ist auch nicht dokumentiert - und Arbeitsunfähigkeit für die Tätigkeit des Klägers anzunehmen.

Unter Zugrundelegung dessen bestehen auch für den Senat keine Zweifel, dass der Kläger entsprechend der ärztlichen Einschätzung vom 27.12.2012 bis einschließlich 08.01.2013 (nachdem E1 noch am 07.01.2013 - wenn auch nur leichte - Druckschmerzen entlang der Adduktoren rechts befundete und erneut Novalgin sowie Voltaren-Emulgel verordnete) arbeitsunfähig war.

Demgegenüber vermag sich der Senat nicht davon überzeugen, dass beim Kläger über den 08.01.2013 hinaus Arbeitsunfähigkeit vorlag. Dem steht entgegen, dass E1 am 09.01.2013 ausweislich seines Befundberichts vom 15.01.2013 (Bl. 42 VA) klinisch keinen wesentlich pathologischen Befund mehr zu erheben vermochte und auch keine fortbestehenden Schmerzen dokumentierte. Insoweit erschließt sich auch nicht, warum er dann erst anlässlich der weiteren Untersuchung am 16.01.2013 von einer Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit an jenem Tag ausging. Seine Prognose im D-Arzt-Bericht vom 29.12.2012 (dort: „voraussichtlich wieder arbeitsfähig am 08.01.2013“, Bl. 19 VA) hatte sich vielmehr als zutreffend bestätigt, was der von ihm am 09.01.2013 erhobene Befund zeigt. Dass am 16.01.2013 noch das MRT durchgeführt wurde, rechtfertigt in Ermangelung eines die Arbeitsfähigkeit ausschließenden Befundes jedenfalls nicht die Annahme, der Kläger sei über den 08.01.2013 hinaus arbeitsunfähig gewesen. Ebenso rechtfertigt der Umstand, dass E am 04.01.2013 Arbeitsunfähigkeit voraussichtlich bis einschließlich 15.01.2013 bescheinigt hatte, keine andere Bewertung, denn seine (prognostische) Einschätzung wurde durch die zeitlich spätere Untersuchung durch E1 (09.01.2013) und dessen Befund (s.o.) überholt und widerlegt. Wie oben bereits dargestellt, ist der Senat ohnehin nicht an die ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeitszeiten gebunden.

Soweit der Senat somit von Arbeitsunfähigkeit vom 27.12.2012 bis einschließlich 08.01.2013 ausgeht, folgt er der Berufungserwiderung nicht.

Zwar mag es, wie die Beklagte in Ansehung der Vielzahl der vom Kläger seit Beginn seiner freiwilligen Versicherung bei der Beklagten im Jahr 1996 geltend gemachten (Bagatell-)Unfälle und der Höhe des bislang bezogenen Verletztengeldes von mehr als 390.000 €, verbunden mit dem Umstand, dass er sich bei zahlreichen unterschiedlichen Ärzten im Umkreis von bis zu 100 km zu seinem Wohnort vorstellte (wie auch vorliegend bei E; Entfernung C1/N ca. 60 km), auffällig sein. Dies stellt aber die im vorliegenden Fall erhobenen Befunde (s.o.) und die sowohl von E als auch von E1 - in dessen Behandlung sich der Kläger gerade begeben sollte - übereinstimmend jedenfalls bis zum 08.01.2013 schlüssig und nachvollziehbar (s.o.) angenommene Arbeitsunfähigkeit nicht in Frage. Nämliches gilt hinsichtlich der Ausführungen des 2. Senats des LSG Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 18.12.2012 (L 2 4462/12 ER-B). Unabhängig davon, dass es sich bei jenem Verfahren um ein Eilverfahren auf der Grundlage des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG mit den entsprechenden verfahrensrechtlichen Maßgaben hinsichtlich eines konkreten anderen Ereignisses (geltend gemachter Unfall am 13.07.2012) handelte, stehen vorliegend nicht die früheren angeschuldigten Ereignisse zur Prüfung des Senats, sondern allein das Ereignis vom 27.12.2012. An die Auffassung eines anderen Senats in einem anderen Streitfall ist der erkennende Senat ohnehin nicht gebunden, sondern hat die Feststellungen im konkreten Einzelfall eigenständig zu treffen und zu würdigen.

Soweit die Beklagte noch (pauschal) gemeint hat, der Kläger sei bereits am 04.01.2013 wieder in der Lage gewesen, zur Ausstellung eines weiteren Arbeitsunfähigkeitsattests mit dem Pkw eine Strecke von 60 km (einfach) zurückzulegen, steht dies - unabhängig davon, dass der Kläger dem Vorwurf unter Hinweis darauf, dass seine Tochter ihn gefahren habe, entgegengetreten ist - der Annahme von Arbeitsunfähigkeit hier nicht entgegen.

Nach alledem hat der Kläger dem Grunde nach gemäß § 46 Abs. 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB VII für die Zeit vom 27.12.2012 bis einschließlich 08.01.2013 Anspruch auf Verletztengeld.

Indes kann der Kläger die Zahlung von Verletztengeld vorliegend längstens für vier Jahre rückwirkend von dem Beginn des Jahres, in welchem er seinen Überprüfungsantrag vom 26.04.2017 (s. die entsprechende richterliche Niederschrift im Verfahren L 6 U 3101/16) gestellt hat, und somit erst ab 01.01.2013 verlangen. Das ergibt sich aus § 44 Abs. 4 Sätze 1 und 3 SGB X. Bei dieser Regelung handelt es sich um eine von Amts wegen zu beachtende, absolute materielle „Verfallsfrist“ (s. dazu nur BSG, Urteil vom 12.10.2016, B 4 AS 37/15 R, m.w.N.; Urteil vom 23.07.1986, 1 RA 31/85; Urteil vom 11.04.1985, 4b/9a RV 5/84), die verfassungsgemäß ist (vgl. nur BSG, Urteil vom 23.07.1986, 1 RA 31/85). Die vergleichsweise Einigung der Beteiligten im Verfahren L 6 U 3103/16, wonach „Leistungsansprüche auch seit 2013 weiterhin Gegenstand der Überprüfungsbescheide sein können“, hilft vorliegend nicht weiter, weil Ansprüche aus dem Jahr 2012 entsprechend dem Wortlaut der Einigung nicht umfasst sind. Daher kann auch offenbleiben, ob mit einer Vergleichsregelung überhaupt über die gesetzliche „Rückwirkungssperre“ des § 44 Abs. 4 SGB X wirksam hinweggegangen werden kann (ablehnend s. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.10.2018, L 7 R 446/18, juris Rdnr. 30, m.w.N.).

Mithin hat die Beklagte somit dem Kläger nur für die Zeit vom 01.01.2013 bis einschließlich 08.01.2013 Verletztengeld in gesetzlicher Höhe zu erbringen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass der Kläger mit seinem Begehren auf Anerkennung des Ereignisses vom 27.12.2012 als Arbeitsunfall zwar voll, hinsichtlich der Gewährung von Verletztengeld indes nur in einem geringen Umfang Erfolg hat. Auch hat der Senat berücksichtigt, dass der Kläger in erster Instanz von der Beklagten noch erfolglos „Verzugszinsen“ in Höhe von „5 % über dem jeweiligen Basiszins“ aus einem Verletztengeld von 4.666,60 € seit dem 07.02.2013 begehrt hat, woran er im Rahmen seiner Berufung zuletzt - zu Recht - nicht mehr festgehalten hat.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
Saved